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Der Konvoi

Lukas Hartmann

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602241 , 208 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[35] 12. November 1918, nach 15 Uhr

Sie haben die Stadt hinter sich gelassen; die Dragoner sind längst zurückgeblieben. An einem Wald entlang, der dort, wo das Licht ihn trifft, zu brennen scheint, senkt sich die Straße allmählich zur Brücke bei Worblaufen. Träge fließt die Aare dahin, nichts Heiteres und Eiliges hat sie an sich wie die junge Sense, die Samuel seit seiner Kindheit kennt, und doch ist in diesem steten Ziehen eine unwiderstehliche Kraft. Man musste sich auch vor der Sense fürchten, wenn sie Hochwasser führte. Einmal, nach einem Sommergewitter, als das Wasser plötzlich mannshoch heranschoss, hatte sich Samuel beim Forellenfischen auf einen Felsblock gerettet; dort saß er stundenlang, durchnässt vom Regen und von der Gischt. Die Sturmböen zerrten an ihm, die Senseschlucht füllte sich in ihrer ganzen Breite mit Wasser, darin trieben entwurzelte Bäume, verfingen sich im Ufergestrüpp, wurden wieder losgerissen. Gegen Abend beruhigte sich der Fluss, aber immer noch stieg das Wasser, es stieg, beinahe schwarz unter dem düsteren Himmel, bis zur halben Höhe des Felsblocks. Samuel fror, es wurde Nacht. Irgendwann zeigten sich Sterne am Himmel; das Gurgeln und Rauschen wurde leiser. Als das Wasser zu sinken begann, kletterte er vom Felsblock und ließ sich dort, wo das Ufer gewesen war, in den Fluss gleiten. Seine Zehen [36] ertasteten Grund, er stemmte sich gegen die Strömung und watete in der Dunkelheit zur Stelle, wo er den Pfad vermutete. Er fand im Schlamm den Aufstieg; erschöpft kam er oben an, blieb am Rand eines Roggenfelds liegen. Der Halbmond war inzwischen aufgegangen; obgleich Samuel alle Glieder schmerzten, ergriff ihn plötzlich eine ungestüme Lebenslust, eine Freude, wie er sie nie vorher und nie nachher gespürt hatte. Die ganze Nacht verging der Klang nicht, der in ihm war; er tat kein Auge zu, träumte nicht, vergaß Vergangenheit und Zukunft. Von diesem Tag an durfte er nicht mehr fischen gehen. Doch der Felsblock, auf dem er gewartet hatte, zog ihn magisch an. Schon nach kurzer Zeit übertrat er das Verbot. Niemand merkte es, wenn er sich vom Beerensammeln wegstahl; die Fische, die er fing, briet er allein.

Von alldem würde Samuel gern Helene erzählen. Würde er nicht mit den richtigen Wörtern ihren Spott besiegen? So vieles, was er für sich erdacht hat, vergräbt er in sich. Keiner seiner Schüler wird je wissen, was in ihm steckt, auch Martha wird es nie wissen.

Nach der Brücke steigt die Straße wieder an. Das Auto holpert stärker als vorher. Samuel packt mit beiden Händen sein Gewehr, damit es nicht gegen Maria fällt. Fuhrwerke kommen ihnen entgegen; sie weichen an den Straßenrand aus, halten an, um die Kolonne vorbeizulassen.

Zosso greift sich an die Stirn. Ruckartig steuert er das Auto, das beinahe nebenaus gerät, in die Straßenmitte zurück.

Dieser verflixte Föhn, sagt er.

Kopfweh?, fragt Samuel.

[37] Zosso nickt. Bei Föhn habe ich Kopfweh und Gliederschmerzen, abends trinke ich einen Grog, dann ist es weg.

In meinem Toilettenkoffer, sagt Helene, wäre ein Balsam, der würde Ihnen guttun. Aber man erlaubt mir ja nicht, mein Gepäck bei mir zu haben.

Es geht schon, murmelt Zosso und hält mit angespannten Muskeln das Steuerrad fest.

Eine Weile bleibt es still im Auto. Das Motorengeräusch und das Holpern wiegen Samuel in eine Schläfrigkeit, der er beinahe erliegt; sogar Maria lockert ihre Haltung und lehnt sich zurück.

Zollikofen, das langgezogene Dorf, das sie durchqueren, wirkt sonntäglich ausgestorben. Nur hier und dort haben sich ein paar Leute am Straßenrand versammelt und bestaunen den vorbeifahrenden Konvoi. Wenn sie wüssten, wer in den Autos sitzt, würden sie Steine werfen, denkt Samuel. Oder sind es streikende Sozis, die heute zu Hause bleiben? Man ist zu schnell vorbei, man sieht’s ihnen nicht an, auf welcher Seite sie stehen. Worauf ist denn noch Verlass, wenn in Europa alles drunter und drüber geht? Die österreichisch-ungarische Monarchie am Boden, der deutsche Kaiser im Exil; was gebaut schien für die Ewigkeit, kracht zusammen, und doch fährt man auf einer soliden Straße, die Dörfer mit vertrauten Namen reihen sich aneinander, wie wenn alles beim Alten wäre.

Auf einer geraden Strecke wurde mehrmals gehupt; jemand pfiff auf einer Trillerpfeife. Das vorderste Auto hielt an; Leutnant de Weck, die Karte in der Hand, sprang heraus. [38] Die Fahrzeuge schoben sich zusammen wie der Balg einer Handharmonika, Soldaten stellten sich, Gewehr im Anschlag, neben den Autos auf.

Auch Samuel zwängte sich hinaus und kam sich lächerlich vor in der befohlenen Haltung. Er sah Korporal Riedo vorbeirennen, hörte ihn dem Leutnant Meldung erstatten: Man habe einen Camion verloren, das letzte Fahrzeug der Kolonne mit Korporal Perler und neun Füsilieren.

Unmöglich!, schrie der Leutnant. Was für eine Idiotie! Man kann doch nicht einen ganzen Camion verlieren!

Der Camion sei, fuhr Riedo fort, ein wenig zurückgeblieben und vermutlich bei Hindelbank in die falsche Richtung abgezweigt, deshalb habe er den Alarm ausgelöst.

Und warum haben Sie das nicht früher bemerkt? Haben Sie geschlafen, Sie Trottel? Der Leutnant ließ die Karte fallen; er bückte sich, um sie aufzuheben, wedelte den Korporal beiseite, der ebenfalls nach der Karte greifen wollte.

Auch Doktor Jacob war inzwischen ausgestiegen. Er machte ein paar Dehnungsübungen mit den Armen und sagte zum Leutnant, er sehe keinen Grund zur Panik, man warte wohl am besten eine Weile, das verlorene Schaf werde bestimmt zur Herde zurückkehren.

Der Leutnant, dem der leise Spott nicht entging, biss sich auf die Lippen. Ein weiteres Mal inspizierte er den Konvoi in aller Strenge. Er ging den Autos entlang, ließ sich rapportieren, welche Russen darin saßen, er überprüfte Anzahl und Namen, er addierte, verrechnete sich, fing von vorne an, gelangte endlich zur erlösenden Zahl: dreiunddreißig waren es, die Kinder eingeschlossen. Von denen, die er zur Grenze bringen musste, fehlte niemand, zum Glück. [39] Auch der zweite Camion, der Gepäckwagen, war noch da; die festgezurrten Blachen ließen sich mit einem Handgriff kontrollieren. Für weitere Beunruhigung sorgte jedoch der Chauffeur von Wagen fünf, der meldete, der Motor verliere Öl, es gebe wohl ein Leck. De Weck und der Chauffeur gingen zusammen vor dem Daimler Coupé in die Knie, begutachteten die schillernde Pfütze, die sich zwischen den Vorderrädern gebildet hatte. Hinter ihnen stehend, zündete sich Doktor Jacob eine Zigarette an, was die Balabanoff dazu bewog, überraschend aus Wagen vier, dem neuen Fiat Torpedo, zu steigen. Füsilier Mülhauser, der sie bewachen sollte, versuchte, sie mit seiner Waffe zurückzutreiben, doch furchtlos lehnte sich die Balabanoff ans Auto, steckte sich, zu Doktor Jacob hinüberschauend, ebenfalls eine Zigarette in den Mund und erwartete offenbar, dass er ihr Feuer gab.

Der Leutnant schnellte auf, schob Mülhauser, dessen Gewehr zitterte, zur Seite.

Eine Zigarettenpause ist ja, wie ich sehe, erlaubt, kam die Balabanoff seiner Rüge zuvor.

Ganz und gar nicht! De Weck geriet ins Stottern. Ich allein bestimme, wann Sie den Wagen verlassen dürfen. Ihr stupider Ungehorsam könnte allerschwerste Konsequenzen haben. Er deutete auf Mülhausers Waffe, die immer noch auf sie zielte, räusperte sich; seine Stimme fand zum gewohnten Kommandoton zurück. Marsch jetzt, hinein mit Ihnen!

Die Balabanoff wandte sich an Doktor Jacob, der leicht geniert den Zigarettenrauch von sich wegblies. Muss ich mir das von diesem Milchgesicht gefallen lassen?

Jacob wich ihrem Blick aus. Sie können ja im Wagen rauchen.

[40] Ach so? Ihre Taktik besteht darin, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Ich bewundere Ihren Mut.

Sie sollen jetzt endlich gehorchen, sagte der Leutnant, zornig wie ein Kind. Ich zähle auf zehn, dann kann ich für nichts mehr garantieren. Er holte Atem, sagte: Eins; bei drei lachte die Balabanoff ungläubig auf.

Zalkind, der Bärtige, der schon vorher ans Fenster geklopft hatte, öffnete die Hintertür des Fiats und lehnte sich hinaus. Wenn die Genossin Balabanoff hier drinnen raucht, sagte er, bekomme ich mein Asthma; und Samuel, der den Streit verfolgte und gleichzeitig die Insassen von Wagen zwei im Auge behielt, wusste nicht, ob Zalkind sich bloß über den Leutnant lustig machte.

Im Wartesaal, sagte Jacob, haben Sie alle geraucht, und da war von Ihrem Asthma keine Rede.

Hier drin ist’s viel enger. Zalkind mimte, an den Hals greifend, einen Erstickungsanfall.

Lass sie doch! Die Balabanoff schnippte ihre Zigarette weg und stieg, als der Leutnant mit mühsam beherrschter Stimme bei zehn angelangt war, zurück ins Auto, zu Zalkind, der ihr, auf die andere Seite rutschend, Platz machte.

De Weck stieß mit dem Fuß die Tür zu, schüttelte sich, schaute hinauf zur dichten Wolkendecke, aus der es wieder zu tröpfeln anfing, er konsultierte seine Taschenuhr, ging nochmals den Autos und den Soldaten entlang bis zum Ende der Kolonne, schaute in die Weite, bis dorthin, wo die leere Straße hinter einer Kuppe verschwand.

Beinahe eine volle Stunde warteten sie auf offenem Feld. Wagen sechs, der kanariengelbe Pic-Pic, den der erfahrenste Chauffeur fuhr, wurde nach Hindelbank zurückgeschickt, [41] um zu erkunden, ob der Camion irgendwo gesichtet worden sei. Nach einigem Hin und Her durften zwei Kinder, begleitet von ihren Müttern, aussteigen, um unter strenger Bewachung zu pinkeln; das Gleiche erlaubte der Leutnant einem Russen, der über seine schwache Blase klagte,...