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Lesereise Normandie - Der Austernzüchter lädt zum Calvados

Stefanie Bisping

 

Verlag Picus, 2013

ISBN 9783711751683 , 132 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Im Rhythmus der Gezeiten


Seefahrergeschichten und Austerngelage: Eine Annäherung an die Küste der Normandie


Die Luft riecht nach Salz und Tang, doch vom Meer ist nichts zu sehen. Vor der Küste schwebt die Silhouette von Blainville in feinem Dunst. Jean François Mauger steht im Schlick und dreht schwere Säcke um. »Die unteren wachsen langsamer«, erklärt der Austernzüchter. Deshalb werden sie regelmäßig gewendet. Plötzlich blickt er auf. »Das Meer kommt!«, schreit er und rennt zum Traktor, der bereits in einer großen Pfütze tuckert. Und nun in einem kleinen See. Jean François klettert auf den Sitz und wendet eilig.

Das Meer läuft in der Geschwindigkeit eines zielstrebigen Spaziergängers zwischen die langen Holzbänke, auf denen vierzigtausend Säcke festgebunden sind. Wäre man zu Fuß unterwegs, bekäme man jetzt ernsthafte Schwierigkeiten. Doch der Austernzüchter wirkt unbesorgt. Einmal habe ihn das Meer wirklich erschreckt, erzählt er über das Dröhnen des Motors hinweg. Da sprang der Traktor nicht an, als das Wasser einlief. Also rannte er an Land. Das Fahrzeug sah er erst bei der nächsten Ebbe wieder: mit Algen behängt. Schnell pflügt sich der schwere Traktor nun durch das gut knietiefe Wasser Richtung Strand. Dort liegt gleich hinterm Dünenkamm die Verarbeitungsanlage.

Austernbauern sind immer in Eile. Extreme Gezeitenunterschiede – bei Ebbe weicht das Meer hier sechs Kilometer zurück – sorgen zwar für die besondere Frische der normannischen Austern. Aber sie diktieren auch einen strengen Zeitplan. Bei Ebbe sind die Austern geschlossen. Dann kann man auf den Bänken arbeiten. Wenn das Meer zurückflutet, öffnen sie sich, um Nahrung aufzunehmen. Pro Hektar, auf dem etwa sechstausend Säcke liegen, filtern Austern täglich eine Milliarde Liter Wasser. Außer Pflege und Verarbeitung spielt die Wasserqualität die größte Rolle beim Geschmack.

Dass das Meer hier recht sauber ist, ist außer den Gezeiten auch den wütenden Stürmen zu verdanken, die in Herbst und Winter an der Küste der Normandie toben. Sie haben nicht nur den Geschmack der Austern, sondern auch die Landschaft geprägt: niedrige Häuser und Kirchen mit kurzen, dicken Türmen kauern sich zwischen Hügel. Vielerorts sind sogar die Dächer aus Stein, damit sie nicht davongewirbelt werden.

Jean François Mauger bekommt häufig Besuch von Urlaubern, die in den Restaurants der normannischen Küste eine akute Austernsucht entwickelt haben oder eine chronische ausleben. Er zückt ein Taschenmesser, öffnet ein paar Austern und reicht sie den Besuchern – ohne Zitrone, ohne Soße. Sie schmecken, wie sie riechen: nach dem Meer ohne Fisch. Nur Frische.

Drei bis vier Jahre dauert es, bis eine Auster auf dem Teller eines Fischrestaurants landet. Zuvor haben die Austernfarmer in den Küstenorten Blainville-sur-Mer an der Westküste sowie Asnelles und Isigny-sur-Mer bei Bayeux und Saint-Vaast-la-Hougue im Norden sie bis zu zwanzig Mal aus dem Wasser geholt, gereinigt und sortiert und zurück auf die Austernbänke vor der Küste gebracht. Die vier berühmten Austerndörfer sind ideale Eckpfeiler einer Reise durch die Normandie. Kenner vermögen sogar geschmackliche Unterschiede zwischen den Austern wahrzunehmen, die die einzelnen Orte hervorbringen: nussig schmecken die Austern aus Saint-Vaast-la-Hougue, besonders mild sind die aus Isigny-sur-Mer – wegen des Süßwassers, das hier in die Bucht fließt und sich auf den Geschmack auswirkt. Austern aus Blainville hingegen haben eine deutliche Jodnote, schmecken besonders frisch und nach Meer.

Doch Meeresfrüchte und Miesmuscheln, Cidre und Calvados sind längst nicht die einzigen Attraktionen der Normandie. Die Geschichte der Kanalküste ist reich, ihre Zeugnisse haben ungezählte Stürme überdauert. Und obwohl sich hier immer mal wieder das Schicksal Europas entschied, verströmen Fischerdörfer und Hafenstädtchen mit ihren kargen Bars und dem vom Meer bestimmten Tagesablauf angenehm provinziellen Charme. Paris ist weit, die Welt sowieso, und beides nicht sonderlich wichtig. Das teilt sich auch Besuchern mit, und das Reisetempo wird hier ganz von selbst gemächlich.

Bayeux besitzt eine Kathedrale aus dem 11. Jahrhundert, Adelspaläste, die heute angenehme Pensionen sind, und einen gestickten Wandteppich. Er erzählt auf siebzig Metern Länge in achtundfünfzig Episoden die Geschichte der Eroberung Englands durch den Normannen William – anschaulich wie ein Comic. Die Franzosen verehren die bald nach den Geschehnissen des Jahres 1066 entstandene Handarbeit wie ein Heiligtum, englische Besucher untersuchen hier jeden Quadratmeter einer Niederlage, die manche noch tausend Jahre später als Indiz dafür auffassen, dass jenseits des Kanals in erster Linie mit Barbarei zu rechnen sei.

So erstaunlich dieser Wandteppich in seiner übersprachlichen Verständlichkeit ist (abgesehen von sparsamen lateinischen Texten, die die Bilder am oberen Rand kommentieren), so wenig eignet er sich als verlässlicher Tatsachenbericht. Denn er wurde zwar in England, nämlich in Canterbury, gefertigt; doch in Auftrag gegeben hatte ihn Odo von Conteville, ein Halbbruder Williams und Bischof von Bayeux, der ihn in seiner Kathedrale aufhängte. Insofern schien es den fleißigen Stickerinnen (oder Stickern) in Canterbury zu Recht keine gute Idee zu sein, die englische Position besonders schmuckvoll darzustellen. Dafür sieht man Bischof Odo gleich mehrmals Seite an Seite mit William kämpfen.

Nicht zuletzt, weil die Bilder neben Schlachtengetümmel auch eine Menge aus dem Alltag des 11. Jahrhunderts zeigen, hat die Unesco die Tapisserie zum Welterbe erklärt. Vor allem aber zeigt der Teppich die wichtigsten Stationen im Leben und Wirken Williams, dessen wechselnde Beinamen und Titel von »William dem Bastard« über den »Herzog der Normandie« bis zu »William dem Eroberer« und König von England eine ansehnliche Karriere spiegeln. Edward der Bekenner hatte William in Ermangelung eines Erben als Thronfolger eingesetzt. Der aber wurde von seinem Weggenossen Harold ausgebootet, der sich nach Edwards Tod zum König von England krönen ließ. Flugs begann William mit dem Bau einer Flotte und setzte über den Kanal. Dort machte er dem treulosen Harold den Garaus und trug bei der entscheidenden Schlacht in Hastings am 14. Oktober 1066 den Sieg gegen die Angelsachsen davon.

Fortan hatte England einen französischen König, bald auch eine französische Aristokratie und Oberschicht, die die angelsächsische Gesellschaft nachhaltig prägen sollten. Es sollte indessen nicht das letzte Gefecht zwischen den Nachbarn bleiben. Während des Hundertjährigen Krieges, im Jahr 1420, wurde die Normandie mit dem Fall von Rouen englisches Herrschaftsgebiet. Doch davon ahnten die Nonnen oder Mönche noch nichts, als sie in Canterbury arbeiteten. Friedlich saßen sie beieinander, schmuggelten hier eine kleine Szene aus dem bäuerlichen Alltag in die Tapisserie ein und stickten dort, in Episode fünfzehn, gar ein männliches Geschlechtsorgan in den künftigen Kirchenschmuck von Bayeux.

Heute sind auch Amerikaner in den Straßen der Altstadt von Bayeux unterwegs. Das liegt an den nahen Invasionsstränden. Sie wohnen gerne im familiären Hôtel Lion d’Or, wo schon Spencer Tracy und später Tom Hanks anlässlich filmischer Aufarbeitung des Weltkriegs logierten, und schwärmen von dort aus. Im nahen Port-en-Bessin türmen sich auf dem Fischmarkt Schalentiere und Jakobsmuscheln, Boote liegen im ebbetrockenen Hafen. Ein Pfad führt die sechzig Meter hohe Steilküste hinauf. Von den Fensterbänken kleiner Häuser aus Feldstein ergießen sich Blumenfluten.

Arromanches-les-Bains liegt am »Gold Beach«, einem der drei Strände, an denen die Briten landeten. Touristen schlendern vom Musée du Débarquement am Hafen zu den Geschäften gegenüber, wo Spielzeugpanzer verkauft werden und »D-Day-Wein«. In der Landschaft haben die Schlachten keine Schatten hinterlassen. Nur bei Ebbe, wenn das Meer riesige Sandstrände freigibt, werden die Fundamente des schwimmenden Hafens »Mulberry« sichtbar, den die Alliierten nach der Landung im Juni 1944 im Meer errichteten.

Auf dem Weg nach Saint-Vaast-la-Hougue, einem vom Baumeister des Sonnenkönigs Ludwig XIV. befestigten Hafenstädtchens, geht das schöne Wetter verloren. Unversöhnlich prasselt der Regen an die Fenster des Café au Port, wo an diesem trüben Sonntagmittag Berge von Miesmuscheln aufgetragen werden. Hafen, Austernbänke und die bei Ebbe in Fußweite vor der Küste liegende Insel Tatihou versinken hinter Regenschleiern. Das kann den ganzen Tag so gehen, sagt die Kellnerin, oder die ganze Woche. Der Einzelhandel stellt rasch Ständer mit Regenjacken vor die Türen. Die Menschen beschäftigen sich mit Einkäufen und unzeitigem Weinkonsum. Dann reißt der Himmel auf, und am Ende des Hafenbeckens erscheint ein graues Kapellchen.

Dort gedenkt Saint-Vaast seiner Verluste. Die Fischerei ist noch immer ein Beruf, der das Leben kosten kann. Tafeln erinnern an Patrick, der 1999 im Alter von siebenundzwanzig Jahren von Bord der »Liberté« ins Meer verschwand. Maurice ging im Jahr 2001 mit der »Silence II« unter. Jede Plakette erzählt die Geschichte eines jungen Menschen, der nicht vom Meer zurückkam. Nur eine Kinderzeichnung »für die toten Seeleute« zeigt einen glücklichen Matrosen im Sonnenschein.

Unterdessen ist das gute Wetter nach Saint-Vaast zurückgekehrt. Möwen schreien, das Dorf blickt auf die einlaufende Flut, die friedlicher aussieht, als es die Geschichten der Kapelle vermuten lassen. Tatihou ist aus dem Dunst aufgetaucht und wird wieder zur Insel. Unter lautem Getöse flitzt ein gezeitenunabhängiges Fortbewegungsmittel – halb Boot, halb Rennbagger – hinüber. Von...