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Gregor 3. Gregor und der Spiegel der Wahrheit

Suzanne Collins

 

Verlag Verlag Friedrich Oetinger, 2011

ISBN 9783862741458 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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2,99 EUR


 

1. Kapitel

Gregor starrte einen Augenblick in den Badezimmerspiegel und holte tief Luft. Dann öffnete er langsam die Schriftrolle und hielt sie mit der handbeschriebenen Seite vor den Spiegel. Im Spiegelbild las er die erste Strophe eines Gedichts mit dem Titel »Die Prophezeiung des Bluts«.

Wie immer, wenn er die Zeilen las, wurde ihm flau.

Es klopfte an der Tür. »Boots muss mal!«, rief seine achtjährige Schwester Lizzie.

Gregor ließ das obere Ende der Schriftrolle los, und sie schnappte zusammen. Schnell steckte er sie wieder in die hintere Tasche seiner Jeans und zog das Sweatshirt darüber, damit man sie nicht sah. Er hatte noch niemandem von der neuen Prophezeiung erzählt, und solange es sich vermeiden ließ, hatte er das auch nicht vor.

Vor ein paar Monaten, kurz vor Weihnachten, war er aus dem Unterland zurückgekehrt, aus der dunklen, von Kriegen geschüttelten Welt viele Meilen unterhalb von New York. Dort lebten riesige sprechende Ratten, Fledermäuse, Spinnen, Kakerlaken und zahlreiche andere gigantische Tiere. Menschen gab es dort auch – blasse, violettäugige Wesen, Nachfahren jener, die im siebzehnten Jahrhundert unter die Erde gezogen waren und die steinerne Stadt Regalia erbaut hatten. Die Bewohner Regalias debattierten jetzt wahrscheinlich immer noch darüber, ob Gregor ein Verräter oder ein Held war. Auf seiner letzten Reise hatte er sich geweigert, ein weißes Rattenbaby zu töten, das man den Fluch nannte. In den Augen vieler Unterländer war das unverzeihlich, denn sie glaubten, diese Ratte würde eines Tages ihren Untergang bedeuten.

Die derzeitige Königin von Regalia, Nerissa, war ein zerbrechliches junges Mädchen mit beängstigenden Zukunftsvisionen. Sie hatte Gregor bei seiner Abreise die Schriftrolle in die Jackentasche gesteckt. Damals dachte er, es handele sich um die »Prophezeiung des Fluchs«, bei deren Erfüllung er den Unterländern gerade geholfen hatte. Stattdessen war es dieses neue, erschreckende Gedicht.

»Damit du bisweilen darüber reflektieren kannst«, hatte Nerissa gesagt. Wie sich herausstellte, war das wörtlich gemeint – die Prophezeiung des Bluts war in Spiegelschrift geschrieben. Ohne einen Spiegel konnte Gregor sie nicht lesen.

»Gregor, beeil dich!«, rief Lizzie und rüttelte an der Badezimmertür.

Er machte die Tür auf, und da stand Lizzie mit der zweijährigen Schwester Boots. Sie waren beide in Mäntel und Mützen eingemummelt, obwohl sie den ganzen Tag noch nicht draußen gewesen waren.

»Ich muss Pipi!«, schrie Boots, zog die Hose ganz herunter und trippelte dann zur Toilette.

»Du musst erst zum Klo gehen und dann die Hose runterziehen«, erklärte Lizzie ihr zum hundertsten Mal.

Boots hangelte sich auf die Toilette. »Ich jetzt großes Mädchen. Ich Pipi aufs Klo.«

»Super«, sagte Gregor und zeigte ihr den erhobenen Daumen. Boots strahlte.

»Dad ist in der Küche und backt Kekse. Da ist der Ofen an.« Lizzie rieb sich die Hände, damit sie warm wurden.

In der Wohnung war es eiskalt. Seit Wochen herrschten in New York rekordverdächtige Minustemperaturen, und der Heizkessel, der die alten Rohre mit Wasserdampf versorgte, war hoffnungslos überfordert. Die Hausbewohner hatten schon mehrfach bei der Stadt angerufen, aber ohne Erfolg.

»Los, Boots. Gleich gibt’s Kekse«, sagte Gregor.

Sie riss gut einen Meter Klopapier von der Rolle und putzte sich leidlich ab. Es hatte keinen Sinn, ihr Hilfe anzubieten. »Nein, ich selber machen«, war die Antwort.

Gregor achtete darauf, dass sie sich die Hände wusch und abtrocknete, um dann ihre rissige Haut einzucremen. Er nahm die Flasche, drehte sie auf den Kopf und wollte gerade drücken, als Lizzie ihn am Ärmel zupfte.

»Das ist Shampoo!«, sagte sie panisch. In letzter Zeit geriet sie bei jeder Kleinigkeit in Panik.

»Stimmt«, sagte Gregor und nahm die andere Flasche.

»Haben wir Gelee, Gre-go?«, fragte Boots hoffnungsvoll, während er die Creme auf ihren Handrücken verrieb.

Gregor lächelte darüber, wie sie seinen Namen aussprach. Etwa ein Jahr lang hatte sie Ge-go gesagt, aber neuerdings fügte sie ein r hinzu.

»Traubengelee«, sagte Gregor. »Hab ich extra für dich gekauft. Hast du Hunger?«

»Jaa!«, sagte Boots, und er hob sie mit Schwung auf seine Hüfte.

Als er mit Boots in die Küche kam, hüllte ihn eine warme Wolke ein. Sein Vater holte gerade ein Blech mit Keksen aus dem Ofen. Gregor war froh, dass er wieder auf den Beinen war, und sei es nur, um so etwas Simples wie das Frühstück für sie zu machen. Denn die mehr als zweieinhalb Jahre in der Gefangenschaft der riesigen blutrünstigen Ratten im Unterland hatten aus seinem Vater einen schwer kranken Mann gemacht. Von seinem zweiten Besuch im Unterland hatte Gregor Weihnachten eine spezielle Medizin mitgebracht, und die schien anzuschlagen. Die Fieberschübe kamen nicht mehr so häufig, die Hände seines Vaters zitterten nicht mehr und er hatte ein wenig zugenommen. Er war noch lange nicht wieder gesund, aber insgeheim hoffte Gregor, dass die Medizin weiterhin helfen würde und sein Vater im Herbst vielleicht schon wieder als Biolehrer arbeiten könnte.

Gregor setzte Boots auf den wackligen Kinderstuhl aus rotem Plastik, den sie schon hatten, seit er ein Baby gewesen war. In Erwartung des Frühstücks trommelte sie fröhlich mit den Fersen gegen den Stuhl. Das Frühstück sah auch wirklich gut aus, vor allem, wenn man bedachte, dass der Monat sich dem Ende zuneigte. Gregors Mutter bekam ihr Geld immer am Monatsersten, und um diese Zeit war es normalerweise aufgebraucht. Aber heute servierte sein Vater jedem zwei Kekse und ein hart gekochtes Ei. Boots bekam eine Tasse stark verdünnten Apfelsaft – die Flasche musste noch ein paar Tage reichen –, alle anderen tranken heißen Tee.

Sein Vater sagte, sie sollten schon mal anfangen, während er der Großmutter das Frühstück auf einem Tablett brachte. Selbst bei milderem Wetter blieb sie die meiste Zeit im Bett, und diesen Winter hatte sie es kaum verlassen. Sie hatten ihr einen elektrischen Heizofen ins Zimmer gestellt, und auf dem Bett lagen mehrere Decken. Trotzdem waren ihre Hände immer kalt, wenn Gregor zu ihr kam.

»Ge-lee, Ge-lee, Ge-lee«, sang Boots.

Gregor brach ihr die Kekse auseinander und gab auf jeden einen großen Klecks Gelee. Sie aß sofort einen riesigen Bissen, und ihr ganzes Gesicht war lila verschmiert.

»He, das ist zum Essen, nicht zum Eincremen, klar?«, sagte Gregor, und Boots fing vor Lachen an zu glucksen. Wenn sie lachte, musste man einfach mitlachen; sie hatte so ein lustiges, hicksiges Kleinkindlachen.

Gregor und Lizzie mussten sich beeilen, um nicht zu spät zur Schule zu kommen.

»Vergesst nicht, die Zähne zu putzen«, sagte ihr Vater, als sie vom Tisch aufstanden.

»Mach ich, wenn ich mal ins Badezimmer darf«, sagte Lizzie und grinste Gregor an.

Alle in der Familie machten sich darüber lustig, dass er so viel Zeit im Bad verbrachte. Sie hatten keine zweite Toilette, und deshalb fiel es auf, wenn er sich so oft im Bad einschloss, um die Prophezeiung zu studieren. Seine Mutter zog ihn damit auf, dass er es wohl auf ein Mädchen in der Schule abgesehen habe und deshalb so oft vor dem Spiegel stehe, und Gregor versuchte sie in diesem Verdacht zu bestärken, indem er verlegen tat. Er dachte tatsächlich an ein Mädchen, aber sie war nicht auf seiner Schule. Und er machte sich bestimmt keine Gedanken darüber, wie sie seine Haare fand. Er fragte sich, ob sie überhaupt noch am Leben war.

Luxa. Sie war elf, genau wie er, und sie war die Königin von Regalia. Jedenfalls war sie das bis vor ein paar Monaten gewesen. Gegen den Willen des Rates von Regalia war sie Gregor heimlich hinterhergeflogen, um ihm bei dem Auftrag zu helfen, das Rattenbaby zu töten. Sie hatte es mit einer ganzen Horde Ratten in einem Labyrinth aufgenommen, damit Boots auf einem ihr ergebenen Kakerlak fliehen konnte. Luxa hatte Boots das Leben gerettet. Doch wo war Luxa jetzt? Irrte sie im Land des Todes herum? Hatten die Ratten sie gefangen genommen? War sie tot? Oder war sie durch irgendein Wunder wieder nach Hause gelangt? Und dann war da noch Luxas Fledermaus Aurora. Und Temp, der Kakerlak, der mit Boots geflohen war. Und Twitchtip, die Ratte, die eine so gute Nase hatte, dass sie sogar Farben riechen konnte. Alle seine Freunde. Alle vermisst. Sie alle drängten sich nachts in seine Träume und tagsüber in seine Gedanken.

Gregor hatte die Unterländer gebeten, ihn auf dem Laufenden zu halten. Sie sollten ihm im Schacht seines Wäschekellers eine Nachricht hinterlassen; dort war eins der Tore zum Unterland. Warum hatten sie das nicht getan? Was war los?

Es machte Gregor ganz verrückt, nicht zu wissen, was mit Luxa und den anderen war, und mit der mysteriösen Prophezeiung völlig allein dazustehen. Er musste sich sehr zusammenreißen, um in der Schule aufzupassen, sich seinen Freunden gegenüber normal zu verhalten und seine Sorgen vor der Familie zu verbergen. Schon die leiseste Ahnung, er könnte noch einmal ins Unterland reisen wollen, würde sie in Panik versetzen. Er war ständig zerstreut, hörte nicht, was die anderen sagten, und vergaß alles Mögliche. So wie jetzt.

»Gregor, deine Schultasche!«, rief sein Vater ihm nach, als er mit Lizzie zur Tür hinausging. »Ich glaube, die brauchst du heute noch.«

»Danke«, sagte Gregor, ohne seinen Vater anzuschauen. Er wollte die Sorge in...