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Schutzengel

Paulo Coelho

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602623 , 208 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[20] Ein Polizist nahm am Nebentisch sein Frühstück ein. Plötzlich sprach er sie an:

»Gehen Sie nicht wieder nachts in die Wüste«, sagte er.

›Der Ort ist tatsächlich sehr klein‹, dachte Chris. ›Hier erfährt jeder immer sofort alles.‹

»Nachts ist es am gefährlichsten«, fuhr der Polizist fort. »Da kommen die Koyoten und die Schlangen hervor. Sie ertragen die Hitze am Tag nicht und beginnen erst nach Sonnenuntergang zu jagen.«

»Wir haben dort unsere Engel gesucht«, meinte Paulo.

Der Polizist verstand ihn nicht. Der Satz, den der Mann gesagt hatte, ergab für ihn keinen Sinn: »Engel!« Bestimmt meinte der Fremde etwas ganz anderes.

Paulo und Chris beendeten schnell ihr Frühstück. Der »Kontakt« hatte ihr Treffen sehr früh angesetzt.

Chris war überrascht, als sie Took zum ersten Mal sah – er war ganz jung, kaum älter als zwanzig, und wohnte einige Kilometer außerhalb von Borrega Springs am Rande der Wüste in einem Wohnwagen.

»Und das soll ein Meister der ›Konspiration‹ sein?«, flüsterte sie Paulo zu, als der junge Mann in den Wohnwagen gestiegen war, um Eistee zu holen.

[21] Took kam zurück, bevor Paulo eine Antwort geben konnte. Sie setzten sich unter eine Segeltuchplane, die am Fahrzeug entlanggespannt war und als eine Art Verandadach diente.

Die beiden Männer sprachen über die Rituale der Tempelritter, über Reinkarnation, Sufi-Magie und über die katholische Kirche in Lateinamerika. Der junge Mann schien sehr gebildet zu sein, und es machte Spaß, ihnen zuzuhören – sie wirkten wie Fans, die über ihre Lieblingssportart sprachen, bestimmte Taktiken verteidigten und andere kritisierten.

Sie redeten über alles. Nur nicht über Engel.

Die Sonne brannte immer heißer, sie tranken mehr Tee, während Took, der immer freundlich lächelte, Wunderbares über das Leben in der Wüste erzählte – obwohl er warnte, dass Anfänger nie nachts hinausgehen sollten (der Polizist hatte also recht gehabt). Sie sollten auch die heißesten Stunden des Tages meiden.

»Eine Wüste besteht aus Morgen und Nachmittagen«, erzählte er. »Die restliche Zeit ist gefährlich.«

Chris verfolgte das Gespräch über lange Zeit. Sie war sehr früh aufgewacht, die Sonne schien immer gleißender, und da beschloss sie, die Augen zu schließen und etwas zu schlafen.

Als Chris aufwachte, kamen die Stimmen nicht mehr aus derselben Richtung. Die beiden Männer hatten sich auf die Rückseite des Wohnwagens zurückgezogen.

»Warum hast du deine Frau mitgebracht?«, hörte sie Took leise fragen.

[22] »Weil ich in die Wüste gekommen bin«, antwortete Paulo ebenfalls leise.

Took lachte.

»Dir entgeht das Beste an der Wüste. Die Einsamkeit.«

(›Was für ein anmaßender Kerl‹, dachte Chris.)

»Erzähl mir doch mehr von den Walküren«, sagte Paulo.

»Sie werden dir helfen, deinen Engel zu finden«, gab der Amerikaner zurück. »Sie haben es mich gelehrt. Aber die Walküren sind eifersüchtig und hart. Sie versuchen, dem Gesetz der Engel zu folgen – und, wie du weißt, gibt es im Reich der Engel weder das Gute noch das Böse.«

»Jedenfalls nicht so, wie wir es verstehen.«

Das war Paulos Stimme. Chris wusste nicht, was »Walküren« bedeutete. Sie erinnerte sich vage, den Namen irgendwann als Titel einer Oper gehört zu haben.

»War es schwer für dich, deinen Engel zu sehen?«

»Das richtige Wort dafür ist ›angsteinflößend‹. Es ist ganz plötzlich passiert, als die Walküren hier durchgekommen sind. Eigentlich habe ich das Verfahren nur gelernt, um mich zu zerstreuen, denn damals verstand ich die Sprache der Wüste noch nicht und fand alles sehr nervig. Mein Engel ist mir auf dem Berg dort drüben erschienen. Ich saß da, hörte Musik auf meinem Walkman. Damals beherrschte ich das ›zweite Bewusstsein‹ ganz und gar. Jetzt bin ich etwas zerstreuter.«

(Was zum Teufel war bloß das »zweite Bewusstsein«?)

»Hat dich das dein Vater gelehrt?«

»Nein. Und als ich ihn fragte, warum er mir nichts von Engeln erzählt habe, antwortete er mir, bestimmte Dinge seien so wichtig, dass wir sie allein entdecken müssten.«

[23] Sie schwiegen eine Weile.

»Wenn du sie triffst, gibt es etwas, das den Kontakt erleichtert«, sagte der Junge.

»Was?«

Took lachte.

»Du wirst es sehen. Aber es wäre sehr viel besser gewesen, du wärst ohne deine Frau gekommen.«

»Hatte dein Engel Flügel?«, fragte Paulo.

Bevor Took antworten konnte, hatte sich Chris von ihrem Aluminiumstuhl erhoben, war um den Wohnwagen herumgegangen und hatte sich vor den beiden aufgebaut.

»Warum reitet er darauf herum, dass du besser allein gekommen wärst?«, fragte sie auf Portugiesisch. »Willst du, dass ich gehe?«

Took redete weiter mit Paulo und ignorierte Chris einfach. Sie wartete darauf, dass Paulo ihr antwortete, doch offenbar war sie auch für ihn unsichtbar geworden.

»Gib mir den Autoschlüssel!«, sagte sie entnervt.

»Was will deine Frau?«, fragte Took endlich.

»Sie will wissen, was das ›zweite Bewusstsein‹ ist.«

Der junge Mann erhob sich.

»Setz dich, schließ die Augen, und ich zeige es dir!«, sagte er.

»Ich bin nicht in die Wüste gekommen, um Magie zu lernen oder mit Engeln zu reden«, sagte Chris. »Eigentlich bin ich nur gekommen, um meinen Mann zu begleiten.«

Took lachte. »Setz dich!«, sagte er.

Sie sah zu Paulo hinüber, aber seine Miene verriet nicht, was er von Tooks Vorschlag hielt. ›Ich respektiere die Welt der Magie, aber meine ist es nicht‹, dachte sie. Obwohl alle [24] Freunde glaubten, sie teile die Anschauungen ihres Mannes, war das nicht der Fall. Sie redeten noch nicht einmal viel darüber. Chris begleitete Paulo zu bestimmten Orten, einmal hatte sie sogar sein zeremonielles Schwert transportiert, kannte den Jakobsweg* [* Chris’ Rolle bei Paulo Coelhos Pilgerreise ist in Auf dem Jakobsweg beschrieben.] und hatte – aufgrund der Umstände – etwas über sexuelle Magie gelernt! Mehr aber nicht.

J. hatte nie den Vorschlag gemacht, sie etwas zu lehren.

»Was soll ich tun?«, fragte sie Paulo.

»Was du willst«, war seine Antwort.

›Ich liebe Paulo‹, dachte sie. Etwas über seine Welt zu lernen würde sie ihm sicher näherbringen. Sie ging zu dem Aluminiumstuhl, setzte sich darauf und schloss die Augen.

»Woran denkst du?«, fragte Took.

»Ich denke über das nach, worüber ihr gesprochen habt. Dass Paulo allein reisen sollte. Was das ›zweite Bewusstsein‹ wohl sein mag. Ob sein Engel Flügel hat. Und ob mich das überhaupt interessieren sollte. Ich glaube, ich habe bisher noch nie über Engel geredet.«

»Nein, nein. Ich möchte wissen, ob etwas anderes in deinem Kopf passiert, etwas, das du nicht kontrollieren kannst.«

Sie spürte, wie er seine Hände rechts und links an ihren Kopf legte.

»Entspanne dich, entspanne dich!« Sein Tonfall war jetzt sanfter. »Woran denkst du?«

Da gab es Töne. Und Stimmen. Erst jetzt bemerkte sie, was sie beschäftigte, obwohl es ihr seit fast einem Tag im Kopf herumging.

[25] »Ein Musikstück«, antwortete sie. »Ein Song, den ich gestern auf dem Weg hierher im Radio gehört habe, verfolgt mich unentwegt.«

Ja, tatsächlich summte sie die ganze Zeit diesen Song, konnte einfach nicht aufhören. Und jedes Mal, wenn sie am Ende angelangt war, fing sie wieder von vorn an.

Took bat sie, die Augen wieder zu öffnen.

»Das ist das ›zweite Bewusstsein‹«, sagte er. »Dein ›zweites Bewusstsein‹ singt diesen Song. Es könnte sich auch mit etwas anderem beschäftigen, mit irgendeiner Sorge beispielsweise. Falls du verliebt bist, wird diese Person in deinem Kopf sein. Oder jemand, den du vergessen möchtest. Das mit dem ›zweiten Bewusstsein‹ ist nicht einfach: es arbeitet unabhängig von deinem Willen.«

Er wandte sich lachend zu Paulo.

»Ein Musikstück! Genau wie bei uns. Bei uns ist ›das zweite Bewusstsein‹ auch immer voller Songs! Die Frauen sollten immer verliebt sein und keine Musikstücke im Kopf haben! Hast du nie einen geliebten Menschen im ›zweiten Bewusstsein‹ gefangen gehalten?«

Beide lachten laut.

»Das sind die schlimmsten Lieben, schreckliche Lieben!«, fuhr Took fort. »Du bist auf Reisen, versuchst zu vergessen, aber das ›zweite Bewusstsein‹ ist immer da und sagt: ›Das hätte er wunderbar gefunden.‹ – ›Verdammt, wie wäre es schön, wenn er jetzt hier wäre.‹«

Die beiden Männer krümmten sich vor Lachen. Chris überging ihren Heiterkeitsausbruch. Sie war überrascht, so etwas wie ein ›zweites Bewusstsein‹ war ihr bislang nie in den Sinn gekommen.

[26] Dann besaß sie also zwei Arten von mentaler Kraft. Die gleichzeitig funktionierten.

Took stand jetzt neben ihr.

»Schließ die Augen!«, sagte er wieder. »Und versuch, dich an den Horizont zu erinnern, den du gerade gesehen hast!«

Sie versuchte, ihn sich vorzustellen.

»Ich schaffe es nicht«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Ich habe nicht genau hingeschaut. Ich weiß genau, was es um mich herum alles gibt, aber an den Horizont erinnere ich mich nicht.«

»Dann öffne die Augen, und sieh ihn dir an!«

Chris sah um sich. Da gab es Berge, Felsen, Steine, eine niedrige, karge Vegetation. Und eine Sonne, vor der die Sonnenbrille ihre Augen kaum mehr schützen konnte.

»Du bist hier«, sagte Took mit sehr ernster Stimme. »Versuch zu begreifen,...