dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Elsa ungeheuer

Astrid Rosenfeld

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602890 , 288 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[94] 2

Ein Hieb gegen die Schulter. Der Geruch von Erde. Elsa saß auf meinem Bett. Seit Tschernobyl trug sie immer ein paar Pilze bei sich, die sie wie Waffen einzusetzen pflegte. Einmal hatte sie mit einem einzigen Pfifferling sämtliche Nesshauers in die Flucht geschlagen.

So richtig begriffen hatten wir Kinder das Unglück in der Ukraine nicht. Nur, dass etwas Schreckliches geschehen war, dass man sterben oder schmelzen würde, sollte man das Falsche essen oder in einem Sandkasten übernachten.

Gerüchte kursierten, dass es bald Kühe mit drei Köpfen geben könnte und Menschen mit vier bis sechs Armen. Wir hielten Ausschau nach diesen Mutationen, aber die Wochen vergingen, ohne dass wir ein solches Lebewesen entdeckt hätten.

Tschernobyl war unsichtbar. Pilze und Blaubeeren, die Elsa so leichtfertig in die Hände nahm, die größte Gefahr.

Eine Rotkappe baumelte direkt über meinem Kopf und steigerte die Panik, die mich seit Lorenz’ Umzug ohnehin allmorgendlich überfiel. Vor einem Monat, an seinem elften Geburtstag, hatte mein Bruder beschlossen, dass es Zeit für ein eigenes Zimmer sei. Er wohnte jetzt eine Etage tiefer. Ich gewöhnte mich nur schwer daran, nach dem Erwachen das Nichts zu erblicken anstatt Lorenz.

»Elsa, mach das weg.«

[95] Sie sah mich an, sah den Pilz an und leckte mit ihrer Zungenspitze über die Rotkappe.

»Wenn du verstrahlst, bist du tot.«

»Und, glaubst du etwa, ich hab Angst, Fetti?«

»Nein… Ich…«

»Rate mal, was?«

»Was?«

»Du sollst raten.«

»Was denn?«

»Ich darf mit.« Sie boxte mir vor Freude auf die Brust. »Ich darf mit.«

»Wirklich? Sie haben’s erlaubt?«

»Ja.«

»Warst du schon bei Lorenz?«

»Nein.«

Seit Elsas Lippen im Winter meine Wange gestreift hatten, zählte ich: Wie oft schenkte sie meinem Bruder eines dieser seltenen Lächeln, wie oft mir?

Wie oft setzte sie sich bei der Gutenachtgeschichte neben mich, wie oft neben Lorenz?

Wie oft erzählte sie zuerst mir ihre Neuigkeiten, wie oft ihm?

Noch immer wollte ich, dass Lorenz und sie die gleichen Wege einschlugen, aber seit jener Berührung sehnte ich mich danach, an Elsas Seite zu gehen und nicht hinter den beiden.

Vor einem Jahr hatte Randolph Brauer seine tote Frau in einem Sarg nach Den Haag gebracht. Nun hatte ihr Cousin Jaap meinen Vater und uns Kinder eingeladen, zwei Augustwochen dort zu verbringen, damit wir Hannas Grab [96] besuchen konnten. So wie letzten Sommer würden das Murmeltier und Frau Kratzler die Betreuung der Feriengäste übernehmen. Aufgrund der verstrahlten Pilze erwarteten wir nur wenige Urlauber. Außerdem war Randolph, seit er sich vom Wermut trösten ließ, ohnehin keine große Hilfe.

»Mach, dass ich mitdarf, Fetti«, flehte Elsa, als unsere Reisepläne feststanden.

Das Murmeltier unterstützte mich. Es brauchte nicht viel, um Randolph zu überreden, und auch unser holländischer Gastgeber hatte keine Einwände. Nur die Gröhlers stellten sich quer. Auf ein striktes Nein folgte nach einer Unterredung mit Herrn Murmelstein ein skeptisches Vielleicht. Jeden Tag brachten sie neue Argumente vor, warum sie Elsa beim besten Willen nicht fahren lassen konnten. Die Reise wäre für meinen Vater auch ohne das anstrengende Mädchen Strapaze genug. Außerdem hatten Hubertus und Gustav geplant, die Alt-Gröhlers an der Nordsee zu besuchen, und wie sähe das denn bitte schön aus, wenn die eigene Enkelin einer fremden Familie den Vorzug gäbe.

Das Murmeltier schaffte es immer wieder, die Bedenken der Gröhlers zu zerstreuen, und allmählich wandelte sich das Vielleicht in ein vielversprechendes Wir werden sehen.

Und jetzt, eine knappe Woche bevor es losgehen sollte, hatten wir gewonnen. Dass ich der Erste war, dem sie die frohe Botschaft verkündete, verdoppelte das Siegesgefühl.

Die Rotkappe, die meinem Gesicht eben noch unangenehm nah gewesen war, flog auf den Boden.

»Heute ist es ein Hund«, sagte Elsa und deutete auf den Anhänger ihrer Kette. »Komm, Fetti, lass uns runter zu Lorenz gehen.«

[97] Einen Koffer packte Elsa zu Hause unter Aufsicht ihres Onkels. Fügsam verzichtete sie auf den Großteil der Kleidungsstücke, die sie eigentlich am Wochenende anziehen durfte. Sie nickte artig bei Gustavs Erklärung, dass es sein Recht sei, die Regeln unter bestimmten Umständen zu ändern, und der Aufenthalt in Den Haag sei eben so ein bestimmter Umstand.

Einen zweiten Koffer – mit Elsas wirklichen Schätzen – füllte sie bei uns, schließlich war das Murmeltier noch immer der Hüter des Stapels ›nur in den Ferien erlaubt‹. Auch die Stiefel, die sie sonst in ihrer Krokodilledertasche verwahrte, wanderten zusammen mit drei Paar neuen Bandagen in das Geheimgepäck.

Weder Lorenz noch ich hatten jemals die Oberpfalz verlassen.

Am frühen Morgen lieferten die Gröhlers Elsa bei uns ab und drängten Randolph die Telefonnummer der Nordsee-Großeltern auf, mit dem Hinweis, dass man das Mädchen, sollte es sich danebenbenehmen, sofort dort hinschicken könne.

Ein Taxi brachte uns zum Bahnhof. Es ging weiter mit dem Regionalexpress. In Regensburg stiegen wir in den Zug nach Köln. Von Köln fuhren wir nach Eindhoven. Von Eindhoven nach Den Haag.

Randolph Brauer war so nüchtern wie lange nicht mehr, nur einen ganz kleinen Wermut hatte er zum Frühstück getrunken. Trotzdem wirkte er benebelt, seltsam euphorisch. Er sprach von Hannas Grab, und es klang so, als hätte ihm jemand die Auferstehung seiner Frau wenn nicht garantiert, so doch zumindest in Aussicht gestellt. Ob es sich bei [98] diesem Jemand um Gottvater selbst, das arme Herzjesulein der Kratzlerin oder einen zweitrangigen Heiligen handelte, war seiner Rede nicht zu entnehmen. Vielleicht war ich auch nicht aufmerksam genug. Zu sehr nahm mich der Gedanke in Anspruch, dass ich gerade meine erste große Reise antrat. Lorenz erging es nicht anders, und so war Elsa Randolphs einzige Zuhörerin.

Sie hatte schon oft in einem Zug, ein paarmal sogar in einem Flugzeug gesessen.

Jaap, der darauf bestand, dass wir ihn Onkel Jaap nannten, holte uns am Bahnhof ab. Seine Gesichtszüge erinnerten an Hanna, was erst auf den zweiten Blick auffiel, denn er war groß und dick, unsere Mutter hingegen klein und schlank gewesen. Jaap sprach fließend Deutsch, grammatikalisch perfekt, nur an der Betonung erkannte man den Holländer.

Früher hatte er ein Restaurant besessen und von einem Hotel geträumt. Ende der Siebziger musste er Konkurs anmelden und hielt sich danach als Kellner über Wasser. Ein Job, den er hasste, wurde ihm doch allabendlich seine eigene Niederlage vor Augen geführt.

Vor fünf Jahren beendete eine zufällige Begegnung mit Irina Graham sein unglückliches Kellnerdasein. Sie saß mit ihrem Berater Sebastian Mirberg in dem Restaurant, in dem Jaap servierte. Unüberhörbar und auf Deutsch echauffierte sich die alte Dame über ihre frustrierende Suche nach Personal. Sie brauchte einen Gärtner, der den paradiesischen Park der Vorbesitzer ihrer Villa dem Erdboden gleichmachen und durch einen englischen Rasen ersetzen würde. Und zwar sofort.

[99] »Sofort heißt sofort, und nicht erst in vier Wochen.«

Onkel Jaap ergriff seine Chance und bot der Dame seine Dienste an.

»Wann können Sie anfangen?«, fragte sie.

»Sofort«, antwortete er, stellte das Lachsfilet auf den Tisch und zog seine weiße Schürze aus.

»Sie gefallen mir«, sagte Irina Graham.

Jaap wohnte mietfrei in dem Häuschen, das auf Mrs. Grahams Grundstück stand. Innerhalb kürzester Zeit zerstörte er die Teichlandschaften, die wilden Hecken, fällte Apfel- und Kirschbäume, stampfte Blumenbeete ein und beauftragte eine Firma, den gewünschten englischen Rasen anzulegen. Irina war zufrieden mit ihrem Amateurgärtner. Mehr noch, sie mochte ihn, denn Jaap beherrschte Deutsch, die Sprache ihrer Mutter, die Sprache, in der sie erzogen wurde. Und so blieb Jaap, obwohl sein eigentlicher Auftrag erfüllt war, bei ihr in Lohn und Brot.

Onkel Jaap gehörte zu den Menschen, für die Worte wie ›vertraulich‹ oder ›geheim‹ keinerlei Bedeutung hatten.

Aus ungefilterten Gedanken wurden augenblicklich Sätze. Ohne Unterlass ertönte seine Stimme, als könne er Stille nicht ertragen. Trotz der bisweilen nervenaufreibenden Dauerbeschallung musste man ihn einfach gernhaben. Er war hilfsbereit, gütig und höflich.

Noch bevor wir die Grahamsche Villa erreicht hatten, kannten wir den Lebenslauf ihrer Besitzerin. Es begann mit der harmlosen Information: »Frau Graham hat gesagt, dass die Kinder bei ihr schlafen können, dann müssen wir uns nicht alle in mein Häuschen quetschen«, und endete mit Rembrandts Andromeda an den Felsen gekettet, Exponat 707 [100] des Mauritshuis-Museums. Manchmal unterbrach er seinen Monolog, sah zu Randolph und fragte ein wenig verunsichert: »Habe ich dir das alles schon letztes Jahr erzählt?«

Jedes Mal verneinte unser Vater, worauf Onkel Jaap selig lächelte.

Irinas Mutter Elfriede Schuller wurde in dem Jahr geboren, als Kaiser Wilhelm II. seinen Reichskanzler Bismarck entließ. Ihr Vater war ein Berliner Industrieller, ihre Mutter starb bei der Geburt ihres ersten und einzigen Kindes.

Obwohl Herr Schuller Elfie über alles liebte, ja sie für das bezauberndste Geschöpf auf Gottes Erden hielt, glaubte er nicht daran, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen könnte. So galt es, den besten...