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Laßt die Bären los!

John Irving

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601268 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[11] Geregelte Kost in Wien

Ich konnte ihn jeden Mittag treffen, er saß auf einer Bank im Rathauspark mit einer kleinen, dicken Tüte Gewächshausradieschen im Schoß und einer Bierflasche in der Hand. Er brachte immer seinen eigenen Salzstreuer mit; er muß eine ganze Menge davon gehabt haben, denn ich kann mich an keinen speziellen erinnern.

Es waren allerdings auch nie besonders originelle Salzstreuer, und einmal warf er sogar einen weg; er wickelte ihn einfach in die leere Radieschentüte und schmiß ihn in einen der Abfallkörbe des Parks.

Jeden Mittag und immer dieselbe Bank –, die splitterfreieste, in der Ecke des Parks, die der Universität am nächsten lag. Manchmal hatte er ein Notizbuch dabei, immer jedoch die Entenjägerjacke aus Kord mit den seitlichen Schubtaschen und der großen Schlitztasche hinten. Die Radieschen, die Bierflasche, ein Salzstreuer und gelegentlich ein Notizbuch –, alles aus der langen, ausgebeulten Schlitztasche. Beim Gehen hatte er die Hände frei. Der Tabak und die Pfeifen kamen in die seitlichen Schubtaschen der Jacke; er besaß mindestens drei verschiedene Pfeifen.

Ich hielt ihn für einen Mitstudenten, obwohl ich ihn noch in keinem der Universitätsgebäude gesehen hatte. Nur im Rathauspark, an jedem Mittag des neuen Frühlings. Während er aß, saß ich oft auf der Bank gegenüber. Ich las dann meine Zeitung, und es war ein prima Platz, um die Mädchen zu beobachten, die den Weg entlangkamen; man konnte ihnen auf die blassen Winterknie gucken – den hartknochigen, beblusten Mädchen in den [12] durchscheinenden Seidenstrümpfen. Doch er beachtete sie nicht; er hockte bloß wachsam wie ein Eichhörnchen über der Radieschentüte. Durch die Banklatten warf ihm die Sonne Zebrastreifen in den Schoß.

Es dauerte über eine Woche, bevor mir eine weitere seiner Gewohnheiten auffiel. Er kritzelte auf der Radieschentüte herum und stopfte sich dauernd kleine Tütenschnipsel in die Taschen, häufiger jedoch schrieb er in das Notizbuch.

Eines Tages tat er folgendes: Ich sah, wie er eine kleine Notiz auf einem Tütenschnipsel einsteckte, von der Bank wegging und ein kurzes Stück den Weg hinunter beschloß, nochmal einen Blick daraufzuwerfen. Er kramte den Fetzen hervor und las. Dann warf er ihn weg, und ich las dies:

Das fanatische Beibehalten

guter Gewohnheiten ist notwendig.

Später, bei der Lektüre seines berühmten Notizbuchs – seiner Dichtung, wie er es nannte – merkte ich, daß diese Notiz nicht restlos verworfen worden war. Er hatte sie einfach ein bißchen aufpoliert:

Gute Gewohnheiten

lohnen den Fanatismus.

Doch damals im Rathauspark, mit dem kleinen Fetzen von der Radieschentüte in der Hand, konnte ich nicht ahnen, daß er ein Dichter und Aphoristiker war; ich dachte nur, es müßte interessant sein, diesen Burschen kennenzulernen.

[13] Harte Zeiten

In der Josefsgasse hinter dem Parlament gibt es einen Laden, der für seinen verdächtig-raschen Umschlag von Gebrauchtmotorrädern bekannt ist. Die Entdeckung dieses Ladens habe ich Dr. Ficht zu verdanken. Bei ihm war ich gerade durchs Examen gerasselt, und das machte mir Laune, meine mittägliche Routine im Rathauspark abzuwandeln.

Ich marschierte durch eine Reihe kleiner Torbögen voller Modergerüche, vorbei an Kellergeschäften mit schimmligen Klamotten und kam in ein Viertel mit Reparaturwerkstätten, Reifengeschäften und Autoersatzteillagern, wo verschmierte Männer in Overalls herumpolterten und Zeug auf den Bürgersteig hinausrollten. Ich stand plötzlich davor, ein schmutziges Schaufenster mit dem Pappschild FABER in einem Winkel der Glasscheibe; das war alles an Reklame, abgesehen von dem Krach, der aus einem offenen Türeingang schäumte. Schwaden, dunkel wie Gewitterwolken, eine losknatternde Serie prasselnder Hallschüsse, und durch das Schaufenster konnte ich die beiden Mechaniker erkennen, die zwei Motorräder auf Touren brachten; auf der Stellage beim Fenster standen noch mehr Motorräder, doch die glänzten stumm vor sich hin. Auf dem Zementboden beim Eingang verschwammen in Auspuffgasen diverse Werkzeuge und Tankverschlüsse – Speichen und Felgen, Schutzbleche und Kabel – und die beiden konzentriert über ihre Maschinen gebeugten Mechaniker; sie drehten an den Gashebeln und wirkten dabei so ernst und hellhörig wie Musiker beim Stimmen für ein Konzert. Ich inhalierte vom Türeingang her.

Von drinnen musterte mich ein grauer Mann mit breiten, öligen Revers; das Matteste an seinem Anzug waren die Knöpfe. Neben ihm beim Eingang lehnte ein großes [14] Kettenrad – ein herabgefallener, gezähnter Mond, der so dicht voll Schmiere klebte, daß er Licht schluckte und mich anglühte.

»Herr Faber in eigener Person«, sagte der Mann und piekste sich den Daumen in die Brust. Und er bugsierte mich aus dem Eingang und wieder ein Stück die Straße hinunter. Als wir dem Lärm entronnen waren, studierte er mich mit einem winzigen, goldgekrönten Lächeln.

»Ah!« sagte er. »An der Universität?«

»So Gott will«, sagte ich, »aber kaum wahrscheinlich.«

»Harte Zeiten, hm?« sagte Herr Faber. »Welche Art Motorrad schwebt Ihnen denn vor?«

»Mir schwebt gar nichts vor«, erklärte ich ihm.

»Oh«, machte Faber, »Entscheidungen sind nie leicht.«

»Geradezu niederschmetternd«, sagte ich.

»Wem sagen Sie das?« meinte er. »Manche Maschinen sind wie Tiere unter einem, wirklich – echte Bestien! Und genau das schwebt einigen Leuten vor. Genau darauf sind sie aus!«

»Mir wird schon schwindlig, wenn ich bloß daran denke«, sagte ich.

»Ganz recht, ganz recht«, sagte Herr Faber. »Ich verstehe absolut, was Sie meinen. Sie sollten sich mit Herrn Javotnik unterhalten. Er ist Student – so wie Sie! Und er wird gleich von der Mittagspause zurückkommen. Herr Javotnik ist ein wahres Wunder an Entscheidungshilfe. Ein Virtuose der Entschlußfindung!«

»Erstaunlich«, sagte ich.

»Und mir Wonne und Trost«, sagte er. »Sie werden sehen.« Herr Faber legte den schlüpfrigen Kopf schief und lauschte verliebt dem brrt, brrt, brrt der Motorräder drinnen.

[15] Die Bestie unter mir

Ich erkannte Herrn Javotnik an seiner Entenjägerjacke aus Kord mit den aus den seitlichen Schubtaschen ragenden Pfeifen. Er wirkte wie ein junger Mann, der von einem Mittagessen kam, das ihm einen salzigen und brennenden Mund beschert hatte.

»Ah!« sagte Herr Faber und glitt zwei kleine Schritte zur Seite, so als würde er uns etwas vortanzen. »Herr Javotnik«, sagte er, »dieser junge Mann muß eine Entscheidung treffen.«

»Ach so«, sagte Javotnik, »– deswegen warst du wohl nicht im Park?«

»Wie! Was?« quiekte Herr Faber. »Sie kennen sich?«

»Sehr gut«, meinte Javotnik. »Sehr gut, kann man wohl sagen. Ich bin sicher, Herr Faber, dies wird eine ganz persönliche Entscheidung. Würden Sie uns bitte allein lassen.«

»Aber ja doch«, sagte Faber. »Schon gut, schon gut« – und er wand sich davon und kehrte zu den Abgasen in seinem Türeingang zurück.

»Klarer Fall von Tölpel«, sagte Javotnik. »Du hast doch nicht vor, etwas zu kaufen, oder?«

»Nein«, sagte ich. »Ich kam bloß zufällig vorbei.«

»War komisch, dich nicht im Park zu sehen.«

»Ich mache eben harte Zeiten durch«, erzählte ich ihm.

»Bei wem bist du durchgerasselt?«

»Bei Ficht.«

»Tja, Ficht. Über den kann ich dir was flüstern. Der hat Mundfäule, benutzt zwischen seinen Vorlesungen immer eine kleine Bürste – schrubbt sich mit irgendso’ner Sülze aus einem braunen Fläschchen das Zahnfleisch. Wo der hinhaucht, macht das Unkraut schlapp. Der hat selber harte Zeiten.«

»Schön zu wissen«, sagte ich.

[16] »Aber Motorräder sind wohl nicht dein Fall?« sagte er. »Mein Fall wäre es durchaus, mich einfach auf eins draufzuschwingen und aus dieser Stadt abzuhauen. Wien ist wirklich kein Ort für den Frühling. Aber mehr als ein halbes von denen da drinnen kann ich mir nicht leisten.«

»Ich auch nicht«, sagte ich.

»Im Ernst?« meinte er. »Wie heißt du?«

»Graff«, sagte ich. »Hannes Graff.«

»Also, Graff, falls du dich mit dem Gedanken an eine Spritztour trägst, da drin steht ein besonders feines Motorrad.«

»Naja«, sagte ich, »ich kann mir eben nur ein halbes leisten, und du bist scheint’s an einen Job gebunden.«

»Ich bin nie irgendwo angebunden«, sagte Javotnik.

»Vielleicht ist es dir aber schon zur Gewohnheit geworden«, erklärte ich ihm. »Und Gewohnheiten soll man bekanntlich nicht verachten.« Und er kippelte auf den Hacken, zog eine Pfeife aus der Jacke und klapperte damit an seinen Zähnen herum.

»Eine gute Eskapade laß ich mir allemal gefallen«, sagte er. »Ich heiße Siggi. Siegfried Javotnik.«

Und obwohl er sich damals nicht notierte, übertrug er diesen Einfall später doch in sein Notizbuch, unter der revidierten Zeile über Gewohnheiten und Fanatismus – und auch diese neue Maxime war umformuliert:

Vom echten Trieb lasse man selig sich leiten!

Doch an jenem Nachmittag auf dem Bürgersteig hatte er vielleicht weder sein Notizbuch noch einen Schnipsel der Radieschentüte dabei, und er muß wohl Herrn Fabers Drängen gespürt haben, der uns so bang belauerte und dessen Kopf wie eine Schlangenzunge aus der versmogten Werkstatt...