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Hexenkind - Thriller

Sabine Thiesler

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641051365 , 576 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

  • Das andere Kind - Kriminalroman
    Zeit des Glücks - Roman
    Zeit der Hoffnung - Roman
    Der Kindersammler - Roman
    Zeit der Träume - Roman
    Verblendung - Roman
    Vergebung - Roman
    Verdammnis - Roman
  • Schneewittchen muss sterben
    Die Säulen der Erde - Roman
    Der Patient - Psychothriller
    Totengleich - Kriminalroman
    Die Tore der Welt - Roman

     

     

     

     

 

 

Toskana, 21. Oktober 2005
1
Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Blut gesehen. Er lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete sich dabei, wie er atmete. Ein – aus – ein – aus. Bloß nicht aufhören, jetzt bloß nicht schwindlig werden. Er blinzelte, drückte die Augen ganz fest zu und machte sie dann langsam wieder auf. Sein Blick war klar, mit den Augen hatte es nichts zu tun und auch nicht mit seinem Verstand. Was er sah, war eindeutig Blut, obwohl er es nicht begreifen konnte.
 
Er war an diesem Morgen bereits im Dunkeln aufgebrochen, hatte seinen Wagen in Solata unter der Kastanie in der Ortsmitte stehen lassen und war dann – begleitet vom wütenden Gekläff mehrerer Hunde – losgewandert. Jetzt war es zwanzig nach sieben, und die Sonne ging auf. In einer Viertelstunde würde sie hinter Volpaio auftauchen, aber noch war es ziemlich dunkel im dichten Wald, in dem das Haus Sarah Simonettis stand. Sie hatte den Wald nie lichten lassen, obwohl die meisten Baumstämme meterhoch, aber nicht dicker waren als ein Kinderarm. Sarah liebte die Dunkelheit und die Stille, als brauche sie ein Versteck.
Marcello ging langsam. Seit seinem Herzinfarkt vor über zwei Jahren machte er regelmäßig lange ruhige Spaziergänge, die jetzt im Herbst besonders lohnend waren, da er Pilze suchen konnte. In der linken Hand trug er den Korb, den er sorgsam mit Blättern ausgelegt hatte, und in der rechten hielt er den Stock, mit dem er den Waldboden absuchte, indem er Erika, Unterholz und Gestrüpp zur Seite schob. Bisher hatte er lediglich zwei winzige Pfifferlinge und einen mittelgroßen Steinpilz gefunden, aber der Vormittag war noch lang, und er wusste, dass erst jetzt das Gebiet begann, wo die meisten Steinpilze wuchsen.
Sarah suchte nie Pilze. »Für ein Pilzgericht, das mir noch nicht einmal besonders gut schmeckt, setze ich nicht mein Leben aufs Spiel«, hatte sie häufig gesagt. Obwohl er ihr schon im vergangenen Jahr angeboten hatte, die Pilze auf ihre Genießbarkeit hin zu prüfen, hatte sie abgelehnt. »Viel Spaß beim Suchen«, sagte sie. »Und guten Appetit. Ich halte mich da raus.«
 
Er wusste also, dass er sie nicht störte, wenn er das terrassenförmig angelegte Gebiet ums Haus herum abging, aber er bemühte sich dennoch, so leise wie möglich zu sein, um sie nicht zu erschrecken.
An diesem Morgen war irgendetwas anders. Das spürte er, als er zwischen den Bäumen und dem meterhohen Weißdorn hinunter auf das Dach ihres Hauses sah, das sich an den Berg schmiegte, ja beinah darin verschwand.
Er blieb stehen und horchte. Es war ungewöhnlich still. Kein Windhauch rauschte in den Blättern der Eichen, er strengte sich an und konzentrierte sich, aber es war noch nicht mal der Gesang oder das Rufen eines Vogels zu hören.
Er war schon Monate nicht mehr hierher gekommen. Hatte es nicht gewagt, hatte immer noch Angst. Aber in den letzten Tagen hatte er mehrmals von Sarah geträumt, und die Sehnsucht, die er jetzt zweieinhalb Jahre erfolgreich bekämpft hatte, war wieder da. Er wollte nur einmal an ihrem Haus vorbeigehen. Mehr nicht. Immerhin hatte er durch das Pilzesammeln einen Grund und eine Ausrede, falls sie sich wundern sollte. Er wusste, dass sie immer sehr früh aufstand, und wollte sie nur einmal kurz sehen. Vielleicht lud sie ihn sogar auf einen Espresso ein. Nichts weiter. Nur ein Espresso auf der kleinen Terrasse vor der Küche. Er würde auch nicht mit ihr ins Haus gehen. Es würde nichts geschehen. Nicht am frühen Morgen und nicht nach zweieinhalb Jahren, in denen er gelernt hatte, alles zu vergessen.
Vorsichtig, um nicht auszurutschen, kletterte er den steilen Hang hinunter. Sarah wird wahrscheinlich gar nicht da sein, dachte er sich, schließlich kommt sie nur ein- bis zweimal in der Woche hierher.
Die Stille machte ihn nervös. Er fröstelte und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch bis unters Kinn. Als er um die Hausecke mehr schlich als ging und sich dabei an einer knorrigen Eiche festhielt, sah er die Haustür sperrangelweit offen stehen.
»Sarah!«, rief er erst leise und dann mehrmals wesentlich lauter. »Signora Simonetti!«
Nichts regte sich. Es blieb so still wie zuvor. Er konnte sich nur schwer vorstellen, dass Sarah weggegangen und die Tür offen gelassen hatte, noch weniger konnte er sich vorstellen, dass sie bei offen stehender Tür schlief.
Marcello spürte, wie die Angst sein Herz langsam zusammenschnürte, und er überlegte, ob er einfach davonlaufen und irgendwo anders Pilze suchen sollte, aber die Sorge um Sarah hinderte ihn daran.
Er kannte das Haus. Er hatte es sich genau angesehen, um die Versicherungssumme festzusetzen, und Sarah hatte außerdem noch Fotos von jedem Zimmer nachgereicht. Sie hatte das Haus lediglich gegen Feuer versichert, alle anderen Versicherungen hatte sie abgelehnt. »Wozu?«, fragte sie. »Hier kommt niemand in den Wald, um mich oder einen alten Stuhl oder meine dicke Jacke zu klauen. Dieses Haus findet überhaupt niemand, der es nicht kennt.« Ihre Unerschrockenheit und ihr fester Glaube, dass ihr nie etwas geschehen würde, hatten ihn fasziniert. Seiner Frau und seinen Töchtern war es unmöglich, auch nur für einen kurzen Spaziergang allein in den Wald zu gehen, aber Sarah lebte hier mit einer Sorglosigkeit, die im Dorf kaum jemand verstand.
Jetzt rief er nicht mehr, sondern betrat, leise »Permesso« murmelnd, die Küche. Ihm wurde bewusst, dass er den Atem anhielt, als er sich umsah. In der Küche war nichts Ungewöhnliches. Sie war sauber und ordentlich, einige Teller und Tassen stapelten sich gespült zum Abtropfen auf einem Tablett, auf dem Tisch stand ein kleiner Strauß Buschrosen, und auf dem Herd gab es keinen einzigen noch so winzigen Fettspritzer. Das Einzigartige in der Küche war die der Tür gegenüberliegende Felswand des Berges, die eine ganze Küchenwand ausmachte und die Sarah völlig naturbelassen hatte.
Neben der Küche war ein kleiner Magazinraum, wo Sarah Haushaltsgegenstände und einige Vorräte aufbewahrte, aber auch das Magazin machte einen ähnlich ordentlichen Eindruck wie die Küche.
Marcello stellte seinen Pilzkorb neben die Spüle und stieg die leicht gewundene Treppe hoch ins obere Stockwerk. Den Stock behielt er in der Hand. Das winzige Wohnzimmer mit dem kleinen Kamin war dunkel und leer, Sarah hatte die Fensterläden geschlossen. Auf ihrem Schreibtisch lag die angefangene Zeichnung von miteinander tanzenden Bäumen im Wald. Marcello wusste, dass Sarah Kinderbücher illustrierte. Die Schreibtischlampe brannte und beleuchtete den Raum notdürftig. An der Wand lehnten weitere Blätter mit Zeichnungen in verschiedenen Formaten, die alle vermenschlichte Pflanzen und Tiere zeigten, die zusammen Feste feierten, aßen, tranken oder von paradiesischen Zuständen träumten.
Marcello hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, wie das herannahende Grollen eines schweren Sturms. Seine Hand zitterte, als er unendlich langsam die Türklinke zum Schlafzimmer niederdrückte. »Sarah«, flüsterte er, bekam aber keine Antwort.
Sarah hatte auch die Wände ihres Schlafzimmers, die aus schweren Natursteinen gemauert waren, unverputzt gelassen. Zusammen mit den alten, von Holzwürmern zerfressenen Deckenbalken gaben sie dem Raum eine fast grottenhafte Atmosphäre. Allerdings hatte sich Sarah in einem florentinischen Möbelgeschäft als Kontrast zu dem rustikalen Flair ein filigranes, golden wirkendes Messingbett bestellt, über dem stets eine weiße Spitzendecke lag. Ansonsten gab es in diesem Zimmer nur einen Sessel am Fenster, goldene Kerzenhalter und einen venezianischen Spiegel mit goldverziertem pompösem Rahmen, dem Bett genau gegenüber.
Und in ihrem goldenen Bett lag Sarah nun mit durchgeschnittener Kehle. Ihr Kopf war leicht zur Seite gekippt, und Marcello konnte erkennen, wie tief der Schnitt ging, der Sarahs Kopf beinah vollständig vom Rumpf abgetrennt hatte. Die kostbare Decke und ihr seidener, fliederfarbener Morgenmantel waren von dunkelrotem Blut durchtränkt. Der leichte Mantel klaffte weit auseinander und offenbarte ihre Nacktheit bis zum Bauchnabel. Auf dem Mattonifußboden hatte sich eine bräunlich rote Pfütze gebildet. Sarahs Blut war sogar gegen die Wand gespritzt und hatte ein faszinierendes unregelmäßiges Muster auf den buckligen, rauen Steinen hinterlassen.
Marcello ging langsam wenige Schritte ins Zimmer hinein, und erst jetzt sah er, was außerdem noch in einer Blutlache auf dem Boden lag. Die Augen von Caro, dem weißen Terrier, starrten trübe an die Decke und waren weit aus ihren Höhlen getreten. Er sah aus, als habe er in seinem letzten Moment immer noch nicht glauben können, was da gerade mit ihm geschah. Caro, der den ganzen Tag geherzt, geküsst, gestreichelt, gekrault, durch die Gegend getragen und fast rund um die Uhr mit Leckereien gefüttert wurde, erlebte zum ersten und letzten Mal eine Hand, die ihm nichts Gutes tat, sondern genau wie Frauchen die Kehle durchschnitt.
Irgendein Irrer musste in das einsame Haus im Wald eingedrungen sein und hatte Sarah und ihren Hund regelrecht abgeschlachtet.
Sarahs langes blondes Haar lag wirr auf dem Kissen und wirkte fettig. Sie sah so fremd aus, so verwahrlost. Sie wird anfangen zu riechen, dachte Marcello, oh mein Gott, bald werden die ersten Fliegen kommen und in ihre Augen und Nasenlöcher kriechen, um ihre Eier abzulegen.
Marcello spürte, wie ihm übel wurde. Fast schon automatisch überprüfte er seinen Puls. Sein Herz raste. Ich muss mich setzen, dachte er, sonst bekomme ich den nächsten Infarkt vor ihrer Leiche.
Um nicht umzufallen, tastete er sich an der Wand...