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Glücksspiel

Felix Francis

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603002 , 448 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[5] 1

Ich stand direkt neben Herb Kovak, als er ermordet wurde. Hingerichtet wäre das treffendere Wort. Drei Schüsse aus kurzer Distanz, zwei ins Herz und einer ins Gesicht. Er war sehr wahrscheinlich tot, bevor er am Boden aufschlug, bestimmt aber, bevor der Schütze sich umdrehte und im Gedränge der Grand-National-Zuschauer verschwand.

Alles war so schnell gegangen, dass weder Herb noch ich, noch sonst jemand es irgendwie hätten verhindern können. Ich hatte überhaupt erst begriffen, was vor sich ging, als es vorbei war und Herb tot zu meinen Füßen lag. Hatte er gemerkt, dass er in Gefahr war, ehe ihn die Kugeln trafen und seinem Leben ein Ende setzten?

Wahrscheinlich nicht, und der Gedanke war mir dann doch tröstlich.

Ich hatte Herb gemocht.

Jemand anders aber offensichtlich nicht.

Mit dem Mord an Herb Kovak war der Tag gelaufen. Die Polizei übernahm mit gewohnt schwerer Hand das Ruder, brach innerhalb von dreißig Minuten eine der weltgrößten Rennsportveranstaltungen ab und nahm [6] stundenlang die Personalien von mehr als sechzigtausend frustrierten, aber geduldig anstehenden Zuschauern auf.

»Na, Sie haben doch wohl sein Gesicht gesehen!«

Ein genervter Kriminalinspektor saß mir in einem der zu Krisenzentren umfunktionierten Rennbahnrestaurants gegenüber.

»Nein«, antwortete ich. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich dem Mann nicht ins Gesicht geschaut habe.«

Noch einmal dachte ich an die wenigen entscheidenden Sekunden zurück, und das Einzige, was ich deutlich vor mir sah, war die Pistole.

»Es war also ein Mann?«, fragte der Inspektor.

»Ich denke schon.«

»Schwarz oder weiß?«

»Die Pistole war schwarz«, sagte ich. »Mit Schalldämpfer.« Besonders hilfreich hörte sich das auch für mich nicht an.

»Mr.… äh…«, der Inspektor blickte auf seine Notizen, »…Foxton. Sonst können Sie uns nichts über den Mörder sagen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, es ging alles so schnell.«

Er begann, in eine andere Richtung zu fragen. »Nun, wie gut kannten Sie Mr. Kovak?«

»Ziemlich gut. Wir sind Kollegen. Seit fünf Jahren etwa. Befreundete Kollegen, würde ich sagen.« Ich schwieg. »Waren wir jedenfalls.«

Schwer zu glauben, dass er tot war.

[7] »Welche Branche?«

»Finanzberatung«, sagte ich. »Unabhängige Finanzberater.«

Man sah förmlich, wie er gelangweilt abschaltete.

»So aufregend wie ein Ritt im Grand National ist es zwar nicht«, sagte ich, »aber es lässt sich aushalten.«

Er sah mich an. »Sind Sie denn schon mal im Grand National geritten?« Sein Sarkasmus war nicht zu überhören und sein Schmunzeln nicht zu übersehen.

»Ja, bin ich«, sagte ich. »Zwei Mal.«

Das Lächeln verschwand. »Oh«, machte er.

O ja, dachte ich. »Und beim zweiten Mal hab ich gesiegt.«

Von meinem früheren Leben zu reden oder gar damit anzugeben war nicht meine Art. Ich hätte mich nicht dazu hinreißen lassen sollen, aber die Einstellung des Kriminalbeamten zu mir und auch zu meinem toten Kollegen ärgerte mich ein wenig.

Er blickte wieder auf seine Notizen.

»Foxton«, las er. Er sah mich an. »Doch nicht etwa Foxy Foxton?«

»Doch«, sagte ich, auch wenn ich meinen richtigen Namen Nicholas dem Spitznamen »Foxy« längst vorzog, weil er sich in der Geschäftswelt doch seriöser ausnahm.

»So, so«, meinte er. »Sie haben mir so einiges an Wettgewinnen eingebracht.«

Ich lächelte ihn an. Ein paar Pfund Verluste sicher auch, aber das behielt ich für mich.

[8] »Heute reiten Sie nicht?«

»Nein. Schon lange nicht mehr.«

Lag mein letztes Rennen wirklich acht Jahre zurück? Einerseits schien es erst gestern gewesen zu sein, andererseits vor einer Ewigkeit.

Der Kriminalbeamte machte sich eine neue Notiz.

»Und jetzt sind Sie Finanzberater?«

»Ja.«

»Schon ein Abstieg, was?«

Immer noch besser, als bei der Kripo zu sein, wollte ich antworten, hielt Schweigen dann aber doch für klüger. Irgendwie gab ich ihm sogar recht. Nach den Höhenflügen über die Hindernisse in Aintree mit zehn Zentner Pferd zwischen den Beinen glich mein ganzes Leben einem Abstieg.

»Wen beraten Sie?«, fragte er.

»Jeden, der mich bezahlt«, meinte ich etwas übermütig.

»Und Mr. Kovak?«

»Dito. Wir sind bei einer unabhängigen Finanzberatung in der City.«

»Hier in Liverpool?«

»Nein«, sagte ich. »In London.«

»Wie heißt die Firma?«

»Lyall & Black. Wir sitzen in der Lombard Street.«

Er notierte es.

»Können Sie sich vorstellen, warum jemand Mr. Kovak umgebracht hat?«

Das fragte ich mich seit zwei Stunden immer wieder.

»Nein«, sagte ich. »Überhaupt nicht. Er war allseits [9] beliebt. Immer fröhlich und guter Dinge. Er hat jede Party in Schwung gehalten.«

»Wie lange kannten Sie ihn noch mal?«

»Fünf Jahre. Wir haben zeitgleich bei der Firma angefangen.«

»Wie ich höre, war er Amerikaner.«

»Ja«, sagte ich. »Er kam aus Louisville in Kentucky. Jedes Jahr ist er ein paarmal in die Staaten geflogen.«

Auch das schrieb der Inspektor auf.

»War er verheiratet?«

»Nein.«

»Freundin?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Hatten Sie eine schwule Beziehung mit ihm?«, fragte der Inspektor ausdruckslos, die Nase noch im Notizbuch.

»Nein«, antwortete ich genauso ausdruckslos.

»Das finden wir nämlich heraus«, sagte er aufblickend.

»Da gibt es nichts herauszufinden. Mr. Kovak und ich waren Kollegen, aber ich lebe mit meiner Freundin zusammen.«

»Wo?«

»In Finchley, Nordlondon.«

Ich nannte ihm die vollständige Adresse, und er notierte sie.

»Hatte Mr. Kovak mit jemand anderem eine schwule Beziehung?«

»Wie kommen Sie darauf, dass er schwul war?«, fragte ich.

[10] »Keine Frau. Keine Freundin. Was soll ich da sonst denken?«

»Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass Herb schwul war. Ganz im Gegenteil.«

»Wieso?« Der Kriminalbeamte beugte sich gespannt vor.

Ich dachte an Konferenzen und die wenigen anderen Gelegenheiten zurück, bei denen Herb und ich im selben Hotel übernachtet hatten. Er hatte mir nie Avancen gemacht, gelegentlich aber einen weiblichen Gast angebaggert und beim Frühstück dann mit seiner Eroberung geprahlt. Ich hatte ihn zwar nie in einer eindeutigen Situation mit einer Frau erlebt, mit einem Mann aber auch nicht.

»Ich weiß es einfach«, sagte ich lahm.

»Mhm«, meinte der Inspektor, offensichtlich nicht überzeugt, und machte sich eine weitere Notiz.

Wusste ich es denn wirklich? Und spielte das eine Rolle?

»Was tut das überhaupt zur Sache?«, fragte ich.

»Hinter Mord stecken oft sexuelle Motive«, antwortete der Inspektor. »Bis wir klarer sehen, müssen wir in alle Richtungen ermitteln.«

Es war schon fast dunkel, als ich endlich die Rennbahn verlassen durfte, und es hatte angefangen zu regnen. Der Bus zum weit entfernten Parkplatz fuhr längst nicht mehr, und ich kam nass, durchfroren und restlos bedient bei meinem Mercedes an. Statt gleich loszufahren, ließ ich mir aber erst noch einmal die Ereignisse des Tages durch den Kopf gehen.

[11] Früh um acht hatte ich Herb zu Hause am Seymour Way in Hendon abgeholt, und wir hatten uns gutgelaunt auf den Weg nach Liverpool gemacht. Für Herb war es der erste Grand-National-Besuch, und er war ungewöhnlich aufgeregt deswegen.

Er war im Schatten der berühmten Zwillingstürme der Rennbahn Churchill Downs aufgewachsen, Austragungsort des Kentucky Derby und Wiege des amerikanischen Galopprennsports, meinte dazu aber immer nur, dass Pferdewetten ihn um seine Kindheit gebracht hätten.

Ich hatte ihn schon öfter gefragt, ob er mit zum Pferderennen kommen wolle, und stets zu hören bekommen, er verbinde zu schmerzliche Erinnerungen damit. Auf der Fahrt heute war davon allerdings nichts zu spüren gewesen; wir hatten uns angeregt über die Arbeit, unser Leben und unsere Zukunftshoffnungen und -ängste unterhalten.

Wir ahnten ja nicht, wie wenig von Herbs Zukunft noch übrig war.

Er und ich waren in den vergangenen fünf Jahren immer gut miteinander ausgekommen, aber nur so von Kollege zu Kollege. Erst heute hatte es so ausgesehen, als könnte eine tiefere Freundschaft daraus entstehen. Und jetzt blieb es dabei.

Ich saß im Wagen und trauerte um meinen neugewonnenen, so schnell wieder verlorenen Freund. Dass ihn jemand umgebracht hatte, konnte ich mir noch immer nicht erklären.

Die Rückfahrt nach Finchley zog sich endlos hin. [12] Auf der M6 nördlich von Birmingham gab es acht Kilometer Stau infolge eines Unfalls. So hieß es im Radio zwischen den zahllosen Nachrichtenschnipseln zum Mord an Herb und dem Abbruch des Grand National. Wobei Herb natürlich nicht mit Namen genannt wurde. »Ein Mann«, sagten sie immer. Ich nahm an, die Polizei hielt den Namen zurück, bis seine nächsten Angehörigen verständigt waren. Aber wer waren seine Angehörigen? Und wie würde die Polizei sie finden? Zum Glück nicht mein Problem, dachte ich.

Direkt südlich von Stoke erreichte ich den Stau, eine Unmenge roter Bremslichter, die vor mir in der Dunkelheit leuchteten.

Normalerweise habe ich wenig Geduld hinter dem Steuer. »Einmal Rennsport, immer Rennsport«, das könnte auf mich...