dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Perry Rhodan 2661: Anaree - Perry Rhodan-Zyklus 'Neuroversum'

Uwe Anton

 

Verlag Perry Rhodan digital, 2012

ISBN 9783845326603 , 64 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

Geräte

1,99 EUR


 

1.


Der Baum

 

Fünf, dachte Anaree. Tara hat gesagt, ich bin fünf Jahre alt, aber was ist ein Jahr? Ich bin Tagvolk, und das Tagvolk kennt keine Jahre. Wie kann ich dann fünf Jahre alt sein? Und woher weiß Tara überhaupt, was ein Jahr ist?

Anaree grub den Stock tiefer in den Sand und weitete die Furche aus. Zuerst floss das Wasser des Flusses nur langsam in den schmalen Kanal, den sie gebaut hatte, dann sprudelte es schneller, riss immer mehr kleine Körner mit sich, bahnte sich einen Weg.

Wie sollte ich geboren worden sein? Jedenfalls erzählt mir keiner davon, und erinnern kann ich mich daran auch nicht.

Aber woran konnte sie sich schon erinnern? An den letzten Tag und an den vorletzten und an den davor. Und an Tara und Wila und Siroe und all die anderen. Tara war ihr bester Jäger. Er brachte regelmäßig Fleisch. Aber an mehr?

Mehr gab es nicht. Nur das Tagvolk und den Fluss und den Sand und die Ebene.

Und die Tiere, die Tara jagte, und das Getreide und die Früchte, die ringsum wuchsen, und den Himmel und die Morgenschwester. Auch wenn sie die noch nie gesehen hatte. Aber die anderen erzählten viel von ihr.

Wenn sie also länger darüber nachdachte, gab es ziemlich viel, woran sie sich erinnerte und was sie wusste.

»Aber was sind Jahre?«, flüsterte sie und schaute zu dem verbotenen Baum am Flussufer hinüber. Mal hingen seltsame Anzüge an seinen Ästen, die ganz schwarz und düster waren oder rot oder gelb oder blau und leuchtend. Dann wieder kleine, bunte Steine, die hell im Licht der Sonne funkelten.

Diesmal baumelte am untersten Zweig des Baums ein blauweißer Kristall, groß wie eine Nuss oder eine kleine Frucht.

Nein, dachte sie. Ich werde verbrennen, wenn ich ihn anfasse. Alle sagen, dass ich verbrennen werde. Also werde ich ihn nicht anfassen.

Die Morgenschwester hatte ihnen verboten, die Anzüge oder Steine zu berühren, und das Tagvolk hielt sich daran.

Meistens. Anaree hatte niemals erlebt, dass jemand gegen das Tabu verstieß, aber manchmal, in den leeren Stunden, flüsterten die Alten des Tagvolks, dass früher einmal, viel früher, jemand zum Baum gegangen war und ...

Anaree fröstelte, obwohl die Sonne hoch am Himmel stand. Sie wagte es nicht, sich an das Wispern zu erinnern, und beobachtete wieder das sprudelnde Wasser.

Nur ein paar Herzschläge lang. Warum hing der Kristall dort, wenn sie ihn nicht anfassen durfte? Warum leuchtete er so hell? Warum strahlte er geradezu, flüsterte ihr zu: Komm! Nimm mich! Berühre mich! Ich bin dein!

Und warum hörte kein anderer aus dem Tagvolk den lockenden Gesang, sondern nur sie? Wieso war sie anders als die anderen?

Sie zeichnete mit ihrem Stock Bilder in den feuchten Sand des Flussufers, gab dann jedoch wütend auf. Ganz egal, wie weit entfernt vom sprudelnden Wasser sie malte, die Strömung schien jedes Mal die Richtung zu verändern und zuerst nur wenige, dann immer mehr Tropfen genau dorthin zu leiten, wo sie mit dem Stock grub.

Nein, dachte sie und schaute wieder zu dem Baum. Ich werde nicht ...

Sie schnappte nach Luft und dachte gar nichts mehr, als ein Schatten auf das neu geritzte Bild und den Stock fiel. Langsam drehte sie den Kopf und sah hoch. Sie fühlte sich ertappt.

Die Morgenschwester will mich warnen! Ich sehe zu dem Baum, zu dem blauweißen Kristall, und jemand kommt und weiß ... und weiß, dass ich das Juwel anfassen will.

Sie schluckte heftig, bekam den Speichel aber nicht hinunter. Natürlich war er es. Wer auch sonst?

Tara Marate, der beste Jäger der Gemeinschaft. Als sie zum ersten Mal zu dem Kristall geschaut hatte, hatte sie schon gewusst, dass er kommen würde.

Tausende fein verknüpfte Zöpfe hingen reglos über Taras weiß schimmerndem Gesicht und dem nackten Oberkörper. Um die Hüfte hatte er ein dünnes Fell gebunden.

Er musterte sie streng, hob dann den Kopf und sah zum Baum, und zwischen den dünnen, glänzenden Zöpfen machte Anaree absolut schwarze Augen aus.

Sie erkannte Weisheit in ihnen. Tara war der Stammesälteste des Tagvolks, und plötzlich fürchtete sie sich vor ihm. Sie konnte den Blick nicht von den drei geschwungenen Linien lösen, die sich beidseitig über seine nur angedeutete Brustmuskulatur erstreckten. Ihre Anordnung erinnerte Anaree an die Darstellung eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln.

Anaree hatte Tara oft bewundernd angesehen und wusste, dass die Linien nicht etwa mit Farbe aufgetragen waren, sondern in die Haut eingeritzt. Das war keine Körperbemalung, das waren Ziernarben. Sie fragte sich, ob sie irgendwann auch einmal solche Narben bekommen würde.

Sie schloss die Augen. Auf Taras vernarbter Brust jagten sich kurz Licht und Schatten und vereinigten sich dann.

Der alte Jäger stand da wie erstarrt. Alle Geräusche erstarben. Die plötzlich eingetretene Stille kam Anaree unheimlich vor.

Als wäre sie abrupt aus einem tiefen Schlaf erwacht, aus einem lebhaften Traum.

»Ich kann es nicht ändern«, sagte Tara. »Es gab schon viele wie dich. Sie alle haben zum Baum gesehen. Sie hatten denselben Blick wie du. Und sind dann irgendwann verschwunden.«

Anaree wusste nicht, was er meinte, doch seine Worte bereiteten ihr Unbehagen. Mehr noch, sie machten ihr Angst.

Sie schwieg betroffen.

»Gealtert und dann verschwunden. Einfach so.«

»Wohin?«

Der alte Jäger zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht ändern«, wiederholte er. »Du wirst es tun.«

»Was?«

»Das weißt du doch, oder, Anaree?«

Sie schwieg wieder.

»Aber du siehst aus wie die Morgenschwester. Und das macht alles nur umso schlimmer.«

»Ich sehe aus wie die Morgenschwester?«

Tara nickte, betrübt, wie es Anaree vorkam. »Die Morgenschwester tut nichts ohne Grund. Und wenn eine aus dem Tagvolk aussieht wie sie ...«

Anaree war erst fünf, doch sie wusste, dass Tara mehr sagen wollte, als er soeben gesagt hatte. Warum sagte er es nicht?

Die Morgenschwester ... Anaree hatte sie noch nie gesehen, nur von ihr gehört. Sie war die Göttin, die für das Tagvolk sorgte, ihm Wasser und Nahrung gab.

Und Anaree sollte aussehen wie die Morgenschwester? Wieso? Sie verstand nicht, was Tara Marate ihr sagen wollte.

»Ich kann es nicht ändern«, wiederholte der Jäger. »Ich weiß, es wird geschehen. Und ich weiß, wir werden das Kaninchen jagen. Es war so, es ist so, und es wird so sein. Aber ich bitte dich dennoch – geh nicht zu dem Tabu.«

»Zu dem Tabu?«

»Zu dem Baum mit dem Kristall ... dem Sternsaphir!«

Sternsaphir? Was war ein Sternsaphir?

Aber sie stellte die Frage nicht.

Sie atmete erleichtert aus und war froh, als er sich umdrehte und wieder ging.

Warum ist er überhaupt hierhergekommen?, fragte sie sich. Und wenn er mir etwas sagen will ... warum sagt er es mir dann nicht? Warum redet er darum herum? Was sollen diese Andeutungen?

Aber wusste sie nicht genau, was er meinte? Und war seine Ermahnung nicht berechtigt?

Die eindringlichen Worte schienen genau das Gegenteil von dem zu bewirken, was sie beabsichtigt hatten. In Anaree wurde die Sehnsucht immer stärker, das funkelnde, verführerisch gleißende Sternjuwel zu betasten, zu erfühlen, eingehend zu untersuchen.

Es war eine schier unstillbare Sehnsucht, die sie im Gegensatz zu allen anderen des Tagvolks verspürte.

Warum ich?, dachte Anaree. Die anderen des Tagvolks mieden den verbotenen Kristall, doch sie konnte dem Reiz des Verbotenen kaum widerstehen. Warum? Was macht mich anders als alle anderen?

In diesem Augenblick war ihr klar, was sie tun würde. Sie wollte Antworten haben, und sie würde sie erhalten.

Sie wartete, bis Tara Marate außer Sichtweite war, hinter den Bäumen auf dem Weg zu den zehn Hütten, die das Dorf bildeten. Dann schlenderte sie zu dem Baum, verharrte hin und wieder und zeichnete mit dem Stock in den Sand.

Natürlich würde sie niemanden damit täuschen und ganz bestimmt nicht Tara, falls er umkehren und noch einmal nach ihr sehen sollte. Doch sie kritzelte wieder Bilder, tat ganz unbeteiligt.

Anaree war selbst ein wenig erschrocken, als sie unvermittelt direkt vor dem Baum stand. Sie wagte es kaum, den Blick vom Stock zu lösen und den Kopf in den Nacken zu legen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich den Mut fasste, an dem borkigen Ungetüm hochzusehen. Wie ein Riese türmte sich der Baum vor ihr auf. Die Laubkrone schien einen Schatten zu werfen, der den Fluss bis zur Mitte verdunkelte. Und kräuselte sich nicht die Rinde, als wolle sie sich aus eigenem Antrieb verändern, ein ... Gesicht bilden?

Sie schaute zu dem Kristall empor. Er baumelte zwischen den Blättern wie von einer unsichtbaren Geisterhand gehalten, schwang langsam hin und her, obwohl kein Windhauch ging.

»Berühre mich!«, schien er zu flüstern. »Berühre mich!«

Anaree zögerte. Sie war schon oft beim verbotenen Baum gewesen, hatte den Kristall pendeln sehen, obwohl es völlig windstill gewesen war, oder auch den seltsamen Anzug. Nie aber hatte das Juwel zu ihr gesprochen. Warum ausgerechnet jetzt?

Du wirst verbrennen, wenn du ihn berührst ... Sie hörte die andere Stimme ganz deutlich in ihrem Kopf, Taras Stimme oder die eines anderen aus dem Tagvolk. Sie fürchtete die angedrohte Strafe, doch gleichzeitig konnte sie sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich so kommen würde. Verbrennen? Wer verbrannte, nur weil er einen dummen Stein berührte? Nie war jemand vom Tagvolk...