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Silberkiesel - Hunkelers erster Fall

Hansjörg Schneider

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602906 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[95] Peter Hunkeler hatte einen Traum. Es war am Altachenbach, an dem er aufgewachsen war im schweizerischen Mittelland. Dieser Bach war seine Heimat gewesen, seit er sich erinnern konnte. Der Wasserlauf, der sich nach jedem Sommergewitter einen neuen Weg durch die Schlammbänke suchte, die fein geäderten Eisflächen im Winter, auf denen leichter Schnee lag, die schwarzen Egel auf dem Grunde, von denen er sich nie einen in die Hand zu nehmen traute.

An diesem Bach war es, und zwar unter der Brücke, unter der es muffig roch und allerlei Gerümpel herumlag, den niemand mehr haben wollte. Da lag auch ein Gürtel aus geflochtenem Leder, achtlos weggeworfen. Dieser Gürtel lag in einem seltsamen Licht da, unwirklich wie ein Märchengegenstand, trotzdem höchst real, als gehörte er zu einer anderen, wirklicheren Welt. Und er war für ihn da, für Peter Hunkeler, für das Kind, das er einmal gewesen war und jetzt auf geheimnisvolle Weise plötzlich wieder aufs Neue war. Er wagte sich nicht zu rühren vor diesem Fund, weil er fürchtete, er könnte ihm im letzten Moment abhanden kommen, wegrutschen, sich wegschlängeln. Da hörte er einen Ton. Dieser Ton rief ihn von weit her, aus einer fernen Höhle vielleicht, mit der er im Moment nichts zu schaffen hatte. Dort lag der Gürtel, den galt es zu bergen. Aber da war wieder der Ton.

Hunkeler erwachte. Er hörte das Telefon draußen im Gang klingeln, er zählte achtmaliges Aufhören und Wiedereinsetzen des Tones, bis er begriff, dass er gemeint war.

Er schob Hedwigs Bein von seinem Unterschenkel, stieg aus dem warmen Bett, trat in den eiskalten Flur hinaus und hob ab. Es war Madörin.

[96] »Bist du wahnsinnig«, sagte Hunkeler, »wie spät ist es denn?«

»Kurz vor sieben«, sagte Madörin. »Es tut mir leid, aber es sind ein paar Dinge geschehen, die dich vielleicht interessieren könnten.«

»Ich habe einen Traum gehabt«, sagte Hunkeler, »aber den erzähle ich dir nicht. Ein Gürtel aus geflochtenem Leder kam darin vor. Der war wie ein Tier, der war für mich.«

»Wach endlich auf«, sagte Madörin, »träumen kannst du später. Also pass auf: Erstens ist in die Garderoben der Kanalarbeiter an der Hochbergerstraße eingebrochen worden. Drei Kästen sind durchsucht worden. Heute Nacht war das.«

»Eingebrochen«, sagte Hunkeler, »so.« Er spürte die Kälte an seinen nackten Fußsohlen, wie sie aufstieg in seinen Körper. Durch das vergitterte Fenster der Haustür sah er draußen die Dunkelheit.

»Ja«, sagte Madörin, »der Nachtwächter hat es bemerkt und die Polizei angerufen.«

»Mitten aus dem Schlaf«, sagte Hunkeler und gähnte. Er hörte, wie Hedwig drinnen im Bett herumrutschte und wieder zu schnarchen begann.

»Meinst du eigentlich, es mache mir Vergnügen, dich aus dem Schlaf zu klingeln?«, fragte Madörin giftig.

»Entschuldigung. Hier draußen ist noch tiefe Nacht. Hier draußen ist tiefster Frieden.«

Madörin ging nicht darauf ein. »Zweitens: Kayat ist verschwunden.«

»Wie verschwunden?« Hunkeler spürte plötzlich Harndrang, den er kaum beherrschen konnte.

[97] »Bist du jetzt endlich wach?«

»Ja, ich bin wach«, schrie Hunkeler in die Sprechmuschel. »Wie verschwunden?«

»Ich habe, als ich vom Einbruch erfuhr, sofort den Schneeberger im Drei Könige angerufen. Er saß in der Eingangshalle und war offenbar kurz eingenickt. Er ging nachschauen im Zimmer 125. Das Zimmer war leer. Ausgeräumt. Vogel ausgeflogen.«

»Und Haller?«

»Der war bis um zwei Uhr auf dem Treidelweg zum Rhein hin. Dann hat es ihm offenbar zu stark geschneit, und er ist für zwei Stunden nach Hause gegangen, um Kaffee zu trinken und sich aufzuwärmen.«

»Seid ihr alle übergeschnappt?«, schrie Hunkeler. »Ich habe gesagt, rund um die Uhr, und nicht, solange es euch passt.«

Er hörte, wie Hedwig in der Stube etwas murmelte, sie träumte.

»Die einen liegen im Doppelbett in der Bauernstube«, giftete Madörin, »die andern stehn in der Schneenacht draußen. Wie findest du das?«

»Gut«, sagte Hunkeler, »ich bin in einer Stunde an der Hochbergerstraße.«

Er legte auf, öffnete die Haustür, trat hinaus auf den Vorplatz und pisste in den hell schimmernden Schnee. Er schlotterte. Im Stall gegenüber hustete eine Kuh, mühsam und dumpf. Der Himmel über ihm war tiefschwarz. Eine Menge Sterne glitzerte darin. Die Luft war schneidend, eisig. Im Osten hing ein grauer Streifen der aufkommenden Dämmerung.

[98] Als Hunkeler nach einer halben Stunde zusammen mit Hedwig losfuhr, lag bereits Licht über dem Dorf. Im Stall war das Saugen der Melkmaschine zu hören. Dort drin standen die dampfenden Tiere Leib an Leib, mit triefenden Mäulern Heu mampfend, schwere Dungfladen aus dem After drückend, jeder einzelne Leib ein wärmender Ofen.

Die Straße den Hang hinauf war so vereist, dass das Auto nicht weiterkam. Hunkeler suchte die Handschuhe im Handschuhfach. Sie waren nicht da. »Herrgott«, das war der einzige Fluch, der ihm einfiel. Er stieg aus, zerrte die Schneeketten aus dem Kofferraum und machte sich daran, sie über die Vorderreifen zu legen. Seine Verbitterung wuchs zur schieren Verzweiflung an, als er mit klammen Fingern die eiskalten Kettenglieder über das Gummiprofil riss, und er war den Tränen nahe, als sie beim ersten Fahrversuch nach wenigen Metern abfielen. »Nie mehr einen Polizisten«, hörte er Hedwig nebenan sagen, »nie mehr einen Freund und Helfer.«

In Hunkeler erwachte die kalte Wut. Er stieg wieder aus und schmetterte die Tür mit solcher Wucht zu, dass die Karosserie fast auseinanderfiel. Er glitt aus und wäre beinahe gestürzt, als er die Ketten vom Boden aufhob. Es gelang ihm, im Schnee kniend, keuchend, sie so an den Rädern zu befestigen, dass er die Haken korrekt in die dafür bestimmten Ösen einhängen und mit den Gummiringen festzurren konnte. Hedwig saß wie eine Mumie da, als er wieder einstieg, den Blick geradeaus gerichtet.

Als er oben über die Hochebene fuhr, links und rechts die reinen, keuschen Schneefelder, fing der Motor endlich zu heizen an. Die Sterne waren längst verschwunden, der [99] Osten war rosa, ein klirrend klarer Februarmorgen war das. Die Lichter des Flughafens in der Ebene unten brannten immer noch, dahinter lag die Stadt mit den hohen Verwaltungsgebäuden der Chemie, und etwas weiter rechts standen die dunklen Kirchtürme der Altstadt. Ein schönes Bild, dachte Hunkeler, fast ein Stück Heimat.

Erdogan Civil hörte den Wecker rasseln. Er blieb liegen in seiner gekrümmten Stellung, er spürte, wie sich Erikas Leib in seinem Rücken leicht verschob. Das Rasseln hörte auf.

Er behielt die Augen geschlossen und atmete regelmäßig. Er erinnerte sich, geträumt zu haben, irgendetwas von einer Stielhacke, die er auf dem Feld seines Vaters verloren hatte, und doch musste er das Feld hacken, damit neu angesät werden konnte. Es ging aber nicht nur um diese Hacke und um das Feld, es ging noch um etwas ganz anderes, viel Wichtigeres. Und plötzlich war der Stiel der Hacke eine Schlange, die sich bewegte und ihn in die linke Hand biss.

Er versuchte, seine linke Hand zu bewegen. Es ging ohne weiteres, sie war unverletzt. Es war eben nur ein Traum gewesen.

Er war es gewohnt, die verrücktesten Geschichten zu träumen, vor allem in den frühen Morgenstunden, wenn die schwere Nachtmüdigkeit von ihm gewichen war. Dann war er jeweils beim Aufwachen froh, Erikas Leib neben sich zu spüren. Gegen ihn vermochten die Träume nichts.

Er drehte sich auf die andere Seite, dehnte den [100] Oberkörper und gähnte. Der Stiel einer Hacke, dachte er, der plötzlich eine Schlange wird. So ein Unsinn.

Schlangen hatte er in seiner Jugend genug gesehen, als er im Flussdelta die paar Kühe hüten musste, die sein Vater besaß. Er dachte an das magere Gras auf den Sandbänken, an das knietiefe Wasser, in dem die Kühe standen, um sich in der Hitze abzukühlen, an die Flamingos draußen in der Lagune mit den rosaroten Federn und den Hakenschnäbeln, die blitzschnell in die silbernen Fischschwärme tauchten. Und dann fielen ihm die Diamanten ein, die drüben auf dem Tisch lagen.

Diese Steine waren noch unwirklicher als der verrückteste Traum. Eine Handvoll Kiesel wie geschliffene Wassertropfen, heruntergefallen aus einer schmutzigen Röhre, leuchtend und bläulich blitzend mitten im Unrat, heruntergetropft vor seine Füße, in seine Hand. Das war, als ob ein Stern mitten aus dem Nachthimmel heruntergefahren wäre in die Lagune hinein, mitten unter die Flamingos, die dort auf stelzigen Beinen übernachteten.

Er hatte Glück gehabt, einmal in seinem Leben ein großes, unverdientes Glück. Der Himmel hatte ihn geküsst. Und er wagte sich nicht zu rühren vor Freude und Angst.

Da klingelte das Telefon. Erdogan setzte sich auf und schaute verständnislos zu, wie Erika aus der Küche kam, zum Telefon ging und abhob.

»Ja«, sagte sie, »hier wohnt Erdogan Civil. Einen Moment bitte.«

Sie legte den Hörer neben die Gabel.

»Ein Mann«, flüsterte sie, »er will dich sprechen. Ein fremder Mann, kein Schweizer.«

[101] Erdogan erhob sich und hielt sich den Hörer ans Ohr. »Ja?«

Er hörte eine ruhige, feste Männerstimme, die sagte: »Hör mal, du armes Türkenschwein. Du arbeitest doch in der Kanalisation.«

»Ja«, sagte Erdogan, und seine Hand zitterte.

»Keine Angst«, sagte die Stimme, »ich tu dir nichts an. Ich will dich bloß informieren. Ich habe eine Handvoll Diamanten verloren. Sehr schöne Ware, sehr viel Geld. Sie liegen in der Kanalisation beim Badischen...