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Das Herz ist ein einsamer Jäger

Carson McCullers

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602111 , 600 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[155] Zweiter Teil

1

Dieser Sommer war anders als jeder andere, den Mick erlebt hatte. Nicht dass viel geschehen wäre, was sie hätte in Gedanken oder Worte fassen können – sie spürte nur, dass sich etwas veränderte. Sie kam aus der Aufregung nicht mehr heraus. Morgens konnte sie es nicht erwarten, aus dem Bett zu kommen und den Tag zu beginnen. Und abends fand sie es grauenvoll, wieder ins Bett zu müssen.

Gleich nach dem Frühstück zog sie mit den Kindern los. Sie waren fast den ganzen Tag unterwegs und kamen nur zum Essen nach Hause. Meist trieben sie sich einfach in der Stadt herum: Sie zog den Wagen mit Ralph, und Bubber trottete hintendrein. Und immer war sie in Gedanken vertieft und mit ihren Plänen beschäftigt. Manchmal schaute sie plötzlich hoch und fand sich in einem Stadtteil, den sie gar nicht kannte. Ein- oder zweimal trafen sie Bill, aber sie war derart in Gedanken versunken, dass sie ihn erst bemerkte, als er sie beim Arm fasste.

[156] Frühmorgens war es rech frisch, und die Schatten vor ihnen auf dem Trottoir zogen sich in die Länge. Um die Mittagszeit aber war der Himmel immer glühend heiß. Das grelle Licht blendete so sehr, dass man kaum die Augen offenhalten konnte. Eis und Schnee spielten in ihren Zukunftsplänen oft eine große Rolle. Manchmal war sie weit weg, in der Schweiz – alle Berge waren mit Schnee bedeckt, und sie lief auf kaltem, grünlich schimmerndem Eis Schlittschuh. Mister Singer lief mit ihr Schlittschuh. Vielleicht auch Carol Lombard oder Arturo Toscanini, der immer im Radio zu hören war. Sie liefen alle zusammen Schlittschuh, und dann brach Mister Singer auf dem Eis ein, und sie stürzte ihm nach, trotz der Lebensgefahr, schwamm unter dem Eis zu ihm und rettete ihm das Leben. Das war so einer von den Plänen, die ihr durch den Kopf gingen.

Wenn sie eine Weile herumgelaufen waren, stellte sie Bubber und Ralph meist an einem schattigen Plätzchen ab. Bubber war ein prima Kerl, sie hatte ihn ganz gut erzogen. Wenn sie ihm sagte, er dürfe nur so weit weggehen, dass er Ralph noch brüllen hörte, hielt er sich auch dran. Nie wäre er zwei oder drei Blocks weiter zu den andern Kindern gegangen. Er spielte still für sich in der Nähe des Wagens, so dass sie die beiden unbesorgt allein [157] lassen konnte. Sie ging dann entweder in die Bibliothek, um sich den National Geographic anzusehen, oder sie bummelte herum und dachte weiter nach. Wenn sie etwas Geld dabeihatte, kaufte sie sich bei Mister Brannon eine Coca-Cola oder ein Milky Way. Kinder bekamen bei ihm Rabatt. Was sonst fünf Cent kostete, gab er ihnen für drei Cent.

Aber was sie auch tat – immer war da Musik. Manchmal summte sie beim Gehen vor sich hin, und ein andermal lauschte sie still in sich hinein. Sie hatte ganz unterschiedliche Musik in sich. Einiges hatte sie im Radio gehört, und anderes steckte einfach in ihr, ohne dass sie es irgendwo gehört hatte.

Abends, wenn die Kleinen im Bett lagen, war sie frei. Das war für sie die allerwichtigste Zeit. Im Dunkeln, wenn sie ganz allein war, passierte so vieles. Gleich nach dem Abendbrot rannte sie wieder aus dem Haus. Sie konnte über das, was sie abends machte, mit keinem Menschen sprechen. Wenn ihre Mama sie ausfragen wollte, erzählte sie ihr irgendeine Geschichte, die einigermaßen glaubwürdig klang. Meistens aber rannte sie, wenn sie gerufen wurde, einfach weg, als hätte sie nichts gehört. Das funktionierte bei allen, nur nicht bei ihrem Papa. In seiner Stimme war etwas, dass sie nicht weglaufen konnte. Er war einer der größten und kräftigsten [158] Männer der Stadt. Aber er hatte eine so sanfte und gütige Stimme, dass man überrascht war, sobald er zu sprechen begann. Sie mochte es noch so eilig haben – wenn ihr Papa rief, musste sie innehalten.

In diesem Sommer entdeckte sie etwas an ihrem Papa, das ihr bis dahin nicht aufgefallen war. Sie hatte ihn nie recht als eine einzelne Person gesehen. Er rief sie wer weiß wie oft. Sie ging dann ins Vorderzimmer, in dem er arbeitete, und stand ein paar Minuten bei ihm herum – aber ihre Gedanken waren, während sie ihm zuhörte, ganz woanders. Bis sie eines Abends plötzlich merkte, was mit ihrem Papa los war. Es geschah an diesem Abend nichts Außergewöhnliches, und sie wusste auch nicht, wieso sie es auf einmal begriff. Nur fühlte sie sich hinterher älter und glaubte ihn nun so gut zu kennen, wie man einen Menschen eben kennen konnte.

Gegen Ende August war das, an einem Abend, an dem sie es sehr eilig hatte. Sie musste unbedingt um neun bei einem bestimmten Haus sein. Ihr Papa rief nach ihr, und sie ging ins Vorderzimmer. Er saß zusammengesunken an seiner Werkbank. Aus irgendeinem Grund war es immer merkwürdig, ihn dort sitzen zu sehen. Bis zu seinem Unfall im vorigen Jahr war er Maler und Tischler gewesen. Er war jeden Morgen vor Tagesanbruch in seinem Overall aus dem Haus gegangen und den ganzen Tag über [159] fortgeblieben. Abends bastelte er manchmal noch an Uhren herum. Lange Zeit hatte er sich um eine Anstellung bei einem Juwelier bemüht. Dort hätte er den ganzen Tag über mit sauberem Hemd und Schlips ungestört am Arbeitstisch sitzen können. Nun, da er nicht mehr tischlern konnte, hatte er am Haus eine Tafel angebracht: HIER WERDEN ALLE UHREN BILLIG REPARIERT.

Er sah aber gar nicht wie ein Juwelier aus – die in der Stadt waren fixe, dunkle kleine Juden. Ihr Papa war zu groß für die Werkbank, und es wirkte so, als säßen seine langen Knochen nicht richtig fest.

Ihr Papa starrte sie an. Sie wusste genau, dass er ohne einen bestimmten Grund nach ihr gerufen hatte. Er wollte sich nur unbedingt mit ihr unterhalten. Und nun wusste er nicht, wie er anfangen sollte. Seine braunen Augen waren für sein langes, hageres Gesicht viel zu groß. Er hatte kein einziges Haar mehr auf dem Schädel und sah irgendwie nackt aus mit seiner Glatze. Er schaute sie immer noch wortlos an, während sie es doch so eilig hatte. Punkt neun musste sie bei dem Haus sein und hatte keine Zeit zu verlieren. Ihr Papa merkte, dass sie es eilig hatte, und räusperte sich.

»Hier hab ich was für dich«, sagte er. »Nicht viel, aber vielleicht kannst du dir was zum Naschen kaufen.«

[160] Er hätte ihr nicht fünf oder zehn Cent geben müssen, bloß weil er sich einsam fühlte und reden wollte. Von seinem Verdienst behielt er gerade so viel, dass er sich zweimal wöchentlich Bier leisten konnte. Auch jetzt standen auf dem Boden neben seinem Stuhl zwei Flaschen – eine leere und eine angebrochene. Wenn er Bier trank, unterhielt er sich gern. Ihr Papa fummelte an seinem Gürtel herum, und sie blickte weg. Er war in diesem Sommer geradezu kindisch geworden mit diesen Fünf- und Zehncentstücken, die er immer versteckte. Er steckte sie in die Schuhe oder auch in den Gürtel, in den er einen kleinen Schlitz gemacht hatte. Eigentlich war es ihr nicht recht, die zehn Cent anzunehmen; aber als er ihr das Geldstück reichte, öffnete sich ihre Hand wie von allein.

»Ich hab so viel Arbeit, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll«, sagte er.

Genau das Gegenteil war der Fall, das wusste er genauso gut wie sie. Er bekam nie viele Uhren zum Reparieren. Wenn er nichts mehr zu tun hatte, ging er im Haus herum und versuchte sich irgendwie nützlich zu machen. Abends saß er dann an seiner Werkbank, reinigte alte Federn und Rädchen und suchte die Arbeit in die Länge zu ziehen, bis es Zeit zum Schlafengehen war. Seit er sich den Hüftknochen gebrochen hatte und nicht mehr richtig [161] arbeiten konnte, musste er sich immer irgendwie beschäftigen.

»Ich hab heut Abend über allerlei nachgedacht«, sagte ihr Papa. Er goss sich Bier ein und streute sich etwas Salz auf den Handrücken. Dann leckte er das Salz auf und nahm einen Schluck.

Sie hatte es so eilig, dass sie kaum stillstehen konnte. Ihr Papa merkte das. Er versuchte etwas zu sagen – aber er hatte sie ja aus keinem bestimmten Grund gerufen. Er wollte nur ein bisschen mit ihr plaudern. Er setzte zum Sprechen an und schluckte einmal. Sie sahen einander an. Die Stille breitete sich immer weiter aus, und keiner von ihnen brachte ein Wort heraus.

Da wurde ihr auf einmal klar, was mit ihrem Papa los war. Eigentlich erfuhr sie damit nichts wirklich Neues – sie hatte es schon die ganze Zeit gewusst, nur nicht mit dem Verstand. Nun plötzlich wusste sie, dass sie über ihren Papa Bescheid wusste. Er war einsam, und er war ein alter Mann. Er fühlte sich von der Familie ausgeschlossen, weil keines der Kinder mit irgendetwas zu ihm kam und weil er nicht viel Geld verdiente. In seiner Einsamkeit wollte er einem seiner Kinder nahe sein – aber sie waren alle so beschäftigt, dass sie es nicht merkten. Er spürte, dass niemand ihn wirklich brauchte.

Das alles wurde ihr klar, während sie einander [162] ansahen. Ein komisches Gefühl. Ihr Papa nahm eine Uhrfeder in die Hand, tauchte einen Pinsel in Benzin und begann sie zu säubern.

»Ich weiß, du hast’s eilig. Ich wollte dir bloß mal guten Abend sagen.«

»Ach wo, ich hab’s gar nicht eilig«, sagte sie. »Ehrenwort.«

An diesem Abend setzte sie sich auf den Stuhl neben seiner Werkbank, und sie unterhielten sich miteinander. Er redete von Rechnungen und Ausgaben und davon, wie alles geworden wäre, wenn er’s anders angepackt hätte. Er trank sein Bier, und einmal traten ihm die Tränen in die Augen, und er wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Nase. Sie blieb an diesem Abend ziemlich lange bei ihm. Und das, obwohl sie es eigentlich so schrecklich eilig hatte. Aber von...