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Eine Handvoll Leben - Meine Kindheit im Gulag

Monika Dahlhoff

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783838719696 , 264 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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1940 bis 1944
Frühe Kindheit in Ostpreußen


Ich bin ein Kriegskind, im Krieg in Königsberg geboren und die ersten vier Jahre dort aufgewachsen. Meine Eltern wohnten in der Kneiphöfischen Langgasse, der prächtigen Hauptstraße im Stadtteil Kneiphof, wie eine Insel von zwei Flussarmen umgeben. Vor allem angesehene Kaufleute hatten nahe am Pregelufer mit seinen Schiffsanlegestellen und Speichern ihre Wohnungen und Geschäfte. Am gegenüberliegenden östlichen Ende des Kneiphofs überragte der Dom die Dächer. Erinnerungen an die Stadt habe ich kaum. Überhaupt weiß ich über meine ersten vier Lebensjahre nicht viel und besitze auch nur eine Handvoll inzwischen verblasster Schwarz-Weiß-Fotografien. Aber einige Bilder, Erlebnisse und Gefühle haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und sie scheinen mir echt zu sein.

Als ich zur Welt kam, war mein Vater vierundzwanzig Jahre alt und Soldat bei der Luftwaffe; er wird nicht oft bei uns gewesen sein, ich werde ihn nicht oft gesehen haben. Trotzdem habe ich eine starke Erinnerung an ihn. Wenn ich in den Nachthimmel blicke, sehe ich noch heute meinen Vater vor mir, der liebevoll zu mir herunterschaut und dem ich alles sagen kann. Er ist mein Herzensmensch, meine Kraftquelle. Meine Mutter hatte mich mit nur achtzehn Jahren zur Welt gebracht; fast selbst noch ein Kind, sorgte sie für mich, während ihr Mann immer wieder in den Krieg zog. Wenn ich an sie als junge Frau denke, sehe ich eigentlich nur die alten Fotografien von ihr vor meinem inneren Auge. Sie war eine wunderschöne Frau, aber sie wird in meiner Vorstellung nie so lebendig wie der Vater. Ihn sehe ich nach Hause kommen, auf Heimaturlaub. Ein schlanker junger Mann in blaugrauer Uniform. »Monika, Engelchen!«, rief er jedes Mal und hob mich zur Begrüßung hoch in die Luft. Ich war vielleicht zwei Jahre alt, als er fragte: »Würdest du dich freuen, ein Brüderchen zu bekommen? Dann hast du immer jemanden zum Spielen.« – »Ja, Papa!«, höre ich mich noch heute begeistert antworten. »Hast du mir eins mitgebracht?« Mein Vater und meine Mutter lachten, und Papa nahm mich auf den Arm. »Du weißt doch, dass Mama und ich uns sehr lieb haben, und wenn wir uns fest in den Arm nehmen, wirst du einen Bruder bekommen.« – »Oh, Papa, dann halt die Mama ganz, ganz fest!« Wieder lachten die beiden und Papa zwinkerte mir zu. »Da muss ich heute Abend mit deiner Mama noch mal allein drüber sprechen …« Er gab mir einen Kuss und ließ mich von seinem Arm hinunter. »Bitte, bitte, Mama, sag Ja!«, rief ich und hüpfte durch die Wohnstube. Dann rannte ich in mein Zimmer und rief: »Ein Brüderchen, ein Brüderchen!«

Sobald Vater zu Hause war, kam auch Oma Clausen, Vaters Mutter Gerda, oft zu Besuch, oder wir fuhren zu ihr nach Lyck, wo sie ein Juweliergeschäft betrieb. Mein Vater Gerd, ein gelernter Goldschmied, und seine Familie haben mir wohl die Leidenschaft für Schmuck und alles, was glänzt, vererbt. Ob ich auch einen Opa Clausen hatte oder ob er schon verstorben war, daran kann ich mich nicht erinnern.

Meine Großeltern mütterlicherseits nannte ich immer nur Oma und Opa, bei ihnen war ich besonders gern zu Besuch, denn sie besaßen nahe Königsberg ein Gut mit vielen Tieren. Doch der Weg dorthin war für meine Mutter und mich zu beschwerlich, sodass die Großeltern meist uns besuchen kamen.

Wenn ich mal wieder traurig war, weil Papa zurück an die Front musste, versuchte mich meine Mutter zu trösten. Worte halfen selten. Also spendierte sie uns ein Stück Torte in unserem Lieblingscafé ein paar Häuser weiter, oder wir besuchten den Tiergarten.

Eines Tages lag meine Mutter auf dem Sofa; sie hatte schon in den Wochen zuvor häufig über Übelkeit geklagt. Ich war wohl unruhig, denn Mama rief mich zu sich. »Komm, Monika, ich zeige dir was, du musst dir keine Sorgen machen«, sagte sie. Sie schob ihre Bluse hoch, legte ihre Hand auf den gewölbten Bauch und zog mich zu sich heran. »Gib mir mal dein Händchen.« Zögernd streckte ich meinen Arm aus, und vorsichtig legte sie meine Hand auf ihren Bauch. Er war warm. Mama bedeutete mir, leise zu sein. Ich traute mich kaum zu atmen. Plötzlich spürte ich, wie etwas von innen gegen ihren Bauch trat. Erschrocken wich ich zurück. »Hab keine Angst, das ist dein Brüderchen. Er ist bei mir im Bauch und wächst, bis er groß genug ist, um auf die Welt zu kommen.«

Ich muss das alles sehr aufregend gefunden haben, wenngleich ich wohl nichts verstanden habe. Von nun an verging jedenfalls kein Tag, an dem ich den Babybauch nicht befühlte.

Noch ein Mal kam mein Vater auf Heimaturlaub nach Hause. Diesmal sagte er beim Abschied zu mir: »Pass gut auf Mama auf. Zur Geburt deines Bruders bin ich zurück.«

Sie war im achten Monat schwanger und ihr Bauch kugelrund, als ein Soldat vor unserer Wohnungstür stand. Zuerst sah ich am Kleid meiner Mutter vorbei nur die Uniform und dachte, es wäre Papa. Doch dann hörte ich die fremde Stimme. Der Soldat hatte seine Mütze abgenommen und reichte Mama ein Päckchen. »Ich muss leider eine traurige Nachricht überbringen. Das Flugzeug ihres Mannes wurde abgeschossen. Es tut mir wirklich sehr leid …« Dann ging alles schnell. Mama fiel in Ohnmacht, sie wäre hingefallen, wenn der Fremde sie nicht aufgefangen hätte. Ich stand reglos da. Was war hier los? Ob das Baby kam? Aber es war doch noch viel zu früh, hatte Mama gesagt. Ich hatte ständig nachgefragt, wann es endlich so weit sei.

Der Soldat trug meine Mutter in die Wohnstube und legte sie aufs Sofa. »Ich hole einen Arzt!«, rief er und war auch schon aus der Tür. Ich streichelte Mama durch den weichen Stoff ihres Kleiderärmels, aber sie bewegte sich nicht. »Wach doch auf, Mama«, flüsterte ich. »Papa kommt bestimmt auch bald.«

Meine Mutter kam tatsächlich wieder zu sich, noch bevor ein Arzt in Uniform und der fremde Soldat ins Zimmer stürmten. »Gucken Sie mal den Bauch, da ist mein Brüderchen drinnen, deshalb ist Mama sicher umgefallen«, plapperte ich drauflos, als der Arzt sich über das Sofa beugte. Sanft schob er mich zur Seite, untersuchte meine Mutter und sprach leise mit ihr. Ich hörte ihr Wimmern, dann schickte sie die Männer fort.

Während sie das Päckchen auspackte, in dem die wenigen Habseligkeiten meines Vaters lagen, brach sie immer wieder in Tränen aus. Ich legte meine dünnen Arme um ihren Hals. »Mama, hör doch auf zu weinen«, flehte ich.

Erst eine ganze Weile später setzte sie sich auf und holte ein Taschentuch hervor, um sich die Tränen zu trocknen. Ihre Augen waren geschwollen, und die blonden Haare klebten feucht an den glühenden Wangen. Sie presste sich das Taschentuch gegen die Augen und weinte nur noch heftiger. Hatte Papa nicht gesagt, ich sollte auf Mama aufpassen? Ich nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und wischte über ihr Gesicht. Doch auch das half nicht. Sie sank auf das Sofa zurück, und ich legte mich zu ihr, ganz nah an den Babybauch. Irgendwann müssen wir beide über ihrem Weinen eingeschlafen sein.

Ich wachte auf, weil in Mamas Bauch etwas heftig rumpelte. Meine Mutter sah mich ohne ein Lächeln an. »Ich hole uns etwas zu trinken«, sagte sie, kam mit zwei Gläsern Wasser aus der Küche zurück und setzte sich zu mir. »Du musst jetzt ganz tapfer sein, Monika.« Noch nie hatten ihre Augen so traurig ausgesehen. »Papa kommt nicht mehr zu uns zurück. Er ist tot. Sein Flugzeug ist vom Himmel gefallen.«

Jetzt weinten wir beide. »Aber wo ist er denn, wenn er tot ist?«, fragte ich.

»Beim lieben Gott im Himmel.«

»Für immer?«

»Ja, Monika. Irgendwann werden wir ihn dort wiedersehen.«

»Und mein Brüderchen, wird er es dann auch sehen?«

»Ja, irgendwann …«

Ich weiß nicht, wie viele Tage meine Mutter noch weinte, es kam mir unendlich lange vor. Als eines Morgens die Wehen einsetzten, war es für die Geburt eigentlich noch zu früh. Doch es gab keinen Aufschub mehr, Mama musste ins Krankenhaus.

Ich freute mich, dass Oma und Opa kamen, um auf mich aufzupassen. Und am nächsten Tag fuhren sie mit mir ins Krankenhaus; mein Bruder war geboren.

»Der ist aber klein!«, rief ich enttäuscht. »Mit dem kann ich ja gar nicht spielen.«

»Du glaubst nicht, wie schnell der groß wird«, sagte meine Oma zum Trost. Doch dann begann sie zu schluchzen, und auch meiner Mutter liefen wieder die Tränen über das Gesicht. Selbst in den Augen von Opa stand das Wasser.

»Ach, heult doch nicht, ich werde später mit ihm spielen«, sagte ich schnell. »Jetzt passe ich erst mal auf ihn auf, damit ihm nichts passiert.« Und dann fiel mir ein, dass er noch gar keinen Namen hatte, und ich fragte meine Mutter danach.

»Deinem Vater gefiel Peter als Jungenname besonders gut, sollen wir ihn Peter nennen?«

Ich nickte. »Na, Peterchen …«

Erst als Mama mit meinem Bruder schon eine Weile zu Hause war, erfuhr ich, dass er niemals würde laufen können. Er hatte eine Rückenlähmung. Für meine Mutter bedeutete das noch mehr Arbeit, als sie ohnehin mit einem Säugling gehabt hätte. Das Stillen, das Wickeln, das Baden, die Bewegungsübungen, die sie mit Peter machen musste, die Wäsche, der Haushalt … da blieb nicht mehr viel Zeit für mich. Ich spielte häufig allein mit meinen Puppen, am liebsten Vater, Mutter, Kind.

Manchmal war ich froh, wenn das Sirenengeheul losging und wir in den Keller mussten, denn da konnte ich ganz nah bei Mama sein. Doch nach der ersten Aufregung zog sich das Warten auf die Entwarnung hin. Außer uns waren nur die alten Leute aus der Parterrewohnung im Keller, wie wir hatten auch sie ein altes Sofa...