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Kornblumenblau - Ein Fall für Milena Lukin

Christian Schünemann, Jelena Volic

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602975 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[12] 2

Milena Lukin hätte das Telefon in ihrer Handtasche gehört, wenn Vera nicht die Strickjacke aus leichter Merinowolle daraufgelegt hätte. Telefon, Handtasche, Mutter und Strickjacke befanden sich auf der Rückbank des Lada Niva, den Milena so zügig wie möglich durch den Belgrader Feierabendverkehr zu lenken versuchte. Von zügig konnte jedoch keine Rede sein. Busse, Autos und Lastwagen reihten sich stadtauswärts Stoßstange an Stoßstange. Wenn sich der Stau nicht wie durch ein Wunder hinter der Brankov-Brücke, diesem Nadelöhr, auflösen würde, schafften sie es nicht mehr rechtzeitig zum Flughafen. Die Maschine aus Hamburg sollte in dreißig Minuten landen.

»Vielleicht hätte ich ihm doch lieber ein Gulasch machen sollen.« Veras Stimme klang bekümmert. »Mit grünem Pfeffer und Stampfkartoffeln.«

Milena schaute in den Rückspiegel, blinkte und wechselte die Spur.

»Wenn du wenigstens, wie versprochen, den kräftigen Pecorino gebracht hättest«, sagte Vera. »Stattdessen kommst du mit diesem Zeug aus Ungarn.«

»Es tut mir leid! Wie oft soll ich es noch sagen?« Milena seufzte. Hätte sie doch bloß den Umweg über den großen Supermarkt gemacht. Aber nach der Krisensitzung im [13] Institut war sie spät dran gewesen und hatte den Reibekäse einfach rasch im Lädchen gegenüber besorgt, ohne darüber nachzudenken, dass natürlich die Qualität von Käse aus der Tüte in einem Missverhältnis zu den phantastischen Eierbandnudeln stand, mit deren Fabrikation Vera seit dem gestrigen Nachmittag beschäftigt war. Erstaunlich, welche Energie diese alte Dame entwickeln konnte, wenn es darum ging, dem einzigen Mann in der Familie eines seiner Lieblingsessen zuzubereiten. Stundenlang knetete sie Mehl und Eier mit warmem Wasser und einer Prise Salz, schnitt den dünn ausgerollten Teig in gleichmäßige Streifen und legte sie fein säuberlich nebeneinander zum Trocknen auf ein gestärktes weißes Tischtuch. Was für eine Aktion!

Die Brankov-Brücke lag endlich hinter ihnen, aber richtig vorwärts ging es immer noch nicht. Träge schoben sich die Blechkarossen aneinander vorbei, ohne dass sich irgendjemand einen nennenswerten Vorsprung erkämpfte. Es gab kein Schild, das auf diese kleine Ausfahrt hinwies, aber Milena kannte den Weg. Er war die letzte Möglichkeit.

Der Schleichweg führte an Strommasten entlang. Milena hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. Der Lada war zwar relativ neu und stabil und erinnerte mit seiner Kastenform und den etwas hochgestellten Rädern sogar an einen kleinen Geländewagen. Leider gehörte eine Federung für die Rückbank nicht zur Grundausstattung. Auf und nieder hüpfte die alte Dame dahinten mit den Ohrringen, die sie nur für besondere Anlässe trug, und versuchte tapfer, mit ihren schmalen Schultern den Zickzackkurs auszubalancieren, den Milena fuhr, um den größten Löchern auszuweichen. Vera beklagte sich [14] nicht. Im Gegenteil: Die Aufholjagd war ganz in ihrem Sinne.

Der Motor lief noch, da stieß Vera schon die Tür auf und eilte mit der Strickjacke im Arm in die Ankunftshalle. In wenigen Sekunden war ihr grauschwarzer Krauskopf in der Menge verschwunden. Milena griff nach hinten und angelte ihre Handtasche vom Rücksitz. Das Display ihres Telefons zeigte an: drei Anrufe in Abwesenheit.

Der Taxifahrer, der direkt neben ihr hielt, schimpfte durch sein heruntergelassenes Seitenfenster, sagte etwas von – gutwillig übersetzt – »Tomaten auf den Augen« und »Stroh im Kopf« und zeigte ihr den Vogel.

»Reg dich nicht auf!« Milena stieg aus, drehte dem Blödmann – serbischer Macho – den Rücken zu und lächelte. Adam kam durch die Schiebetür, eingepackt in die warme Strickjacke, und gestikulierte wild, während Vera seinen Rollkoffer zog. Mein Gott, der Junge ging seiner Großmutter ja schon bis zur Schulter!

Milena winkte, und Adam rannte los. Sie breitete die Arme aus, fing ihren Liebling, drückte ihn an sich, küsste ihn und strubbelte seine Haare, die ihm in hübschen Wellen tief in die Stirn und weit über den Nacken fielen. Drei Wochen hatten sie und Vera ohne ihren Sohn und Enkel zubringen müssen, hatten wie zwei Eulen in der Wohnung gehockt und gewartet – immer auf den nächsten Anruf. Hatten gierig alle Informationen aufgepickt, die er ihnen aus der Ferne hinwarf, aufgeregt jedes Körnchen sortiert, gewendet und so lange durchgekaut, bis auch der letzte Gehalt daraus gezogen war. Diese Hungerzeiten waren nun vorbei. Die Familie war wieder komplett und vereint, und Milenas Telefon klingelte.

[15] Herrgott, sie sollte sich das Ding einfach um den Hals hängen.

»Wie geht es Fiona?«, rief Adam. »Hat sie mich vermisst?« Seine hohe Stimme übertönte das Dröhnen des Busses, der sie im Vorbeifahren in eine Dieselwolke hüllte.

Milena wühlte. »Fiona geht es gut, sie vermisst dich schrecklich. Wir alle haben dich schrecklich vermisst.«

»Ist mein Basketball noch da?«

»Hallo?« Milena presste das Telefon an ein Ohr, den Finger an das andere.

»Wo steckst du?« Siniša Stojković, der Anwalt. »Ich muss dich sprechen.«

Milena ging ein paar Schritte und stellte sich hinter eine Säule, als ob es an diesem Platz leiser wäre. Zwei Frauen mit riesigen Sonnenbrillen schoben lachend einen Gepäckwagen knapp an Milenas Hacken vorbei. »Was ist denn los?«, fragte sie in den Hörer.

»Nicht am Telefon. Die Angelegenheit ist etwas…«

»Hallo?«

»Sie ist etwas heikel.« Siniša, am anderen Ende, schrie jetzt. »Wann können wir uns sehen?«

»Siniša, all deine Angelegenheiten sind heikel, und meine Zeit ist knapp. Adam ist gerade aus den Sommerferien zurück, und, stell dir vor, ich muss mich um andere heikle Dinge kümmern, zum Beispiel meine Vertragsverlängerung.«

»Herzchen, nie hast du Zeit! Aber es ist wirklich dringend.«

»Gib mir ein Stichwort.«

»Topčider. Die beiden Gardisten. Du erinnerst dich?«

»Was hast du mit der Sache zu tun?«

[16] »Morgen, vierzehn Uhr. Café ›Kleiner Prinz‹.«

Milena stopfte das Überbrückungskabel hinter den Karton mit Aktenordnern und verstaute den kleinen Koffer zwischen dem Sack Katzensand und einer Kiste Äpfel.

Sie waren noch nicht auf der Autobahn, da wurde Adam hinten auf der Rückbank von seiner Großmutter einem ersten Verhör unterzogen. Milena kannte den Fragenkatalog ihrer Mutter auswendig, noch aus der Zeit, als sie selbst klein gewesen war: Hast du gegessen? Wie ist deine Verdauung? Sind deine Ohren geputzt? War dir kalt? Hatte dein Vater eine warme Decke für dich? – all die Voraussetzungen, die für Vera erfüllt sein mussten, damit ein Menschenleben – auch in den Ferien – in Glück und Zufriedenheit gedeihen konnte.

Während Adam Rede und Antwort stand, tauchte auf der anderen Seite der Save die Festung Kalemegdan auf, der Hügel am nördlichen Ende der Altstadt, der in Stufen von hohen Mauern durchschnitten wurde. Türken und andere Völker hatten die Festung über viele Jahrhunderte errichtet, wechselnde Machthaber sie verteidigt und mit Burgen, Brunnen und Kirchen ausgebaut. Auf einem Plateau ragte der Siegesbote empor, der am ausgestreckten Arm die Friedenstaube trug und die Stelle markierte, wo Donau und Save zusammenfließen. Nicht nur Touristen, auch die Belgrader liebten diesen Ort, wo alte Männer an Tischen Schach spielten, Frauen auf den Bänken schwatzend mit Thermoskannen hantierten und Kinder unter den alten Bäumen Fangen spielten. Vera erzählte immer, Milena hätte auf Kalemegdan das Laufen gelernt, aber das erinnerte sie so auch von Adam. Dabei hatte der Junge seine ersten Schritte definitiv in der Wilmersdorfer Straße in Berlin gemacht.

[17] Ein Lastwagen schob sich an Milenas Seitenfenster vorbei, und die Festung verschwand. Über die Brankov-Brücke, eingeklemmt zwischen zwei Bussen, fuhren sie in die Altstadt hinein. Belgrad heißt auf Serbisch »die weiße Stadt«. Milena kannte hier jede Straße und jedes Haus – jedenfalls kam es ihr so vor. In den alten Büchern mit Fotos aus früheren Zeiten war freilich etwas anderes zu sehen als dieser graue, mit Reklametafeln gespickte Steinhaufen. Was Serben, Türken und Habsburger über Jahrhunderte gestaltet und gebaut hatten, wurde durch die deutschen Bombenangriffe am sechsten April 1941 weitgehend vernichtet und die Zerstörung durch die Alliierten in den ersten Monaten des Jahres 1944 vollendet. Übriggeblieben waren vereinzelte stuck- und säulenverzierte Prachtbauten aus den vergangenen Jahrhunderten, für die Nachwelt gehegt und gepflegt und umgeben von symmetrischen Blumenrabatten, zierlichen Parkbänken und vornehm plätschernden Springbrunnen. Die schönen alten Kästen waren vorzugsweise den gewählten Vertretern des serbischen Volkes und Dienern der staatlichen Bürokratie vorbehalten – oder zahlungskräftigen Hotelgästen aus dem Ausland.

Milena musste sich für eine der Adern entscheiden, die den Verkehr durch die Stadt pumpten, blinkte und ordnete sich ein. Die Fahrt ging an alten Gemäuern vorbei, über denen die Abrissbirne baumelte, ohne dass sich jemand entscheiden mochte, ihr Schicksal endgültig zu besiegeln. In der Gründer- und Sezessionszeit hatten sie den Wohlstand ihrer Besitzer widergespiegelt, die zwischen Orient und Okzident schwunghaften Handel trieben. Heute gähnte in diesen Häusern die Leere, und wenn doch jemand untergeschlüpft [18] war, dann waren es kleine Institutionen, bedauernswerte Angestellte, Musiklehrer, die im Winter mit dicken Strickjacken der Zugluft und der Feuchtigkeit trotzten, während ihre Schüler mit...