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Es scheint die Sonne noch so schön

Barbara Vine

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601138 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[5] 1

Der reglose Körper lag auf einem Teppichrest in der Mitte des Jagdzimmers. Alec Chipstead sah sich suchend um, dann nahm er von einem der Haken einen Regenmantel, bedeckte den Körper damit und überlegte zu spät, daß er den Mantel nun nie wieder würde tragen können.

Er ging hinaus, um den Tierarzt zu verabschieden.

»Ich bin froh, daß es vorbei ist.«

»Seltsam, wie schmerzlich so was sein kann«, sagte der Tierarzt. »Sie werden sich sicher einen neuen Hund anschaffen?«

»Ich nehme es an, ja, aber das muß Meg entscheiden.«

Der Tierarzt nickte und stieg in seinen Wagen. Dann steckte er den Kopf zum Fenster hinaus und fragte, ob er den Kadaver wirklich nicht abholen lassen sollte. Nein, sagte Alec, schönen Dank, aber darum würde er sich selbst kümmern. Er sah dem Wagen nach, der die lange, ansteigende Straße hochfuhr – die »Trift«, wie die Leute hier in der Gegend sagten –, unter den tief hängenden Zweigen der Bäume hindurch, und dann hinter der Biegung verschwand, dort, wo der Kiefernwald begann. Der Himmel war von blassem Silberblau, die Bäume waren noch grün und hatten nur hier und da ein paar gelbe Sprenkel. Der September war feucht gewesen, und auch die Rasenflächen, die sanft bis zum Waldrand abfielen, waren grün. Am Rand des Rasens, den zur Auffahrt hin eine [6] Blumenrabatte begrenzte, lag ein zerbissener Gummiball. Wie lange war der wohl schon da? Bestimmt ein paar Monate. Mit dem Ballspielen war es für Fred schon lange vorbei gewesen. Alec steckte den Ball in die Tasche. Er ging ums Haus herum, stieg über die Steinstufen zur Terrasse hinauf und trat durch die hohe Tür ein.

Meg saß im Salon und tat, als sei sie in die Lektüre von Country Life vertieft.

»Er hat nichts gemerkt«, sagte Alec. »Ganz friedlich ist er eingeschlafen.«

»Wie dumm wir uns benehmen…«

»Ich hatte ihn auf dem Schoß, er ist eingenickt, der Tierarzt hat ihm die Spritze gegeben, und dann ist er – gestorben.«

»Wir hätten ihn nicht länger halten können, nicht mit diesem schrecklichen Veitstanz. Es war ja nicht mehr mit anzusehen, und für ihn muß es die Hölle gewesen sein.«

»Ich weiß. Wenn wir Kinder gehabt hätten, Liebes… Ich meine, Fred war nur ein Hund, und manche Leute machen so was auch bei Kindern durch… Man muß sich das mal vorstellen.«

Kummer macht zuweilen eine scharfe Zunge. »Daß Eltern den Arzt holen, um ihre kranken Kinder einschläfern zu lassen, habe ich allerdings noch nicht gehört.«

Alec sagte nichts mehr. Er ging durch die große, schön proportionierte Halle mit dem anmutig geschwungenen Treppenaufgang und unter dem breiten Bogengang hindurch zum Küchenbereich und zu dem dahinter liegenden Jagdzimmer. Sie hatten die beiden Küchenräume Zusammenlegen und hochmoderne Küchenmöbel und –geräte [7] einbauen lassen. Hier merkte man nichts davon, daß das Haus zweihundert Jahre alt war. Die Bezeichnung Jagdzimmer für den Raum, in dem der Gefrierschrank stand und in dem sie ihre Mäntel aufhängten, hatten sie von ihrem Makler übernommen. Jagdwaffen gab es dort jetzt nicht mehr, doch zu Zeiten der Berelands hatten da sicher welche gehangen, und ein alter Junker Bereland hatte in einem Windsorstuhl an einem Tisch aus massiven Kiefernbrettern gesessen und sie geputzt…

Er lüpfte eine Ecke des Regenmantels und warf einen letzten Blick auf den toten Beagle. Meg war zu ihm getreten. Rührselig dachte er – sagte es aber nicht laut –, daß die braunweiße Stirn nun endlich Ruhe vor den qualvollen Zuckungen hatte.

»Er hat es schön gehabt im Leben.«

»Ja. Wo wollen wir ihn begraben?«

»Auf der anderen Seeseite, dachte ich, in dem kleinen Forst.«

Alec hüllte den Körper in seinen Regenmantel, wickelte ihn ein wie ein Paket. Der Mantel hatte schon bessere Tage gesehen, aber er hatte ihn seinerzeit bei Aquascutum gekauft, – ein teures Leichentuch. Alec hatte das dunkle Gefühl, er sei Fred dieses letzte Liebesopfer schuldig.

Meg zog ihren Anorak an. »Ich weiß was Besseres. Warum im Kleinen Forst, wenn wir einen richtigen Tierfriedhof haben? Bitte, Alec! So lange werden da schon Haustiere begraben, es wäre mir schon lieb, wenn Fred such dort liegen könnte.«

»Warum nicht?«

[8] »Es ist dumm und sentimental, ich weiß, aber irgendwie möchte ich schon, daß er bei all den anderen ist. Bei Alexander und Pinto und Blaze. Blöd, was?«

»Komm, mir geht’s ja genauso«, sagte Alec.

Er ging hinüber in die früheren Stallungen, wo der Traktor stand und das Brennholz für den Winter gestapelt war, und kam mit einem Schubkarren und zwei Spaten zurück.

»Wir stellen eine Gedenktafel für ihn auf, was meinst du? Ich säge sie von einem Platanenstamm herunter, das ist schönes weißes Holz, du kannst sie dann beschriften.«

»Einverstanden, aber das hat ja Zeit.« Meg bückte sich nach dem Paket, zuckte im letzten Augenblick zurück, richtete sich auf und schüttelte den Kopf. Es war Alec, der den Hund in den Schubkarren legte. Sie gingen die Trift hinauf.

Zu dem Grundstück gehörten zwei Waldstücke – drei, wenn man das unterhalb des Sees mitzählte. Der Rasen vor dem Haus, in dem eine hohe schwarze Zeder stand, reichte bis an den alten, fünf oder sechs Morgen großen Laubwald, und dahinter, auf ansteigendem Gelände, lag hinter einem grasigen Waldweg der Kiefernwald, eine Pflanzung von etwas zu eng stehenden Wald- und Strandkiefern, die jetzt eine dichte aufgeforstete Fläche bildeten. Das Waldstück war größer als der Laubwald, fast doppelt so groß, und wirkte als Windschutz, denn seit der Rodung der Hecken fegten die Stürme ungehindert von den präriegleichen Feldern her über die Landstraße.

Wenn man den Kiefernwald von der Trift und von der Straße nach Nunes aus sah, wirkte er undurchdringlich. Doch an der Südseite führte eine Abzweigung des [9] Waldweges zwischen den in Reih und Glied stehenden Bäumen hindurch zu einer fast kreisförmigen Lichtung. Die Chipsteads waren erst einmal hier gewesen, auf einem sonntäglichen Erkundungsgang kurz nach dem Kauf von Haus und Grundstück. Bei zwanzig Morgen Land dauert es eine Weile, bis man sich in seinem neuen Besitz zurechtgefunden hat. Sie hatten ihre Entdeckung mit leichter Rührung, aber auch mit sanftem Spott zur Kenntnis genommen; selbst voreinander mochten sie sich ihre Sentimentalität nicht anmerken lassen.

»So etwas gibt es nur in England«, hatte Meg gesagt.

Diesmal wußten sie genau, wohin sie zu gehen hatten und was sie finden würden. Sie bogen von der Trift auf den Waldweg ein, der die beiden Waldstücke wie ein Tunnel verband und an dessen fernem Ende man wie einen Bildausschnitt rautenförmige Viehweiden, dunkler gefärbte Koppeln und einen Kirchturm sah. Dort, wo das Gras aufhörte, glitt der Fuß auf Fichtennadeln, und es roch nach Harz.

Die Lichtung war mit Gras bewachsen, das sich zu zehn, zwölf kleinen Hügeln, zu flachen Buckeln, grünen Kuppen wölbte. Die Gedenktafeln waren meist aus Holz, Eiche natürlich, sonst hätten sie nicht so lange gehalten; trotzdem waren einige umgefallen und vermodert. Die übrigen waren grün von Flechten. Dazwischen standen hier und da auch Steine – ein Schieferblock, eine Platte aus rosa Granit, ein Brocken leuchtendweißer Islandspat, auf dem der Name Alexander eingemeißelt war, dazu die Daten: 1901  1909.

Zeit und Witterung hatten jede Spur von Schrift auf den [10] Holzkreuzen getilgt. Die Inschrift auf dem rosa Granit aber war noch deutlich zu erkennen, blaze stand da, in Großbuchstaben und Antiquaschrift, und darunter:

SIE WIMMERN UND WINSELN NICHT ÜBER IHRE LAGE,

SIE LIEGEN NICHT WACH IN DER DUNKELHEIT UND WEINEN UM IHRE SÜNDEN.

NICHT EINER VON IHNEN IST WOHLANSTÄNDIG ODER UNGLÜCKLICH IN DER GANZEN WEITEN WELT.

Meg bückte sich, um die unter gelbem Moder fast völlig unkenntlichen Pinselstriche zu betrachten. »›Über welche ewigen Ströme, Pinto…‹« las sie. »›Von uns gegangen nach drei kurzen Jahren.‹ Was meinst du, ob Pinto ein Wasserspaniel war?«

»Oder ein zahmer Otter.« Alec hob Freds verhüllten Körper heraus und legte ihn ins Gras. »Wir haben so was mal als Kinder gemacht. Nur war es damals ein Karnickel. Mein Bruder und ich haben ein Karnickelbegräbnis veranstaltet.«

»Aber ihr hattet bestimmt keinen richtigen Friedhof.«

»Nein, wir mußten ein Blumenbeet nehmen.«

»Wo legen wir ihn hin?«

Alec griff zum Spaten. »Da drüben, neben Blaze, denke ich. Anscheinend war Blaze der Letzte, der hier beigesetzt worden war. 1957 steht auf dem Stein. Die späteren Besitzer haben wohl keine Haustiere mehr gehalten.«

Meg tat ein paar Schritte, betrachtete die Gräber und versuchte zu berechnen, in welcher Reihenfolge die Grabstellen belegt worden waren. Das war gar nicht so einfach, [11] weil von den hölzernen Gedenktafeln so viele umgefallen waren, aber daß Blaze das letzte Tier gewesen war, das man hier bestattet hatte, schien ziemlich eindeutig, denn hinter seinem Grab waren zwei Reihen mit je sieben Hügeln und links davon drei Hügel.

»Leg ihn rechts neben Blaze«, sagte sie.

Nachdem Alec einmal angefangen hatte, lag Meg jetzt daran, es möglichst schnell hinter sich zu haben. Das war doch alles dummes Zeug, war ihrer als einigermaßen intelligenter Menschen mittleren Alters unwürdig, war Kinderkram. Als Alec von seinem Karnickelbegräbnis erzählt hatte, war ihr das klargeworden. Dabei hätte sie...