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Die Tage des Zweifels - Commissario Montalbano träumt von der Liebe

Andrea Camilleri

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783838723907 , 250 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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Eins

Selten hatte er eine so schlimme Nacht erlebt. Doch kaum war er wieder eingeschlafen, ließ ihn ein fürchterlicher Donnerschlag hochschrecken, als hätte man fünf Zentimeter neben seinem Ohr eine Kanone abgefeuert. Fluchend setzte er sich im Bett auf. An Schlaf war nicht mehr zu denken, es hatte keinen Sinn, noch länger liegen zu bleiben.

Er stand auf, trat ans Fenster und sah hinaus. Draußen tobte ein ordentliches Gewitter: Gleißende Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel, die Wellen bäumten sich vier Meter hoch auf und schleuderten ihre weiße Gischt ans Ufer. Die Brandung hatte den ganzen Strand verschlungen, das Wasser kam bis unter die Veranda heran. Er schaute auf die Uhr: Es war erst sechs.

In der Küche stellte er die Espressokanne auf die Herdplatte, setzte sich und wartete, bis der Kaffee fertig war. Allmählich fiel ihm wieder ein, was er geträumt hatte. Eine elende Plage, die ihn nun schon seit ein paar Jahren quälte! Warum erinnerte er sich bloß an jeden Quatsch, den er geträumt hatte? Soweit er wusste, schleppten keineswegs alle nach dem Aufwachen ihre Träume mit sich herum. Sie schlugen die Augen auf, und alles, was ihnen im Schlaf widerfahren war, Angenehmes wie Unangenehmes, war weg. Bei ihm nicht. Und das Schlimmste dabei: Es waren problematische Träume. Sie warfen eine Menge Fragen auf, die er meistens nicht beantworten konnte. Und das nervte ihn.

Am Abend hatte er sich gut gelaunt zu Bett gelegt. Seit einer Woche gab es im Kommissariat keine besonderen Vorkommnisse, und das wollte er nutzen, um Livia mit einem Besuch in Boccadasse zu überraschen. Er löschte das Licht, kuschelte sich in seine Schlafposition und schlief fast augenblicklich ein. Und sofort begann er zu träumen.

Er betrat das Kommissariat und sagte: »Catarè, ich werde nach Boccadasse fahren.« Und Catarella antwortete: »Sag mir quando, sag mir wann. Sag mir quando quando quando.«

Fazio mischte sich ein. »Dottore, mit Verlaub, aber Sie können nicht nach Boccadasse fahren.«

»Wieso denn nicht?«

Fazio schien zu zögern.

»Wissen Sie’s nicht mehr, Dottore?«

»Was denn?«

»Dass Sie gestern früh genau um sieben Uhr fünfzehn gestorben sind?«

Er zog einen Zettel aus der Jackentasche.

»Sie sind Salvo Montalbano, Sohn von …«

»Lass diesen Personalienkram! Bin ich wirklich gestorben?! Wie das denn?«

»Sie hatten einen Schlaganfall.«

»Wo?«

»Hier im Kommissariat.«

»Und wann?«

»Dieweil Sie telefonisch am Telefon mit dem Signori e Questori telefoniert haben«, klärte Catarella ihn auf.

Dann hatte dieses Riesenrindvieh Bonetti-Alderighi ihn also derart in Rage gebracht, dass …

»Wenn Sie es sich anschauen wollen …«, sagte Fazio. »Sie sind in Ihrem Büro aufgebahrt.«

Zwischen den Bergen von Unterlagen auf seinem Schreibtisch hatte man Platz geschaffen und den offenen Sarg daraufgestellt. Er betrachtete sich. Er sah zwar nicht wie ein Toter aus, aber es bestand kein Zweifel, dass die Leiche im Sarg er selbst war.

»Habt ihr Livia verständigt?«

»Ja«, sagte Mimì Augello und trat auf ihn zu.

Er umarmte ihn fest und sagte mit tränenerstickter Stimme:

»Mein aufrichtiges Beileid.«

Ein Chor von Stimmen wiederholte:

»Aufrichtiges Beileid.«

Der Chor bestand aus Bonetti-Alderighi, dessen Kabinettschef Dottor Lattes, Jacomuzzi, Schuldirektor Burgio und zwei Sargträgern.

»Danke«, sagte er.

Da kam Dottor Pasquano herein.

»Woran bin ich denn gestorben?«, fragte ihn Montalbano.

Pasquano brauste sofort auf.

»Müssen Sie mir sogar noch als Toter auf den Senkel gehen? Warten Sie gefälligst das Ergebnis der Obduktion ab!«

»Können Sie mir denn noch gar nichts verraten?«

»So wie’s aussieht, war es ein Schlaganfall mit Todesfolge, aber es gibt da ein paar Einzelheiten, die mich nicht überzeu…«

»O nein!«, mischte sich der Polizeipräsident ein. »Dottor Montalbano kann nicht in seinem eigenen Todesfall ermitteln!«

»Warum denn nicht?«

»Das wäre nicht korrekt. Er ist persönlich zu sehr in die Sache involviert. Außerdem ist das im Reglement nicht vorgesehen. Tut mir leid. Der neue Leiter der Kripo wird die Ermittlungen führen!«

Da fiel Montalbano etwas ein, und er zog Mimì beiseite.

»Wann kommt Livia?«

Mimì machte ein betretenes Gesicht.

»Sie hat gesagt, dass sie …«

»Was?«

Mimì starrte auf seine Schuhspitzen.

»Sie hat gesagt, sie weiß es nicht.«

»Was weiß sie nicht?«

»Ob sie es schafft, zur Beerdigung zu kommen.«

Wutentbrannt lief Montalbano hinaus in den Hof, wo ein Haufen Kränze abgelegt waren und der Leichenwagen schon bereitstand, und zog sein Handy heraus.

»Pronto, Livia? Salvo hier.«

»Ciao, wie geht’s? Ach, entschuldige, ich wollte dich nicht …«

»Was soll das heißen, du weißt nicht, ob du es schaffst …«

»Salvo, hör zu. Wärst du noch am Leben, würde ich alles tun, um weiter mit dir zusammen zu sein. Ich würde dich vielleicht sogar heiraten. Na ja – in meinem Alter und nachdem ich ein Leben lang auf dich gewartet habe, was wäre mir sonst auch übrig geblieben? Aber jetzt, wo sich mir plötzlich diese einmalige Chance bietet, verstehst du doch sicher …«

Er schaltete das Handy aus und ging wieder hinein. Man hatte den Sarg geschlossen, der Trauerzug formierte sich bereits.

»Kommen Sie auch?«, fragte Bonetti-Alderighi.

»Ja, doch«, gab er zurück.

Kaum waren sie auf dem Hof angelangt, stolperte einer der Träger, und der Sarg krachte mit einem solchen Getöse auf den Boden, dass Montalbano aufwachte.

Es war ihm dann nicht gelungen, wieder einzuschlafen, zu viele Fragen zermarterten sein Hirn. Besonders eine ließ ihm keine Ruhe: Was hatte Livia bloß damit gemeint, als sie sagte, sie dürfe sich diese Chance nicht entgehen lassen? Das bedeutete doch wohl, dass sein Tod für sie eine Befreiung darstellte. Die nächste Frage ergab sich von selbst: Wie viel Wahrheit steckt in einem Traum? Im vorliegenden Fall war schon ein winziges Körnchen zu viel.

Denn um ehrlich zu sein: Livia musste von ihm nicht nur die Nase voll haben, sondern auch die Schnauze und den Kanal. Aber warum regte sich sein schlechtes Gewissen einzig und allein im Traum und brachte ihn damit um den Schlaf? Wenn er es genau bedachte, war der Umstand, dass Livia seiner Beerdigung fernbleiben wollte, keine Lappalie, sondern eine Hundsgemeinheit, egal, welche Gründe sie dafür haben mochte.

Als er vor die Tür trat, um ins Kommissariat zu fahren, sah er, dass die Ausläufer der Brandung bis auf einen halben Meter an das Haus heranrollten, so weit wie noch nie. Der Strand war verschwunden, da war nichts als Wasser.

Erst nach einer guten Viertelstunde und hundert deftigen Flüchen entschloss sich der Motor, seine Schuldigkeit zu tun, was Montalbanos Nerven, die wegen des Mistwetters ohnehin schon angegriffen waren, weiter strapazierte.    

Nach nicht einmal fünfzig Metern musste er anhalten: ein Stau, so weit das Auge reichte – oder vielmehr, so weit man durch die Windschutzscheibe erkennen konnte, denn die Scheibenwischer konnten gar nicht so schnell arbeiten, wie der Regen herunterprasselte.

Während in Richtung Vigàta alles stand, war in der Gegenrichtung nicht mal ein Moped unterwegs.

Nach zehn Minuten beschloss er, auszuscheren und umzukehren, bis zur Abzweigung nach Montereale zu fahren und einen Weg einzuschlagen, der zwar länger war, ihn aber auf jeden Fall ans Ziel bringen würde.

Aber er steckte fest, die Schnauze seines Wagens klebte an der Stoßstange des Wagens vor ihm, und das Fahrzeug hinter ihm war genauso dicht aufgefahren.

Es half nichts, er musste ausharren. Er war eingeklemmt wie eine Ölsardine in der Büchse. Aber am meisten ärgerte ihn, dass er keinen Schimmer hatte, was da eigentlich los war.

Nach weiteren zwanzig Minuten verlor er endgültig die Geduld. Er riss die Tür auf und stieg aus. Im Nu war er nass bis auf die Unterhose. Er lief bis ganz nach vorn, und jetzt sah er, was geschehen war: Das Meer hatte die Straße weggespült. Komplett. Die beiden Fahrbahnen existierten nicht mehr, an ihrer Stelle klaffte ein riesiges Loch, in dem gelbbraunes Wasser aufschäumte. Das vorderste Auto stand mit der Schnauze am Rand des Kraters. Noch dreißig Zentimeter, und es wäre hineingestürzt. Doch der Commissario erkannte sofort, dass diese Gefahr keineswegs gebannt war, denn die Straße bröckelte, wenn auch extrem langsam, immer weiter ab. Über kurz oder lang würde der Abgrund das Auto verschlingen. Im strömenden Regen konnte er nicht erkennen, wer darin saß.

Er ging näher heran und klopfte ans Fenster. Nach einer Weile wurde die Scheibe einen Spalt heruntergekurbelt. Es war eine junge Frau Anfang dreißig. Sie trug eine Brille mit Gläsern so dick wie Flaschenböden, und der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Sie war allein im Wagen.

»Sie müssen aussteigen.«

»Warum?«

»Schauen Sie doch, wenn nicht bald Hilfe kommt, wird Ihr Auto in dieses Loch rutschen.«

Sie verzog das Gesicht wie ein Kind, das im nächsten Moment losheult.

»Wo soll ich denn hin?«

»Nehmen Sie das Nötigste mit und kommen Sie in meinen Wagen.«

Sie sah ihn an, ohne eine Antwort zu geben. Montalbano begriff, dass sie ihm, einem Fremden, misstraute.

»Ich bin Polizeikommissar.«

Vielleicht war es die Art, wie er das sagte, jedenfalls schien sie nun überzeugt. Sie griff nach ihrer Reisetasche und stieg...