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Um ein Haar - Überleben im Dritten Reich

Marietta Moskin

 

Verlag cbt Jugendbücher, 2005

ISBN 9783894808570 , 288 Seiten

Format ePUB

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7,99 EUR

  • Die blaue Hand - Roman
    Bei den drei Eichen - Roman
    A.S. der Unsichtbare - Roman
    Die Abenteuerin - Roman
    Unter Damen - Roman
    Die Behandlung - Psychothriller
    Die Chirurgin - Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller
    Russendisko
  • Nur wenn du mich liebst - Roman

     

     

     

     

     

     

     

     

 

 

Ich schlage die letzte Seite von »Um ein Haar« zu und denke: »Keine dichterische Phantasie - nicht die von Dante, Shakespeare, Goethe oder Cervantes - keine dichterische Phantasie hätte sich je vorstellen können, was es hieß, in Hitlerdeutschland und dem deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges jüdisch gewesen zu sein.«
Wem diese Geschichte der Rosemarie Brenner alias Marietta Moskin nicht zu Herzen geht, der hat keines. Es ist die Odyssee eines Mädchens, das 1928 als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren wird, in den Niederlanden Zuflucht findet, dort im Mai 1940 den Einmarsch der Wehrmacht erlebt und in das Deportationslager Westerbork verbracht wird - Beginn eines langen Leidensweges. Er führt über die Ungeheuerlichkeit des Daseins im KZ Bergen-Belsen und den verfehlten Versuch, als »Austauschjüdin« gegen internierte Deutsche die Schweiz zu erreichen, ins Biberacher Internierungslager Lindele, wo kurz vor Kriegsende französische Truppen ihren Qualen dann ein Ende bereiten.
Rosemarie Brenner, das Alter ego der Autorin, hatte den Holocaust überlebt - »durch die Verquickung von Zufall, Glück und Fügung«, wie die in New York lebende heute Sechsundsiebzigjährige das Unglaubliche kommentiert: die Befreiung.
An diesem Punkt der Lektüre angelangt, stockte mir vollends der Atem: War doch das, was ich da las, auch die eigene Geschichte! Nur daß meine Retter keine Franzosen waren, sondern Truppen der 8. Britischen Armee des Feldmarschalls Bernard Law Montgomery, nachdem Hamburg am 3. Mai 1945 kapituliert hatte. Nach Jahren der Entrechtung, der Denunziationen, Berufsverbote, Gestapoverhöre, Mißhandlungen, Zwangsarbeit und der Flucht in die Illegalität mit ständiger Entdeckungsgefahr, krochen meine Familie und ich aus einem dunklen, feuchten, kalten und von Ratten verseuchten Kellerloch an das augenschmerzende Licht des Tages - wir waren befreit! Das ist jetzt fast 60 Jahre her, aber ich frage mich immer noch: »Hast du das wirklich überlebt?« Es ist nicht nur diese Gleichheit im Schicksal und seinem Ausgang - auch wie das Erlittene von Marietta Moskin publizistisch verarbeitet wird, hat ihre Parallelen mit meiner eigenen Familien- und Verfolgten-Saga »Die Bertinis«: Durch die Entscheidung der Autorin für den autobiographischen Roman, und das mit Gründen, die auch die meinen waren - künstlerische Freiheit der Gestaltung, »ohne daß die Wahrheit verfälscht würde.«
Die Wahrheit ständig drohender Deportation; der vollgestopften Züge in den Osten auf Nimmerwiedersehen; der gnadenlosen SS- und Gestapowillkür; des Kampfes gegen Läuse, Kälte, ewigen Hunger und der schlaflosen Furcht vor dem jederzeit möglichen Gewalttod ...
Marietta Moskins Buch, 1972 unter dem Originaltitel »I am Rosemarie« herausgekommen und 1976 als Beitrag zur jüdischen Jugendliteratur mit dem »Shirley Kravitz Children's Book Award« ausgezeichnet, ist in den USA als Schullektüre eingeführt worden. Und dazu das Werk einer Frau, die sich, wie sie in den »Anmerkungen der Autorin« zur deutschen Ausgabe schrieb, ihre Fähigkeit zum Anstand und die positive Einstellung zur menschlichen Natur bewahren wollte -»trotz der Grausamkeiten, die wir durch unsere Peiniger erfuhren«.
»Um ein Haar« - ein Buch das mich erschüttert hat, tief erschüttert.

Wie auch das, was es hier in Deutschland auslöste. Ich spreche von jenen 40 Zehntkläßlern der Dollinger-Realschule und des Pestalozzi-Gymnasiums Biberach und von ihren Lehrern Reinhold Adler und Wolfgang Horstmann, die der Sache auf die Spur kamen, sich dann zusammenschlossen und das Buch aus dem Englischen ins Deutsche übersetzten - eine Arbeitsgemeinschaft, ohne die es keine hiesige Leserschaft geben würde.
Als der Verleger mich mit dem Projekt bekannt machte, mir Näheres über seinen Inhalt mitteilte, über die Begeisterung, die Kontinuität und die Ernsthaftigkeit, mit denen Schülerinnen, Schüler und ihre beiden Pädagogen ans Werk gegangen sind, und mich dabei um ein Geleitwort bat, da antwortete ich, unfähig, meine innere Bewegung zu verbergen, sofort: »Sie können in mir einen begeisterten Bundesgenossen voraussetzen.« Und als ich erfuhr, daß ich aus den Reihen der Schülerinnen und Schüler als gewünschter Verfasser eines solchen Prologs genannt worden war, weiter: »Es ist mir eine Ehre, daß mein Name in diesem Zusammenhang aus dem Munde junger Deutscher von heute fiel, und ein Ansporn in währender Zeit, weiterzumachen.« Je tiefer ich mich in die Arbeit der jungen Menschen aus Biberach versenkte, desto wärmer wurde mir ums Herz; desto dringender verspürte ich das Bedürfnis, mich über ihre Persönlichkeiten, ihre Gegenwart und ihre Hoffnungen zu informieren; desto bestätigter sah ich meine seinerzeit schwere Entscheidung, trotz allem, was mir und den Meinen vor 1945, aber auch durch die Verdrängung der NS-Vergangenheit danach widerfahren ist, in Deutschland geblieben zu sein. Wenn der Platz es erlauben würde, hätte ich schon hier vorn gern die Namen einer jeden Schülerin, eines jeden Schülers aufgeführt, um so meinen Gefühlen der Dankbarkeit, der Freude und der Ermutigung jenen Ausdruck zu verleihen, in den die beiden schon genannten Lehrer selbstverständlich einbezogen sind - ebenso wie Rotraud Rebmann und Werner Toporski, die den deutschen Text redigierten. Wird mit der Biberacher Erfahrung doch erfreulicherweise bestätigt, daß dort, wo aus Pädagogenkreisen ein Keim zu ehrlicher Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gelegt wird, auch das jugendliche Reservoir existiert, das bereit ist, ihn zu pflegen und hegen. So danke ich denn allen Beteiligten, die »Um ein Haar« entdeckt und das Buch vom Englischen ins Deutsche übersetzt haben, mit der Solidarität eines Überlebenden des Holocaust, verbunden mit dem gleichzeitigen Wunsch an meine Schicksalsgenossin in New York: Masel tov, masel tov, Marietta Moskin -und ein langes, langes Leben noch!
Ralph Giordano Köln, im Januar 2005

Amsterdam
Mai 1940 - August 1942

Ich hätte ausschlafen sollen an diesem sonnigen Maimorgen, denn die Ferien hatten begonnen, und ich brauchte nicht aufzustehen, um zur Schule zu gehen. Doch ich erwachte Viertel nach fünf, Stunden früher als sonst. Halb verärgert, halb froh im Bewusstsein, noch Zeit zu haben, machte ich die Augen wieder zu und vergrub mich in mein Kissen, um weiterzuschlafen. Aber ich schlief nicht weiter. Durch das halb geöffnete Fenster drangen die Geräusche des Hinterhofes und des erwachenden Viertels an mein Ohr: das Scheppern eines Mülltonnendeckels, den jemand zuwarf, das leise Jammern eines Babys und irgendwo zwischen den Hinterhofzäunen der durchdringende Schrei eines streunenden Katers. Und dann, sozusagen im Hintergrund der anderen, vertrauten Geräusche, war da noch ein leises, aber anhaltendes Dröhnen, das ab und zu von längerem, dumpfem Grollen unterbrochen wurde.