dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die Hyperion-Gesänge - Zwei Romane in einem Band

Dan Simmons

 

Verlag Heyne, 2013

ISBN 9783641100544 , 1408 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

14,99 EUR


 

PROLOG


Der Hegemoniekonsul saß auf dem Balkon seines Ebenholzraumschiffs und spielte Rachmaninows Prélude in cis-Moll auf einem uralten, aber gut erhaltenen Steinway, während sich große grüne Saurierwesen unten in den Sümpfen drängten und heulten. Im Norden braute sich ein Gewitter zusammen. Die Umrisse eines Waldes gigantischer Gymnospermen zeichneten sich vor blutergussschwarzen Wolken ab, Stratokumuli türmten sich neun Kilometer hoch in den aufgewühlten Himmel. Blitze zuckten am Horizont. Näher beim Schiff selbst stapften reptilienhafte Gestalten in das Sperrfeld, schrien auf und trotteten zurück in den indigofarbenen Nebel. Der Konsul konzentrierte sich auf einen schwierigen Teil des Préludes und schenkte weder dem Gewitter noch dem Einbruch der Nacht seine Aufmerksamkeit.

Der Fatline-Empfänger läutete.

Der Konsul hielt inne, verweilte mit den Fingern über der Tastatur und lauschte. Donner grollte durch die dichte Luft. Aus der Richtung des Gymnospermenwaldes ertönte der Klageruf einer Meute von Aasbrütern. Irgendwo in der Dunkelheit unten trompetete ein unvernünftiges Tier eine herausfordernde Antwort und verstummte. Das Sperrfeld bürdete der plötzlichen Stille seine Ultraschallschwingungen auf. Die Fatline läutete erneut.

»Verdammt«, sagte der Konsul und antwortete.

Der Computer brauchte ein paar Sekunden, den Schwall verfallender Tachyonen zu konvertieren und zu decodieren, also schenkte sich der Konsul ein Glas Scotch ein. Er nahm auf den Kissen der Projektionsnische Platz, als der Diskey gerade grün blinkte. »Abspielen«, sagte er.

»Sie sind auserwählt worden, nach Hyperion zurückzukehren« , sagte eine heisere Frauenstimme. Das Bild war noch nicht zur Gänze entwickelt; die Luft blieb frei, abgesehen vom Pulsieren des Übertragungscodes, der dem Konsul verriet, dass diese Fatline-Sendung ihren Ursprung auf der Regierungswelt Tau Ceti Center der Hegemonie hatte. Doch der Konsul brauchte die Übertragungskoordinaten nicht, um das zu wissen. Die gealterte, aber immer noch wunderbare Stimme von Meina Gladstone war unverwechselbar. »Sie sind auserwählt worden als Mitglied der Pilgergruppe zum Shrike«, fuhr die Stimme fort.

Was du nicht sagst, dachte der Konsul und stand auf, um die Nische zu verlassen.

»Sie und sechs andere wurden von der Kirche des Shrike ausgewählt und vom All-Wesen bestätigt«, sagte Meina Gladstone. »Es liegt im Interesse der Hegemonie, dass Sie akzeptieren.«

Der Konsul stand reglos in der Nische und hatte dem flackernden Übertragungscode den Rücken gekehrt. Nun hob er, ohne sich umzudrehen, das Glas und trank den Rest Scotch.

»Die Situation ist überaus verworren«, sagte Meina Gladstone. Ihre Stimme klang müde. »Das Konsulat und der Heimat-Regierungsrat haben uns vor drei Wochen Standardzeit über Fatline die Nachricht geschickt, dass die Zeitgräber den Anschein erwecken, als würden sie sich öffnen. Die Anti-Entropiefelder um sie herum dehnen sich rapide aus, und das Shrike wandert mittlerweile bis zum Bridle Range im Süden.«

Der Konsul drehte sich um und ließ sich wieder auf die Kissen fallen. Ein Holo von Meina Gladstones uraltem Gesicht hatte sich gebildet. Ihre Augen sahen so müde aus, wie sich ihre Stimme angehört hatte.

»Eine Einsatztruppe von FORCE:Weltraum wurde unverzüglich von Parvati losgeschickt, um die Bürger der Hegemonie auf Hyperion zu evakuieren, bevor sich die Zeitgräber öffnen. Ihre Zeitschuld beträgt etwas mehr als drei Hyperionjahre.« Meina Gladstone machte eine Pause; der Konsul dachte, dass er die Senatspräsidentin noch nie so grimmig gesehen hatte. »Wir wissen nicht, ob die Evakuierungsflotte rechtzeitig eintreffen wird«, sagte sie dann, »aber die Situation ist noch komplizierter. Ein Wanderschwarm der Ousters, bestehend aus mindestens viertausend … Einheiten … ist im Anflug auf das Hyperion-System. Unsere Evakuierungsflotte dürfte nur knapp vor den Ousters dort eintreffen.«

Der Konsul verstand Gladstones Zögern. Ein Wanderschwarm der Ousters konnte aus Schiffen bestehen, deren Größe von Einpersonenaufklärern bis hin zu Städtekuppeln und Kometenforts reichte, die Zehntausende dieser interstellaren Barbaren beheimateten.

»Die FORCE-Befehlshaber glauben, dass es sich um den großen Schlag der Ousters handelt«, sagte Meina Gladstone. Der Schiffscomputer hatte das Holo jetzt so positioniert, dass die traurigen braunen Augen der Frau den Konsul direkt anzusehen schienen. »Ob sie nur Hyperion wegen der Zeitgräber erobern wollen, oder ob dies ein umfassender Großangriff gegen das Weltennetz ist, bleibt abzuwarten. Vorläufig wurde eine vollständige Kampfflotte von FORCE:Weltraum zusammen mit einem Farcaster-Baubataillon aus dem Camn-System abgezogen, um zur Evakuierungsflotte zu stoßen, doch diese Truppe könnte wieder zurückgezogen werden, was ganz von der weiteren Entwicklung abhängt.«

Der Konsul nickte und hob geistesabwesend den Scotch zum Mund. Er sah das leere Glas stirnrunzelnd an und ließ es auf den dicken Teppichboden der Holonische fallen. Auch ohne militärische Ausbildung begriff er die schwierige taktische Entscheidung, vor der Gladstone und die Oberbefehlshaber standen. Wenn nicht schnellstens ein militärischer Farcaster im Hyperion-System installiert wurde – mit ungeheuren Kosten –, konnten sie der Invasion der Ousters keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen. Die möglichen Geheimnisse, die die Zeitgräber enthielten, würden dem Feind der Hegemonie in die Hände fallen. Wenn es der Flotte aber rechtzeitig gelang, einen Farcaster zu bauen und die Hegemonie sämtliche Reserven von FORCE darauf konzentrierte, die ferne Kolonialwelt Hyperion zu verteidigen, ging das Weltennetz die schreckliche Gefahr eines Angriffs der Ousters anderswo entlang der Grenze ein oder – ein Szenario, das vom Schlimmsten ausging – das Risiko, dass den Barbaren ein Farcaster in die Hände fiel und sie ins Netz selbst eindrangen. Der Konsul versuchte sich vorzustellen, wie die bewaffneten Truppen der Ousters durch Farcaster-Tore auf hunderten von Welten in schutzlose Städte einfielen.

Er schritt durch das Holo von Meina Gladstone, hob das Glas auf und schenkte sich noch einen Scotch ein.

»Sie sind auserwählt worden, an der Pilgerfahrt zum Shrike teilzunehmen«, sagte das Ebenbild der alten Präsidentin, die die Presse gerne mit Lincoln oder Churchill oder Alvarez-Temp oder jedweder Prä-Hegira-Legende verglich, die zur Zeit historisch en vogue war. »Die Tempelritter entsenden ihr Baumschiff Yggdrasil, und der Befehlshaber der Evakuierungsflotte hat Befehl, es passieren zu lassen. Mit einer Zeitschuld von drei Wochen können Sie zur Yggdrasil gelangen, bevor diese vom Parvati-System aus den Sprung macht. Die sechs anderen Pilger, die von der Kirche des Shrike auserwählt wurden, werden an Bord des Baumschiffes sein. Unsere Geheimdienstberichte sprechen dafür, dass mindestens einer der sieben Pilger ein Agent der Ousters ist. Wir wissen – zum derzeitigen Zeitpunkt  – noch nicht, wer es ist.«

Der Konsul musste lächeln. Unter sämtlichen Risiken, die Gladstone einging, musste die alte Frau auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er der Spion war und sie einem Agenten der Ousters wichtige Informationen über Fatline zukommen ließ. Aber hatte sie ihm irgendwelche wichtigen Informationen gegeben? Flottenbewegungen waren feststellbar, sobald die Schiffe den Hawking-Antrieb benützten, und wenn der Konsul der Spion gewesen wäre, hätte ihn die Eröffnung der Sprecherin womöglich abgeschreckt. Das Lächeln des Konsuls verschwand; er trank seinen Scotch.

»Sol Weintraub und Fedmahn Kassad gehören zu den sieben auserwählten Pilgern«, sagte Gladstone.

Der Konsul runzelte die Stirn. Er betrachtete die Wolke von Ziffern, die wie Staubkörnchen um das Bild der alten Frau herum flimmerten. Fünfzehn Sekunden Fatline-Übertragungszeit blieben.

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte Meina Gladstone. »Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Geheimnisse der Zeitgräber und des Shrikes gelüftet werden. Diese Pilgerfahrt könnte unsere letzte Chance sein. Wenn die Ousters Hyperion erobern, müssen ihr Agent eliminiert und die Zeitgräber um jeden Preis versiegelt werden. Das Schicksal der Hegemonie könnte davon abhängen.«

Die Übertragung war zu Ende, abgesehen vom Flimmern der Rendezvouskoordinaten. »Antwort?«, fragte der Schiffscomputer. Trotz der gewaltigen Energien, die aufgewendet werden mussten, war das Raumschiff imstande, einen kurzen codierten Impuls in das unverständliche Brabbeln der FTL-Sendungen zu schicken, die die von Menschen bewohnten Teile der Galaxis miteinander verbanden.

»Nein«, sagte der Konsul, ging hinaus und lehnte sich über das Balkongeländer. Die Nacht hatte sich niedergesenkt, die Wolken hingen tief. Sterne waren keine zu sehen; ohne das gelegentliche Aufleuchten eines Blitzes im Norden oder die sanfte Phosphoreszenz über den Sümpfen wäre es völlig dunkel gewesen. Plötzlich war sich der Konsul überdeutlich bewusst, dass er momentan das einzige vernunftbegabte Wesen auf einer namenlosen Welt war. Er lauschte den urzeitlichen nächtlichen Geräuschen, die vom Sumpf emporstiegen, und dachte an morgen, an den Ausflug mit dem Vikken-EMV bei Tagesanbruch, an einen ganzen Tag im Sonnenschein, an Großwildjagd in den Farnwäldern im Süden, an die Rückkehr zum Schiff, ein gutes Steak und ein kaltes Bier. Er dachte an das ausgeprägte Vergnügen der Jagd und den ebenso ausgeprägten Trost der Einsamkeit: Einsamkeit, die er sich durch die Schmerzen und den Alptraum verdient hatte, die er schon einmal auf Hyperion erdulden...