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Der Kindersammler - Roman

Sabine Thiesler

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641051372 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

  • Verblendung - Roman
    Vergebung - Roman
    Verdammnis - Roman
    Weltenträumer - Roman
    Die Geisha - Roman

     

     

     

     

 

 

1
Berlin/Neukölln, November 1986
Er war nicht auf der Jagd und hatte nicht vor, sich an diesem nebligen und ungewöhnlich kalten Novembertag sein nächstes Opfer zu suchen. Es passierte einfach, auch für ihn völlig unerwartet. Vielleicht war es schicksalhafte Fügung oder einfach nur ein dummer Zufall, dass er an diesem Morgen verschlafen hatte und anderthalb Stunden später aus dem Haus ging als gewöhnlich.
Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen, und es nieselte leicht. Alfred fröstelte und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Handschuhe, Schal oder Mütze hatte er nie dabei. Kleidung empfand er als Belastung, den schlichten grauen Pullover und die dunkelblaue Cordhose trug er das ganze Jahr über. Sie waren im Sommer zu dick und im Winter zu dünn und schützten ihn auch jetzt nicht vor dem kalten Wind, der ihm in die Mantelärmel fuhr.
Alfred lebte seit drei Jahren zurückgezogen und vollkommen unerkannt im Berliner Kiez. Er hatte keine Freunde und vermied engere Kontakte, er lehnte Zerstreuung und Unterhaltung jeglicher Art ab, ging nie ins Kino oder Theater und hatte in seiner kargen Hinterhofwohnung auch keinen Fernseher.
Obwohl er erst Anfang dreißig war, zogen sich durch sein volles, leicht gewelltes Haar bereits die ersten grauen Strähnen, was seinem markanten Gesicht einen interessanten Ausdruck verlieh. Auf den ersten Blick war er ein gut aussehender, sympathischer Mann. Seine blassblauen, glasklaren Augen fixierten sein Gegenüber stets sanft und eindringlich und signalisierten großes Interesse. In Wahrheit war eher das Gegenteil der Fall.
Nachdem er kurz überlegt hatte, bog er die nächste kleine Nebenstraße rechts ab, in Richtung Kanal. Es war wenig Betrieb um diese Zeit, die Kinder waren längst in der Schule, und wer nicht unbedingt musste, ging bei diesem Wetter nicht aus dem Haus. Eine Dönerbude, eine Kneipe, ein Bäcker, mehr gab es nicht in dieser Straße. Ein Friseur, ein Zeitungsladen und ein kleiner türkischer Gemüseladen hatten letztes Jahr Pleite gemacht, die Läden waren nicht wieder vermietet worden. Einmal in der Woche kam die Müllabfuhr, das war alles. Die alten Leute waren weggestorben, neue Familien zogen nicht hierher. Nicht in diese Gegend. Viele Wohnungen standen leer, eingeworfene Scheiben wurden nicht mehr erneuert, Tauben nisteten in verdreckten, heruntergekommenen Zimmern und Hausfluren.
In seinen Schläfen begann es dumpf zu pochen. Er wusste, dass dies der Vorbote einer Migräne sein konnte. Gestern Abend hatte er am Küchenfenster gesessen und stundenlang auf die ockergelbe, fleckige Fassade des Quergebäudes und eine graue Mauer gestarrt, die den Hinterhof vom Nachbargrundstück trennte. Der Hof war asphaltiert, irgendjemand hatte einen Blumentopf mit einem verkümmerten Gummibaum neben die Mülltonnen gestellt. Sicher, um ihn loszuwerden, und nicht, um den Hinterhof zu begrünen. Jetzt welkte diese kümmerliche Pflanze schon seit Wochen vor sich hin und war für die Mieter des Hauses die einzige Natur weit und breit.
In der einen Hand hielt er den Brief, den er immer wieder las, und in der anderen das Rotweinglas, aus dem er immer wieder trank. Seine beiden unerträglichen Schwestern, die Zwillinge Lene und Luise, teilten ihm lapidar mit, dass ihre Mutter von einer Nachbarin gefunden worden war. Tot. In ihrer Badewanne. Erst nach der Beerdigung hatten die Zwillinge beim Sichten des Nachlasses die Nummer seines Postfachs gefunden und ihn benachrichtigen können. Sie hatten die Habseligkeiten ihrer Mutter verbrannt und das Haus verkauft. Sein Einverständnis voraussetzend.
Grüße.
Natürlich mussten sie sie irgendwann finden. Er hatte schon lange damit gerechnet.
Im Oktober, als er eine Woche freigehabt und sich gelangweilt hatte, war er zu ihr gefahren. Sie lebte in einem kleinen Haus am Rande eines Dorfes in Niedersachsen. Er hatte seit drei Jahren nichts mehr von seiner Mutter Edith gehört und wollte sehen, wie es ihr ging.
Als er mit seinem weißen Honda auf den Hof fuhr und hupte, regte sich nichts. Es war totenstill. Früher hatte immer der Hund gebellt, wenn jemand kam, und seine Mutter war augenblicklich aus der Tür getreten, mit einer misstrauischen Zornesfalte auf der Stirn, da sie nie etwas Gutes vermutete, wenn unangemeldet jemand vor dem Haus stand.
Doch diesmal kam kein Laut. Nirgends rührte sich etwas. Er hatte das Gefühl, als hielte selbst der Wind einen Moment den Atem an, denn kein Blatt bewegte sich. Keine Katze schlich vorsichtig um die Hausecke.
Es hatte den ganzen Morgen geregnet, aber jetzt kam die Sonne zwischen den Wolken hervor und machte deutlich, wie schmierig und verstaubt die Fensterscheiben des Hauses waren, die seit Jahren niemand mehr geputzt hatte. Das Unkraut zwischen den Pflastersteinen, das seine Mutter immer penibel entfernt hatte, war jetzt kniehoch und überwucherte fast den gesamten Hof, in den Blumenkästen steckten die Strünke von Geranien, die schon vor mehreren Wintern vertrocknet waren.
Der Anblick seines Elternhauses erfüllte ihn mit Entsetzen. Er näherte sich langsam. Leise, um die Grabesstille nicht zu stören, und auch in Erwartung von etwas Schrecklichem.
Er ging an der Hinterseite des Stalls vorbei über ein Beet, auf dem die Brennnesseln ihm bis zur Hüfte reichten. Früher war das ihr Erdbeerbeet gewesen.
Als er um die Stallecke bog, sah er ihn. Ringo, einen Schnauzer-Schäferhund-Mischling, der seiner Mutter immer ein treuer Freund gewesen war. Seine Mutter hatte ihm ihre Zuneigung nur dadurch gezeigt, dass sie ihm abends seinen Fressnapf füllte, aber Ringo liebte sie trotzdem. Er kannte es nicht anders.
Ringo war immer noch angekettet und lag auf der Seite. Seine mageren, steifen Beine sahen aus wie überstreckt. Dort, wo einmal seine Augen gewesen waren, klafften tiefe blutverkrustete Löcher, Krähen hatte die Augen und die größten Teile seines Gehirns herausgepickt. Anschließend hatten sich Würmer in Ringos Schädel eingenistet.
Alfred beugte sich hinunter und strich über das verfilzte Fell, das sich über dem skelettartigen, völlig abgemagerten Körper spannte.
»Du bist verhungert, mein Alter«, flüsterte er. »Sie hat dich doch wahrhaftig verhungern lassen.« Alfred atmete tief durch. Er würde sich später um Ringo kümmern. Jetzt musste er erst mal ins Haus und fürchtete sich vor dem, was ihn erwartete.
Die Haustür war abgeschlossen, einen Schlüssel besaß er schon lange nicht mehr. Er klingelte lange und ausdauernd, aber nichts rührte sich. Auch auf sein Rufen antwortete niemand. Das kleine Flurfenster neben der Tür, das früher immer nur angelehnt gewesen und durch das er als Junge geklettert war, wenn er seinen Schlüssel vergessen hatte, war ebenfalls fest verschlossen. Alfred holte einen Stein, schlug das Fenster ein und stieg ins Haus. Anschließend klopfte er sich die Splitter vom Pullover, durchquerte den Flur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
Edith Heinrich saß in einem Sessel am Fenster hinter einer zugezogenen Gardine und war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ein magerer kleiner Mensch mit einer derart schmalen Silhouette, dass sie sich kaum von der Rückenlehne des Sessels abhob.
Als ihr Sohn hereinkam, rührte sie sich nicht, zuckte mit keiner Wimper und schien keineswegs überrascht. Als wäre er nur eben mal draußen gewesen, um Petersilie zu holen.
»Ich bin’s, Mama«, sagte Alfred. »Wie geht’s?«
»Blendend«, antwortete sie. Ihr Zynismus war ungebrochen, und ihr Ton war immer noch hart und kalt, obwohl ihre Stimme schwach geworden war. Ihr Blickfeld war stark eingeengt, und auch den Kopf konnte sie nur mit Mühe bewegen. So musste sie den ganzen Oberkörper drehen, um ihm hinterherzuschauen, als er durchs Zimmer ging und die dunklen Vorhänge aufzog. Tageslicht durchflutete den Raum und machte den Staub sichtbar, der wie ein dicker Brei im Zimmer hing.
»Draußen scheint die Sonne«, sagte er.
»Das ist mir egal«, erwiderte sie und schloss geblendet die Augen.
Alfred schaltete die Deckenbeleuchtung aus und öffnete die Fenster, denn im Zimmer roch es muffig wie in einem feuchten Keller, in dem Kartoffeln faulen.
Edith fing augenblicklich an zu zittern und rutschte noch tiefer in ihren Sessel. Er nahm eine klamme Decke vom Sofa und legte sie ihr über. Edith ließ es kommentarlos geschehen und sah ihn mit matten Augen an, die schon lange ihren Glanz verloren hatten.
Dann ging er in die Küche. Seine Mutter musste schon ewig nichts mehr gegessen haben, die Essensreste, die herumstanden, und auch die, die er im Kühlschrank fand, waren uralt und verschimmelt. Unter der Spüle fand er eine Plastiktüte, fegte die Essensreste hinein und ging nach draußen, um sie wegzuwerfen.
Danach öffnete er mit Mühe die schwere morsche Stalltür, die ihm fast entgegenfiel, als er sie vorsichtig aufzog. Das eine Schwein, das noch lebte, lag apathisch auf der Erde und war so mager wie seine Mutter. Er nahm ein Messer und schnitt ihm die Kehle durch. Es quiekte nur kläglich, als es sein einsames, armseliges Leben aushauchte.
Zu ernten gab es nichts. Auch der Apfelbaum, von dem er als Kind gefallen war, hatte eine merkwürdige Krankheit, alle Äpfel waren verschrumpelt und mit schwarzem Schorf bedeckt.
»Du musst ins Heim«, sagte er zu seiner Mutter. »Du kommst allein nicht mehr klar.«
»Gar nichts muss ich«, erwiderte sie.
»Aber allein verhungerst du! Du stehst ja noch nicht einmal auf und gehst in die Küche, um dir was zu essen zu holen!«
»Na und?«
»Ich kann dich doch nicht einfach hier verrecken...