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Das Geheimnis des perfekten Tages

Dieter Nuhr

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783838724348 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

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07 30 Der Mensch ist zu vielen großen Taten fähig, aber was er wirklich perfekt beherrscht, ist das Liegen. Als Zweibeiner befindet er sich tagsüber im labilen Gleichgewicht. Einen Teil seiner Kraft muss er stets darauf verwenden, nicht umzufallen oder mit dem kleinen Zeh gegen den Couchtisch zu laufen. Nachts aber, wenn er schläft, gehorcht er der Schwerkraft und bildet eine plump daliegende Masse.

Im Zustand der Bewusstlosigkeit baut der Körper seine Energiereserven auf. Überschüssiger Hirnstrom wird in Träume umgesetzt. Fantasierend stelle ich fest: Ich bin blind, weil meine Augen verklebt sind. Alle Versuche, sie zu öffnen, scheitern, meine Kraft reicht nicht aus. Jemand hat mir offenbar Sekundenkleber als Eyeliner verkauft. Wieso benutze ich Eyeliner? Ich weiß es nicht. Im Traum passieren komische Dinge. Man fällt, brennt oder erblindet. Nie wieder werde ich einen Sonnenuntergang sehen können, ein lachendes Kind oder die Samstags-Sportschau. Panik!

In meiner Angst bemerke ich, dass ich an einem Abgrund stehe. Ich stürze. Im Traum wird gerne gestürzt, oft tiefe Klippen hinab. Unten brandet das Wasser bedrohlich gegen die Felsen. Ich schlage auf. Vom Aufprall geschockt bekomme ich unter Wasser keine Luft mehr, während große Tiere mit scharfen Zähnen an mir knabbern, eine lose-lose-lose-Situation.

Oft laufe ich im Traum auch nackt durch den REWE. Gott sei Dank bin ich wenigstens kein Schlafwandler. Es sollen schon Menschen aus schlimmen Albträumen erwacht sein, in denen sie ohne Kleidung im Supermarkt standen, nur um nach dem Aufwachen verdutzt festzustellen, dass sie nackt im Supermarkt standen. Sehr unangenehm.

07 31 Mein erster Gedanke im Wachzustand: War Jesus Nichtraucher? Ich bin mir nicht sicher, wie ich darauf komme, aber ich vermute, der letzte Rest meines Traumes spielte irgendwo in der Nähe von Golgatha. Gab es da irgendwo eine Raucherlounge?

Auch Winston Churchill, Helmut Schmidt und Lady Gaga haben angeblich von Kindesbeinen an auf Nikotin verzichtet, allerdings fast ausschließlich während sie schliefen, Schmidt sogar selbst dann nur widerwillig. Es macht eben den großen Charakter aus, dass er es schafft, der Sucht zu widerstehen. Er hört einfach auf mit der Qualmerei, und wenn es nur für fünf Minuten ist. Immer wieder sieht man große Geister ohne Zigarette, selten, aber immerhin! Meist suchen sie dann nach einer neuen Packung, nesteln in ihren Mänteln oder Taschen, in der Gewissheit, noch ein paar Kippen zu besitzen, die sie aber in Wirklichkeit schon vor Stunden weggequarzt haben.

Menschen sind süchtig, nach Qualm, Glücksspiel oder Nasenspray. Unser „Bewusstsein“, das eine Art innerer Herrschaft für sich in Anspruch nimmt, ist offenbar nur ein repräsentativer Herrscher, eine Art König ohne weitere Befugnisse, während die Triebe ihre Gewaltherrschaft verrichten, rauchen, Schokolade fressen und am Automaten spielen. Wie konnte sich so etwas in der Evolution durchsetzen? Keine Ahnung.

Spielsucht ist unter Weichtieren wenig verbreitet. Sind sie deshalb schlauer? Nein. Aber vielleicht besser organisiert. Tintenfische haben ein hochentwickeltes Gehirn und drei Herzen. Sie existieren seit Ende des Kambriums, sind also erheblich älter als Jesus Christus, aber ebenfalls Nichtraucher, obwohl ihnen selbst exzessives, tiefes Inhalieren kaum schaden würde. Sie haben keine Lunge, die geschädigt werden könnte, und würden selbst nach zwei Herzinfarkten noch über eine gesunde Ersatzpumpe verfügen. Sorgen sich Tintenfische um ihre Gesundheit? Wenigstens mühen sie sich nicht, einen geistigen Schein um ihr vom bloßen Überlebenswillen getriebenes Sein zu konstruieren.

Ich liege im Bett und lasse einen wirren Strom von Assoziationen über mich ergehen. Im Bottich meiner Erinnerungen steigen die Bilder der letzten Tage nach oben. Ein Foto von einem Pinscher erscheint in meinen Gedanken, darunter eine Nachricht: „Jedes Jahr treffen sich zahlreiche Menschen, um den ,hässlichsten Hund der Welt‘ zu wählen.“ Weshalb? Gibt es in der eigenen Art nicht genügend abstoßende Exemplare?

Statistisch gesehen besteht das Leben zu 98 Prozent aus Ungewissheit. Der Rest ist Stoffwechsel.

Aus Fragen werden Antworten, die neue Fragen generieren. Fakten bilden Gebirge aus Informationen: Jesus lebte nicht vegetarisch und hatte, wenn man Größe und Umfang aus mehr als 500 Gemälden alter Meister hochrechnet, einen BMI von 19, also leichtes Untergewicht. Lady Gaga dagegen trug Kleider aus Fleischlappen und hatte mit 21 einen Ruhepuls von 62. Zum Leistungssportler bringt man es damit nicht, außer beim Schach oder im Tor.

Stimmt das überhaupt? In diesen Zeiten kann man nicht mehr einfach irgendetwas erfinden. Heute trägt jeder einen Internetzugang mit sich herum, Google inklusive. Behauptungen werden heute nicht mehr einfach akzeptiert, sondern vor Ort online überprüft. Falsche Aussagen führen zur sofortigen sozialen Häme. Noch in der Kneipe wird vor versammelter Mannschaft festgestellt: Schmidt rauchte zeitweise Mentholzigaretten, oft zwei auf einmal, bei einem Ruhepuls von 198, aber sehr entspannt! Am Ende stehen alle zusammen, glotzen auf ihre Smartphones und stellen gemeinsam fest: Das Internet weiß auch nicht alles, aber immerhin hat man herausgefunden, in welcher Straße Scarlett Johansson wohnt. Auch nicht schlecht.

Ich merke, dass der gestrige Abend meine Gedanken beherrscht. Ein Treffen in der Kneipe, der übliche Verlauf. Floskelhafte Unterhaltung, dann App-Vergleich, downloaden, ausprobieren. Alle Anwesenden starren auf ihre Displays. Was wäre das Leben ohne Wasserwaage im Telefon? Wie hat man in der Urzeit gelebt ohne QR-Codescanner im Handy? Wie konnte man Bier trinken ohne Bier-App, die das iPhone zum Kölschglas werden lässt? In der Seitenansicht bildet der gelbe Pegel neigungstechnisch exakt den Horizont ab. Das virtuelle Bier ist der Schwerkraft angepasst, dank dreidimensionalem Bewegungssensor, ein Triumph der menschlichen Erfindungskraft. Es gluckert sogar. Wird es auch schal? Abwarten!

Das Leben muss so leer gewesen sein, damals in der guten alten Zeit. Kein Wunder, dass man freiwillig in den Krieg zog. Wahrscheinlich sagten sich die Menschen: „Die Erfindung des iPhones werden wir ohnehin nicht mehr erleben. Lasst uns Osteuropa überfallen.“ So nahm das Schicksal seinen Lauf. Schwarzweißbilder machen sich breit in meinem Kopf: regendurchnässte Schützengräben in Frankreich, halbvereiste Soldaten auf dem Rückweg aus Russland schleichen vorbei an jenen, die tiefgefroren am Wegesrand liegen. Die Funker funken nicht mehr. Kein Netz. Die Welt war früher ein einziges Funkloch. Entsetzlich!

Der Dritte Weltkrieg könnte irgendwann wegen einer fehlenden Flatrate verloren werden. Die westliche Welt steht kurz vor dem Sieg, da erscheint die Meldung: „Die Volumengrenze ihres Datentarifs ist erreicht. Zu Beginn des nächsten Monats steht Ihnen wieder die volle Bandbreite zur Verfügung.“ Todeskommandos wollen ihre Angriffe koordinieren, aber die MMS gehen nicht raus. Die Krieger fluchen. Dabei ist eh schon schlechte Laune. Im Display ist ein Sprung. Streifschuss. Die Partisanen werden über die Funktion „Ihr iPhone finden“ geortet und gefangen genommen und beschließen, nie mehr auf die dusseligen 3-Flats-in-einer-Angebote hereinzufallen. „Buchen Sie Ihre Flats flexibel“ hatte es geheißen. Aber wie, wenn an der Front immer wieder der Empfang abreißt? Hitler hat sich im Führerbunker vielleicht nur deshalb erschossen, weil er die Rechnung für die Auslandstelefonate seit 1939 erhalten hatte. Auch Historiker wissen nicht alles.

Während sich die Bilder vorwärtsbewegen, liege ich behütet im Warmluftraum unter meiner Daunendecke. Am Ende der Nacht gebiert der Schlaf Ungeheuer. Berlin 1945. Für viele, vor allem jüngere Menschen bedeutet diese Jahreszahl heute ähnlich viel wie die Ziffernkombination 333 (Schlacht bei Issos) oder 1789 (Uraufführung der komischen Oper „Der Schulz im Dorf oder Der verliebte Herr Doctor“ von Justin Heinrich Knecht in Biberach an der Riß). Ich aber bin ein Kind der Nachkriegszeit und habe noch schwarz-weiße Erinnerungen. Ich habe Sanostol und Caro-Kaffee getrunken. Ich will Frieden.

In der Folge: unruhiges Wälzen. Mein Weckprogramm berücksichtigt die Schlafphasen und kommt zu dem Ergebnis, dass nun der perfekte Zeitpunkt zum Aufwachen erreicht ist. Noch liege ich, aber häufiges Wenden erkennt mein Smartphone als sicheres Zeichen für das Erreichen meiner mentalen Dämmerung.

Ich liege im halbwachen Zustand da und denke darüber nach, ob der Tod auch im 21. Jahrhundert immer noch eine Sense benutzt. Oder kommt er im Morgengrauen auf einem fetten Sitzrasenmäher mit 13 Liter Tankvolumen, pendelnder Gussvorderachse, siebenfacher Schnitthöhenverstellung und elektrischer Messerkupplung? Heldenhaft durchpflügt der Sensenmann den Morgennebel! Dann röhrt sein 17,5-PS-Einspritzmotor die Nachbarschaft aus dem Bett, bevor er den Abzulebenden zerschreddert und im Grasfangkörbchen sammelt, um ihn der Ewigkeit zuzuführen. Ich fände das großartig. Ganz ehrlich! So habe ich mir meinen Tod immer vorgestellt: Wenn meine Seele den Körper verlässt, soll die Menschheit aufschrecken und sich fragen: Wo kommt der Krach her, morgens um sieben …?

Es gibt so vieles, was ich mir nicht erklären kann: Warum schellen die Zeugen Jehovas nicht mehr bei mir? Hätte ich mir beim Türöffnen etwas anziehen sollen? Körperliche Offenheit wirkt auf religiös blockierte Persönlichkeiten oft verstörend. Andererseits: Warum soll ich mir von ungefragt klingelnden Fremden vorschreiben lassen, was ich im eigenen Hause anzuziehen habe? Bin ich damals...