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Seneca für Zeitgenossen - Ein Lesebuch zur philosophischen Lebensweisheit

Josef M. Werle

 

Verlag Goldmann, 2010

ISBN 9783641035457 , 384 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Erster Brief (S. 103-104)

Über den Wert der Zeit

Folge meinem Rat, mein Lucilius1, widme dich dir selbst, halte deine Zeit zusammen und hüte sie; du hast sie dir bisher entweder geradezu wegnehmen oder heimlich entwenden oder auch nur entschlüpfen lassen. Glaube mir, es ist so, wie ich schreibe: ein Teil unserer Zeit wird uns offen geraubt, ein Teil uns heimlich entzogen, und ein dritter verflüchtigt sich.

Am schimpflichsten aber ist derjenige Verlust, der auf Rechnung der Nachlässigkeit kommt. Gib nur genau acht: der größte Teil des Lebens fließt uns dahin in verwerflicher Tätigkeit, ein großer im Nichtstun, und das ganze Leben in Beschäftigung mit Dingen, die mit dem wahren Leben nichts zu schaffen haben. Zeige mir den, der wirklichen Wert auf die Zeit legt, der den Tag zu schätzen weiß, der ein Einsehn dafür hat, daß er täglich stirbt! Das eben ist die große Selbsttäuschung, der wir uns hingeben, daß wir den Tod in die Zukunft verlegen.

Zum großen Teil liegt er schon hinter uns, alles vergangene Leben liegt im Banne des Todes. Bleibe also dem in deinem Briefe kundgegebenen Vorsatz treu: laß keine Stunde ungenützt vorübergehen. Nimm den heutigen Tag voll in Beschlag; dann wirst du weniger von dem folgenden abhängen. Mit dem Aufschieben lassen wir das Leben nur enteilen.

Nichts, mein Lucilius, ist unser wahres Eigentum außer der Zeit. Dieses flüchtige und schwer faßbare Gut ist das einzige, dessen Besitz uns die Natur vergönnt hat; und doch verdrängt uns der erste beste daraus. Ja, so groß ist die Torheit der Menschen, daß, während sonst auch das Kleinste und Unbedeutendste, wenn es nur überhaupt ersetzbar ist, von dem Empfänger als Schuldposten anerkannt wird, niemand sich als Schuldner fühlt dem gegenüber, der ihm seine Zeit gewidmet hat, während doch gerade dies das Einzige ist, was auch der Dankbare nicht wiedererstatten kann.

Du fragst vielleicht, wie ich es denn selbst mit mir halte, der ich dir diese Lehre gebe? Ich will ganz rückhaltlos zu dir reden. Ich halte es damit wie ein in vollem Wohlstand lebender, dabei aber gewissenhaft haushälterischer Mann; ich führe streng Buch. Ich kann nicht sagen, daß ich nicht mancherlei Verluste hätte, doch vermag ich genau Auskunft zu geben über den Betrag und über die Gründe des Verlustes: ich kann Rechenschaft ablegen über die Ursachen meiner Armut.

Doch teile ich das Schicksal so vieler, die ohne ihr Verschulden in Not geraten sind: jedermann verzeiht ihnen, aber niemand hilft ihnen. Wie steht es also? Ich halte den nicht für arm, dem auch der geringe Rest des Seinigen noch genügt. Du aber mußt, wenn es nach mir geht, das Deinige zusammenhalten und damit bei guter Zeit anfangen. Denn, wie unsere Altvorderen meinten: wer erst spart, wenn es schon zur Neige geht, der hat die Zeit verpaßt. Denn was sich unten im Grunde noch findet, ist nicht nur das Wenigste, sondern auch das Schlechteste.