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Frankie

Carson McCullers

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602128 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[7] Erster Teil

Es geschah in jenem grünen und verrückten Sommer, als Frankie zwölf Jahre alt war. Es war der Sommer, als sie ganz allein war. Sie gehörte zu keinem Klub noch zu sonst was auf der Welt. Frankie gehörte zu niemandem, trieb sich in der Stadt herum und fürchtete sich. Im Juni waren die Bäume so strahlend grün, dass es einem schwindelte. Später wurden die Blätter dunkel, und die Stadt lag schwarz und wie geschrumpft in der grellen Sonne. Anfangs ging Frankie ziellos umher und tat, was ihr gerade einfiel. Frühmorgens und nachts waren die Trottoirs in der Stadt ganz grau, aber in der Mittagssonne glitzerte der erhitzte Zement wie Glas. Schließlich wurde das Trottoir zu heiß für Frankies Füße, und außerdem brachte sie sich selbst in Schwierigkeiten. Also beschloss sie, dass es besser war, zu Hause zu bleiben – und zu Hause gab es niemanden außer Berenice Sadie Brown und John Henry West. Die drei saßen um den Küchentisch und sagten wieder und wieder dasselbe, und [8] als der August kam, begannen die Wörter sich zu reimen und seltsam zu klingen. Jeden Nachmittag schien die Welt zu sterben, nichts bewegte sich mehr. Zuletzt glich der Sommer einem kranken grünen Traum, einem verrückten Dschungel unter einer großen Glasglocke, die jedes Geräusch erstickte. Und dann, am letzten Freitag im August, wurde alles anders – und zwar so plötzlich, dass Frankie den ganzen langen Nachmittag daran herumrätselte und am Ende doch nichts begriff.

»Es ist so seltsam«, sagte sie, »wie das alles passiert ist.«

»Passiert? Was ist passiert?«, sagte Berenice.

John Henry hörte zu und beobachtete die beiden stumm.

»Noch nie hab ich mich so gewundert.«

»Gewundert? Worüber denn?«

»Über alles«, sagte Frankie.

»Ich glaube, die Sonne hat dein Gehirn verbrannt«, sagte Berenice.

»Ich auch«, flüsterte John Henry.

Selbst Frankie glaubte es fast. Es war vier Uhr nachmittags, und die Küche war grau und still. Frankie saß am Tisch mit halb geschlossenen Augen, und malte sich eine Hochzeit aus. Sie sah eine schweigende Kirche und seltsame Schneeflocken, die schräg gegen die bunten Fenster fielen. [9] Der Bräutigam war ihr Bruder. Wo sein Gesicht hätte sein sollen, war helles Licht. Die Braut trug eine lange weiße Schleppe, und auch sie hatte kein Gesicht. Es war da etwas an dieser Hochzeit, was Frankie zwar fühlte, aber nicht beschreiben konnte.

»Sieh mich mal an«, sagte Berenice. »Eifersüchtig?«

»Eifersüchtig? Wieso?«

»Weil dein Bruder jetzt heiraten will?«

»Nein«, sagte Frankie. »Ich hab nur noch nie zwei Leute wie die beiden gesehen. Und wie sie heute ins Haus kamen, das war so merkwürdig.«

»Du bist doch eifersüchtig«, sagte Berenice. »Schau mal in den Spiegel. Ich seh’s an der Farbe deiner Augen.«

Über dem Spülbecken hing ein angelaufener Küchenspiegel. Frankie schaute hinein, aber ihre Augen waren grau wie immer. Sie war diesen Sommer so hoch aufgeschossen, dass sie fast aussah wie eine Witzfigur – mit den schmalen Schultern und den viel zu langen Beinen. Sie trug kurze blaue Hosen, ein Unterhemd und war barfuß. Die Haare trug sie wie ein Junge, aber sie waren schon lange nicht mehr geschnitten worden und nicht einmal gescheitelt. Ihr Spiegelbild war ganz verzerrt, aber Frankie wusste genau, wie sie aussah. Sie zog die linke Schulter hoch und sah weg.

[10] »Ach«, seufzte sie. »Noch nie habe ich zwei so hübsche Menschen gesehen. Ich kann gar nicht begreifen, wie das alles gekommen ist.«

»Was denn, du Dummchen?«, sagte Berenice. »Dein Bruder ist zu Besuch gekommen mit dem Mädchen, das er heiraten will; und die beiden haben heut mit dir und deinem Daddy zu Mittag gegessen. Und nächsten Sonntag wollen sie in ihrem Haus in Winter Hill heiraten, und du wirst mit deinem Daddy zur Hochzeit fahren. Das ist alles, die ganze Geschichte von A bis Z. Also sag schon, was ist los mit dir?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Frankie. »Ich wette, die beiden haben viel Spaß miteinander.«

»Dann lass uns doch auch Spaß haben«, sagte John Henry.

»Wir?«, fragte Frankie. »Wieso wir?«

Dann saßen alle drei wieder am Tisch, und Berenice gab die Karten für ein ›Bridge zu dritt‹. So weit Frankie zurückdenken konnte, war Berenice ihre Köchin gewesen. Sie war sehr schwarz, breitschultrig und klein. Sie sagte immer, sie wäre fünfunddreißig, aber das sagte sie schon seit über drei Jahren. Ihr gescheiteltes und geflochtenes Haar klebte ölig am Kopf, und sie hatte ein breites, ruhiges Gesicht. Nur eines stimmte nicht bei Berenice: Ihr linkes Auge war aus leuchtend blauem Glas. Es [11] blickte starr und wild aus ihrem ruhigen, dunklen Gesicht, und kein Mensch hatte je begriffen, warum sie sich gerade ein blaues Auge gewünscht hatte. Das rechte Auge war braun und traurig. Berenice beeilte sich nicht beim Geben, und immer, wenn die schwitzigen Karten aneinanderklebten, leckte sie ihren Daumen. John Henry betrachtete jede einzelne Karte aufmerksam. Seine nackte Brust war weiß und feucht, und um den Hals trug er einen winzigen Esel aus Blei an einer Schnur. Er war Frankies Cousin. Den ganzen Sommer lang aß er mit ihr zu Mittag und blieb den Tag über da, oder er aß mit ihr zu Abend und blieb über Nacht. Sie brachte ihn einfach nicht dazu, nach Hause zu gehen. Für seine sechs Jahre war er sehr klein, aber er hatte die dicksten Knie, die Frankie je gesehen hatte; und eines hatte immer eine Schramme oder einen Verband, weil er ständig hinfiel. John Henry hatte ein ernstes weißes Gesichtchen und trug eine winzige goldgeränderte Brille. Er studierte die Karten so genau, weil er Spielschulden hatte; er schuldete Berenice über fünf Millionen Dollar.

»Ich sage Herz«, sagte Berenice.

»Pik«, sagte Frankie.

»Ich wollte auch gerade Pik sagen«, meinte John Henry.

»Pech gehabt. Ich hab’s zuerst gesagt.«

[12] »Blöde Kuh!«, rief er. »Das gilt nicht!«

»Psst, keinen Streit!«, sagte Berenice. »Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, ihr könnt beide nicht an gegen mich mit euren Karten. Ich sage zwei Herz.«

»Mach doch«, sagte Frankie. »Mir ist das alles ganz egal.«

Und genauso war es; denn an diesem Nachmittag spielte sie genauso schlecht wie John Henry und warf wahllos irgendwelche Karten hin. So saßen sie beisammen in der Küche, und die Küche war traurig und hässlich. John Henry hatte die Wände mit kindischen Krakeleien bedeckt, so hoch er mit seinem Arm reichen konnte. Deshalb sah es in der Küche aus wie in einem Irrenhaus. Und nun machte die alte Küche Frankie ganz krank. Sie fand keine Worte für das, was ihr geschehen war; sie fühlte nur, wie ihr eingezwängtes Herz gegen die Tischkante schlug. »Die Welt ist sicher sehr klein«, sagte sie.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine – schnell«, sagte Frankie. »Die Welt ist sicher sehr schnell.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Berenice. »Manchmal schnell und manchmal langsam.«

Frankies Augen waren halb geschlossen, und sie hörte ihre eigene Stimme wie von fern.

[13] »Ich finde sie schnell.«

Bis gestern hatte Frankie sich noch keine Gedanken über die Hochzeit gemacht. Sie wusste nur, dass Jarvis, ihr einziger Bruder, heiraten würde. Er hatte sich vor seiner Reise nach Alaska mit einem Mädchen in Winter Hill verlobt. Jarvis diente als Unteroffizier in der Armee und war fast zwei Jahre in Alaska geblieben. Frankie hatte ihren Bruder lange nicht gesehen. In ihrer Erinnerung verschwammen und verzerrten sich seine Züge wie unter Wasser. Aber Alaska! Dauernd träumte Frankie davon und sah es klar und deutlich vor sich, vor allem in diesem Sommer. Sie sah den Schnee, die Eisbänke und Gletscher, Eskimoiglus, Eisbären und das herrliche Nordlicht. Als Jarvis nach Alaska ging, hatte sie ihm eine Schachtel mit selbstgemachtem Nougat geschickt und vorher jeden einzelnen Bonbon sorgfältig in Wachspapier eingewickelt. Sie fand den Gedanken aufregend, dass man ihr Nougat in Alaska essen würde; und sie stellte sich vor, wie ihr Bruder es unter den pelzbekleideten Eskimos herumreichte. Drei Monate später kam ein Dankesbrief von Jarvis mit einer Fünfdollarnote. Eine Zeitlang schickte sie ihm fast jede Woche Bonbons, manchmal Drops statt Nougat; aber Jarvis schickte ihr nie wieder einen Dollarschein, außer zu Weihnachten. Manchmal [14] beunruhigten seine kurzen Briefe an ihren Vater sie ein wenig. Zum Beispiel hatte er diesen Sommer einmal erwähnt, er sei schwimmen gegangen und die Mücken hätten ihn fürchterlich gestochen. Der Brief hatte ihr Traumbild erschüttert; aber nach ein paar Tagen der Verwirrung hatte sie zu ihren Schneefeldern und Eisbänken zurückgefunden.

Als Jarvis aus Alaska zurückkam, ging er gleich nach Winter Hill. Seine Braut hieß Janice Williams, und die Hochzeit war folgendermaßen geplant: Ihr Bruder hatte telegraphiert, dass er mit seiner Braut am Freitag ankommen und einen Tag bleiben würde; die Hochzeit sollte am Sonntag drauf in Winter Hill gefeiert werden. Frankie und ihr Vater sollten auch kommen. Es waren fast 150 Kilometer bis Winter Hill, und Frankie hatte schon ihren Koffer für die Reise gepackt. Sie freute sich auf ihren Bruder und auf die Braut, konnte sich aber nicht recht vorstellen, wie sie aussahen, und dachte auch nie an die Hochzeit. So sagte sie dann am Tag vor dem Besuch zu Berenice:

»Ist das kein komischer Zufall, dass Jarvis nach Alaska fahren musste und dass seine Braut aus einem Ort stammt, der Winter Hill heißt? Winter Hill«, wiederholte...