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Mein Sommer nebenan

Huntley Fitzpatrick

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2013

ISBN 9783641102678 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

Erstes Kapitel

Die Garretts waren für uns von Anfang an tabu.

Aber das ist nicht der Grund, warum sie eine wichtige Rolle spielten.

Als ihr verbeultes Auto an jenem Tag vor zehn Jahren zusammen mit einem Umzugswagen vor dem Nachbarhaus hielt, standen wir gerade im Vorgarten.

»Oh nein.« Mom ließ seufzend die Hände sinken. »Ich hatte so sehr gehofft, das würde uns erspart bleiben.«

»Was denn?«, rief meine ältere Schwester Tracy, die im Blumenbeet neben der Einfahrt hockte, über die Schulter. Sie war damals acht und pflanzte gerade eifrig Narzissenzwiebeln ein, wie Mom es uns morgens aufgetragen hatte. Neugierig sprang sie auf, lief zu dem Lattenzaun, der unsere Grundstücke trennte, und spähte auf Zehenspitzen zu den Neuankömmlingen rüber. Ich presste mein Gesicht zwischen zwei der Latten und beobachtete staunend, wie nacheinander zwei Erwachsene und fünf Kinder aus dem winzigen Wagen kletterten. Die Szene erinnerte mich an eine dieser Clownsnummern im Zirkus.

»Das da.« Mom deutete mit der Pflanzschaufel auf das Auto, während sie sich mit der anderen Hand ihre silberblonden Haare aus dem Gesicht strich. »Der Fluch jeder guten Wohngegend. Eine chaotische Großfamilie, die nie ihren Rasen mäht, die Blumenbeete verkommen lässt, wenn sie überhaupt welche anlegt, und deren Kinder überall Spielsachen herumliegen lassen. So etwas kann den Wert der Immobilien im gesamten Viertel herabsetzen. Und ausgerechnet so eine Familie muss neben uns einziehen. Du hast die Blumenzwiebel falsch herum in die Erde gesetzt, Samantha.«

Ich drehte die Zwiebel schnell um und robbte dann auf Knien wieder zum Zaun, ohne auch nur eine Sekunde den Vater der Familie aus den Augen zu lassen, der gerade ein Baby aus dem Wagen hob, während gleichzeitig ein Kleinkind mit zerzausten Locken auf seinen Rücken kletterte. »Die sehen aber nett aus«, sagte ich.

Ich weiß noch, wie es daraufhin still wurde und ich zu meiner Mutter aufschaute.

Sie sah mich kopfschüttelnd an. »Ob sie nett sind oder nicht, ist nicht die Frage, Samantha. Du bist sieben und damit alt genug, um zu verstehen, worum es geht. Fünf Kinder. Grundgütiger. Genau wie in der Familie deines Vaters. Das ist abartig.« Sie schüttelte wieder den Kopf und verdrehte die Augen.

Ich rückte näher an Tracy heran und schabte mit dem Daumennagel einen weißen Lacksplitter von einer der Zaunlatten. Meine Schwester warf mir den warnenden Blick zu, mit dem sie mir sonst immer zu verstehen gab, dass sie nicht gestört werden wollte, wenn sie gerade vor dem Fernseher saß und ich reinkam, um ihr eine Frage zu stellen.

»Der da ist süß«, sagte sie und spähte wieder über den Zaun. Ich folgte ihrem Blick und sah, wie ein älterer Junge, der einen Baseballhandschuh trug, hinten ausstieg und sich anschließend noch einmal umdrehte, um einen Karton mit einem Helm, einem Schläger und anderen Sportsachen von der Ablage zu nehmen.

Schon damals verdrängte oder vergaß Tracy gern, wie sehr unsere Mom damit haderte, alleinerziehend zu sein und keinen Partner zu haben. Unser Vater hatte uns ohne ein Abschiedswort verlassen und Mom hochschwanger und mit einer einjährigen Tochter sitzen gelassen. Sie blieb mit einem Berg enttäuschter Hoffnungen und – zum Glück – dem ererbten Vermögen ihrer Eltern zurück.

Wie die nächsten Jahre zeigten, waren unsere neuen Nachbarn genau so, wie Mom es vorhergesagt hatte. Die Garretts mähten ihren Rasen nur sporadisch, bestenfalls. Die Lichterketten von Weihnachten blieben bis Ostern hängen. Der Garten hinter ihrem Haus wurde zu einem Kinderspielplatz mit Pool, Trampolin, Schaukel und Klettergerüst umfunktioniert. In regelmäßigen Abständen machte Mrs Garrett sich die Mühe, ein paar Blumen zu pflanzen – Springkraut im Juni, Chrysanthemen im September –, nur um sie anschließend wieder verkümmern zu lassen, da sie Wichtigeres zu tun hatte, zum Beispiel sich um ihre fünf Kinder zu kümmern. Im Laufe der Zeit wurden acht daraus. Jedes von ihnen kam mit ungefähr drei Jahren Abstand zu seinen Geschwistern.

»Mein kritischer Moment«, hörte ich Mrs Garrett eines Tages im Supermarkt zu Mrs Mason sagen, die gerade eine Bemerkung über ihren wachsenden Bauch gemacht hatte, »kommt mit einundzwanzig Monaten. Das ist der Zeitpunkt, wo sie plötzlich keine Babys mehr sind. Und ich liebe Babys nun mal über alles.«

Mrs Mason hatte die Brauen hochgezogen und gelächelt, sich dann aber mit zusammengekniffenen Lippen kopfschüttelnd abgewendet.

Mrs Garrett, die mit sich und ihrer chaotischen Familie jedoch offenbar völlig im Reinen war, ließ sich davon nicht stören. Als ich siebzehn wurde, waren es fünf Jungs und drei Mädchen.

Joel, Alice, Jase, Andy, Duff, Harry, George und Patsy.

Seit die Garretts vor zehn Jahren nebenan eingezogen waren, stieß Mom fast jedes Mal, wenn sie aus einem der dem Nachbarhaus zugewandten Fenster schaute, ein missbilligendes Seufzen aus. Zu viele Kinder auf dem Trampolin. Fahrräder, die achtlos mitten auf dem Rasen fallen gelassen worden waren. Schon wieder ein pinkfarbener oder blauer Luftballon, der am Briefkasten festgebunden fröhlich im Wind tanzte. Lärmende Basketballspiele. Laute Radiomusik, während Alice und ihre Freundinnen sich sonnten. Wasserschlachten mit dem Gartenschlauch, wenn die älteren Jungs in der Einfahrt den Wagen wuschen. Und wenn es nicht das war, dann war es Mrs Garrett, die auf den Stufen der Vorderveranda ihr neuestes Baby stillte oder vor aller Welt auf dem Schoß von Mr Garrett saß.

»So was gehört sich nicht«, sagte Mom.

»Es verstößt nicht gegen das Gesetz«, erwiderte darauf Tracy, die Anwältin werden wollte und neben Mom am Küchenfenster stand. Sie schleuderte ihre weißblonden Haare nach hinten. »Heutzutage ist es vollkommen legal, in der Öffentlichkeit zu stillen, erst recht auf seiner eigenen Veranda.«

»Aber wozu muss man überhaupt stillen, wenn es doch Muttermilchersatz und Fläschchen gibt? Und wenn man schon darauf besteht, kann man es doch wenigstens im Haus machen.«

»Sie passt dabei gleichzeitig auf ihre anderen Kinder auf, Mom. Das ist ihre Pflicht«, entgegnete ich bei solchen Gelegenheiten manchmal und stellte mich neben Tracy.

Darauf schüttelte Mom jedes Mal seufzend den Kopf und holte aus der Abstellkammer den Staubsauger, der für sie so eine Art Valiumersatz war. Das Schlaflied meiner Kindheit war das Geräusch der Düse, mit der Mom perfekt symmetrische Linien in unseren beigen Wohnzimmerteppich saugte. Die Linien schienen irgendwie wichtig für sie zu sein, so unerlässlich, dass sie sogar oft zu saugen begann, während Tracy und ich noch frühstückten, und uns anschließend langsam zur Tür folgte, wo wir unsere Jacken anzogen und die Rucksäcke über die Schulter hängten. Sie eliminierte unsere und ihre eigenen Fußspuren, bis wir draußen waren. Danach deponierte sie den Staubsauger für gewöhnlich in Türnähe, damit sie ihn sofort wieder zur Hand hatte, wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kam.

Es war von Anfang an klar, dass wir nicht mit den Garretts spielen durften. Nachdem Mom ihre Pflicht getan und unseren neuen Nachbarn als Willkommensgeschenk eine große, selbst zubereitete Lasagne vorbeigebracht hatte, machte sie aus ihrer Abneigung keinen Hehl mehr. Mrs Garretts lächelnde Grüße quittierte sie mit einem kühlen Nicken. Mr Garretts freundliche Angebote, den Rasen zu mähen, das Laub zusammenzufegen oder Schnee zu schippen, lehnte sie mit einem knappen »Dafür lassen wir jemanden kommen, danke trotzdem« ab.

Irgendwann gaben die Garretts ihre Versuche auf, Kontakt mit uns aufzunehmen.

Und obwohl sie unsere Nachbarn waren und immer mal wieder eines ihrer Kinder mit dem Fahrrad vorbeifuhr, wenn ich gerade Moms Blumen wässerte, war es nicht schwer, ihnen aus dem Weg zu gehen. Sie gingen auf staatliche Schulen. Tracy und ich auf die Hodges Academy, die einzige Privatschule in unserer kleinen Stadt in Connecticut.

Allerdings gab es etwas, von dem meine Mutter nichts wusste und von dem sie absolut nichts gehalten hätte. Ich beobachtete die Garretts heimlich. Wann immer ich konnte.

Das Fenster in meinem Zimmer führt auf einen kleinen, von einer niedrigen Brüstung eingefassten Dachvorsprung hinaus, der zwischen zwei spitzen Giebeln liegt. Er ist sowohl vom vorderen als auch vom hinteren Teil des Gartens abgeschirmt und erlaubt einen perfekten Blick auf die rechte Seite des Nachbarhauses. Schon bevor die Garretts dort eingezogen waren, war das mein Lieblingsplatz gewesen, um in Ruhe nachzudenken. Aber danach saß ich dort, um zu träumen.

Wenn meine Mutter glaubte, ich würde im Bett liegen, kletterte ich hinaus und sah durch die erleuchteten Fenster zu, wie Mrs Garrett das Geschirr spülte, während eines der jüngeren Kinder neben ihr auf der Küchentheke saß, wie Mr Garrett mit den älteren Jungs im Wohnzimmer herumbalgte, oder wie einer von ihnen das Baby zu Bett brachte und ihm dabei beruhigend den winzigen Rücken rieb. Es war, als würde ich einen Stummfilm schauen, in dem Dinge passierten, die ich aus meinem eigenen Leben nicht kannte.

Mit der Zeit wurde ich mutiger. Manchmal beobachtete ich sie sogar tagsüber nach der Schule, mit dem Rücken an die rauen Giebel gelehnt, und versuchte die Namen, die ich durch die Fliegengittertür hörte, den einzelnen Garretts zuzuordnen. Es war nicht einfach, sie zu unterscheiden, weil alle in der Familie schlank waren, gelockte braune Haare und einen dunklen Teint hatten.

Joel, der älteste und sportlichste unter den...