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Letzte Bootsfahrt - Ein Altaussee-Krimi

Herbert Dutzler

 

Verlag Haymon, 2013

ISBN 9783709975909 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

1


Da hätte Gasperlmaier nicht unbedingt dabei sein müssen. Wo er doch Begräbnisse überhaupt nicht ausstehen konnte. Schon allein der Trauermarsch löste in seinem Kehlkopf dieses seltsame Würgen aus, das ihm Tränen in die Augen trieb. Dabei hatte er die Voglreiter Friedl ja nicht einmal gut gekannt. Aber die trübseligen Mienen der Verwandten und Bekannten, die Blasmusik und das verhaltene Schluchzen seiner Mutter, die an seinem Arm hing und schon eine ganze Packung Papiertaschentücher aufgeweicht hatte, führten auch bei ihm selbst dazu, dass die Augen feucht zu glänzen anfingen.

Dabei, so dachte er bei sich, war ja die Friedl nicht unbedingt das gewesen, was man einen herzlichen Menschen nannte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie immer gekeppelt hatte, wenn er und der Voglreiter Loisl, damals einer seiner besten Freunde, beim schönsten Wetter in dessen Zimmer gehockt waren und die Köpfe in Bessy- und Mickymaus-Hefterln gesteckt hatten, anstatt, wie Loisls Mutter es für vernünftig gehalten hätte, ihren Bewegungsdrang auf der Wiese, im Wald oder im Winter am Rodelhügel auszuleben. Einmal, so erinnerte sich Gasperlmaier, war sie ihnen sogar mit dem Besen nachgerannt, nur weil sie sich einen ganzen Wecken Brot aufgeschnitten, dick mit Butter bestrichen und mit Zwiebeln belegt hatten. Die Voglreiter-Küche hatte, das musste Gasperl­maier zugeben, nach dieser Jause zwar einigermaßen ausgeschaut, weil sie anscheinend nicht daran gedacht hatten, die Zwiebelschalen und die Brotbrösel wegzuputzen und die ganze Küchenkredenz überdies mit Butter verschmiert war, aber musste man deswegen gleich so einen Aufstand machen? Immerhin hatten sie sich selbst was zu essen hergerichtet und sich nicht wie die heutigen verwöhnten Fratzen im Auto zum Hamburger-­Imbiss chauffieren lassen, damit sie dort ordentlich an ihren Speckrollen und an verfrühter Diabetes arbeiten konnten.

Jetzt war sie also tot, die Voglreiter Friedl, die zeitlebens über alles Mögliche und Unmögliche gejammert und geklagt hatte, und seine Mutter, die ja eine ihrer besten Freundinnen gewesen war, hing an seinem Arm und öffnete gerade das zweite Packerl Papier­taschentücher. Dass aber immer gerade dann, wenn Gasperlmaier so einen Pflichttermin auf dem Altausseer Friedhof wahrzunehmen hatte, ein derart grauenhaftes Wetter sein musste. Bald war Ostern, und dennoch pfiff ein eisiger Wind vom Loser herunter, dass es die Schneeflocken fast waagrecht zwischen den Gräberreihen hindurchtrieb. Gasperlmaier griff nach seinem Hut, der ihm davongeweht zu werden drohte. Zwischen dem Loisl und seiner Schwester, die vor ihnen am offenen Grab standen, konnte Gasperlmaier den Pfarrer sehen, der offenbar völlig unbeeindruckt vom Wetter ein Gebet nach dem anderen herunterratschte, während seine Soutane im Wind knatterte und sich sein schütteres, langes Haar, das er über die Glatze gelegt hatte, von derselben löste und wie ein grauer Wimpel in Richtung See hinunterflatterte. Gasperlmaier war froh, dass er seinen Schladminger angezogen hatte. Der war zwar so schwer und so steif, dass er damit nicht einmal Auto fahren konnte, aber bei einem solchen Wetter drangen weder Kälte noch Nässe durch den dichten Lodenstoff hindurch.

Endlich war es so weit, der Pfarrer trat vom Grab zurück, und der Sarg wurde in die Grube hinuntergelassen. Plötzlich gab es einen Aufschrei, einer der Männer, die an den Seilen standen, verlor den Halt auf dem schlammigen Boden, weil ein Erdbrocken unter seinen Füßen nachgegeben hatte und lautlos in der nassen Grube verschwunden war. Kurz hing der Sarg schräg im Schacht, bevor sich der Mann wieder aufrappelte und schließlich und endlich die Friedl doch sicher und wohlbehalten in ihrem Grab angekommen war.

Heulend trat Loisls Schwester ans Grab heran und warf einen Blumenstrauß und die übliche Schaufel Erde auf den Sarg hinunter. Gasperlmaier hielt nicht viel davon, Blumen in eine Grube zu werfen, die ohnehin am selben Tag noch zugeschüttet werden würde. Gleichzeitig aber erinnerte er sich daran, dass ihn seine Christine gelegentlich schalt, er nehme Gefühle oft ebenso wenig wahr, wie er sie zeige, sogar als direkt gefühllos hatte sie ihn anlässlich mancher Auseinandersetzung schon bezeichnet. Gasperlmaier war da ganz anderer Meinung, er hob sich seine Gefühle für Gelegenheiten auf, wo sie einen Sinn hatten. Wenn zum Beispiel eines seiner Kinder wieder einmal einen Pokal vom Skifahren heimbrachte, erfüllte ihn das mit Stolz, und das, so fand er, war ein angenehmes, aufheiterndes Gefühl, das er gerne auskostete. Die Skisaison, so dachte Gasperlmaier betrübt, die lag gerade in den letzten Zügen.

Der Loisl trat mit steinerner Miene an die Grube heran, mit einer einzelnen Rose in der Hand, und Gasperlmaier hatte das Gefühl, als werfe er sie ein wenig heftig, fast zornig in die Grube. Auch das Schäufelchen Erde, das er hinterherwarf, prasselte lauter auf den Sarg als das seiner Schwester. Bald waren Gasperl­maier und seine Mutter an der Reihe. Die Mutter klammerte sich nun noch fester an Gasperlmaiers Arm, als sie direkt vor der Grube standen. „Pfüat di, arme Friedl!“, schluchzte sie, als sie ihre Nelken hinunterwarf. „Hast es nicht leicht gehabt, gell?“ Gasperlmaier fragte sich, ob seine Mutter gedachte, noch länger Zwiegespräche mit der Verstorbenen zu führen, die Situation war ihm peinlich, standen doch sicher noch mehr als hundert Leute hinter ihnen, die auf gleiche Weise Abschied von der Voglreiterin nehmen wollten.

„Komm jetzt, Mama!“ Sanft versuchte Gasperlmaier, die Mutter vom Grab wegzuziehen, die zunächst ein wenig Widerstand leistete, dann aber nachgab und erst recht hemmungslos zu schluchzen begann. Eigentlich war es immer das Gleiche, ob Hochzeiten oder Todesfälle, ob es sich um nähere Verwandtschaft, Bekanntschaften oder nahezu Fremde handelte – seine Mutter heulte immer, was das Zeug hielt. Fast hatte Gasperlmaier den Verdacht, dass sie oft nur deswegen zu Be­gräbnissen ging, um ihre fast schon zwanghafte Sucht nach emotionalen Elementarereignissen zu befriedigen.

Eine Viertelstunde später trat Gasperlmaier in die gut beheizte Stube des Schneiderwirts, nahm seinen Hut ab, entledigte sich seines Schladmingers und hängte beides an einen Kleiderhaken. Dann half er seiner Mutter aus ihrem, wie er fand, viel zu dünnen schwarzen Mantel. Er war, so stellte Gasperlmaier fest, völlig durchnässt. „Mama, ich häng dir deinen Mantel zum Heizkörper da hinüber!“ „Danke!“ Gretl Gasperl­maier strahlte ihren Sohn an, nachdem ihre Tränen auf dem Weg vom Friedhof zum Leichenschmaus beim Schneiderwirt endlich versiegt waren. „Bist ein guter Bub!“ Sie trat an Gasperlmaier heran, zog die Kragenenden seines Hemdes zurecht und strich ihm über die Weste. „Ich bin kein Schulbub mehr, Mama!“ Er hasste es, wenn sie an seiner Kleidung herumnestelte, damit sie ihrer Meinung nach richtig saß. Er kam sich vor wie ein Idiot, wenn sie ihn wie ein Kleinkind behandelte, schließlich war er sechsundvierzig Jahre alt, Polizeiinspektor und hatte zwei fast erwachsene Kinder. Nicht einmal die ließen sich bei ihrer Kleidung etwas dreinreden, aber seine eigene Mutter hatte sich noch immer nicht daran gewöhnen können, dass er sich schon alleine anziehen konnte. „Sei doch nicht so empfindlich!“ Die Mutter zog ein beleidigtes Gesicht. „Ich hab’s doch nur gut gemeint!“ Den Spruch hatte Gasperlmaier auch schon allzu oft hören müssen.

Um weiteren Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, zog er für die Mutter einen Stuhl unter dem Tisch hervor und rückte ihn ihr zurecht. Sie saßen gleich bei den Verwandten, denn die Mutter war jahrzehntelang mit der Voglreiterin befreundet gewesen, seit der Schulzeit schon, und es war so üblich, dass die besten Freunde nahe bei den nächsten Verwandten saßen. Gasperlmaier schüttelte dem Loisl die Hand. Seit der gemeinsamen Schulzeit hatten sie einander mehr oder weniger aus den Augen verloren. Der Loisl lebte zwar noch in Altaussee, pendelte aber täglich zu irgendeinem Betrieb in Liezen und hatte wenig Kontakt zu den Vereinen und Stammtischen im Ort. Er hatte nach der Hauptschule die HTL besucht und war jetzt Ingenieur, erinnerte sich Gasperlmaier.

Die Kellnerin kam mit einem Tablett voller Bierseideln, und Gasperlmaier nahm sich eines davon. „Prost, Loisl!“ Der Angesprochene stieß sein Glas mit finsterer Miene gegen das Gasperlmaiers. Mit einem langen Zug leerte dieser es bis zur Hälfte. Das hatte er sich nach dem Herumstehen in der Kälte redlich verdient, fand er. „Ah!“, entfuhr es ihm, und er wischte sich über die Lippen. Die Mutter sah ihn missbilligend von der Seite her an. „Trink nicht so schnell! Das ist ja kein Stammtisch, sondern ein Leichenschmaus!“, zischte sie ihm zu. „Ja, ja!“, beschwichtigte er, während sich ein schlanker, eleganter Herr der Mutter gegenüber hinsetzte. „Kennst mich noch, Gretl?“ Die Mutter schien kurz zu überlegen, dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Du bist doch der Schwaiger Michl! Dich haben wir hier ja schon ewig nicht mehr gesehen! Gut schaust aus!“

Es stellte sich heraus, dass der Schwaiger Michl nun ein Doktor Michael Schwaiger war, der in Wien lebte und dort als pensionierter Rechtsanwalt seinen Nachfolgern – zwei Söhnen – das Leben schwer machte. Geboren und zur Schule gegangen war er allerdings in Altaussee, zusammen mit Gasperlmaiers Mutter und der eben zu Grabe getragenen Friedl Voglreiter. „Wie geht’s dir denn so? Ist das dein Sohn?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, streckte der Herr Doktor die Hand über den Tisch. „Gestatten, Schwaiger. Ein alter Freund Ihrer Mutter.“ Gasperlmaier ergriff die Hand, die die seine kraftvoll schüttelte....