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Geschwister - Liebe und Rivalität - Die längste Beziehung unseres Lebens

Horst Petri

 

Verlag Kreuz, 2013

ISBN 9783451346507 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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13,99 EUR


 

1. Vorläufer der Geschwisterliebe während der Schwangerschaft und im Säuglingsalter


Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Wende dein Gesicht immer der Sonne zu, dann fällt der Schatten hinter dich.« Über Geschwisterbeziehungen nachzudenken ist eine Frage der Perspektive. Auch wenn das Sprichwort trügt, wende ich mich zunächst der Sonne zu, dorthin, wo die reichhaltigen Facetten der Geschwisterliebe aufleuchten.

Ich betrachte die Sonne, wie sie langsam aufgeht. Der Morgen ist das Zeichen für den Beginn von Leben. Man wird die Geschwisterliebe nicht verstehen, wenn man nicht bis zu ihrem Ursprung zurückgeht. Nur so lässt sie sich auch wiederfinden.

Der Beginn von Leben. Der Beginn der Geschwisterliebe. Er liegt weit vor der Geburt des Geschwisters. Am Anfang war vielleicht der Wunsch, einen Bruder oder eine Schwester zu bekommen; dann beginnt die Geschwisterliebe mit diesem Wunsch. Oder die Mutter hat ihrem Erstling mitgeteilt, dass er oder sie bald einen Spielgefährten bekommt. Oder spätestens ab dem sechsten Monat krabbelt das Kind auf dem dicken Bauch der Mutter herum. Es sieht sie lächeln, es hört sie singen und mit dem unsichtbaren Wesen sprechen. Die Mutter hält den Kopf des Kindes an ihren Bauch – »Hörst du sein Herz schlagen?«, sie legt seine Hand an die Stelle, wo sich der Fötus gerade streckt – »Das ist sein Füßchen«. Und der Bauch wird von Tag zu Tag dicker, die Geräusche werden lauter, die Bewegungen stürmischer. Die Mutter freut sich. Ein Naturereignis geschieht – und das Kind nimmt daran teil. Diese vorgeburtliche Beziehung ist der Vorläufer der Geschwisterliebe. Sie beruht zum einen auf der Identifizierung mit der Liebe der Mutter zu ihrem ungeborenen Kind, zum anderen aber auch auf einer selbstständigen Objektbindung an das hörbare und tastbare Wesen in ihrem Bauch. Wie lässt sich diese Behauptung belegen? Durch Untersuchungen der pränatalen Psychologie ist seit längerem bekannt, dass die Mutter-Kind-Beziehung nicht erst mit der Geburt beginnt, sondern in die früheste Zeit der Schwangerschaft zurückreicht. Ab der Befruchtung bilden der Embryo und die Mutter eine psycho-biologische Einheit. Diese Erkenntnis lässt sich erweitern, wenn man die Familie als ein System betrachtet, in dem die Gefühlsbindungen durch die Anzahl seiner Teilnehmer bestimmt werden. Jede Schwangerschaft bedeutet eine Erweiterung des Systems, die eine Neudefinition seiner Regeln zur Folge hat. Es ist daher nicht erstaunlich, dass auch Väter durch die Schwangerschaft oft tief greifende Gefühlsveränderungen durchmachen, in die das erwartete Kind eingebunden wird. Warum sollten bereits vorhandene Kinder von diesem Prozess ausgenommen sein? Sie spüren nicht nur, dass sich mit der Schwangerschaft die Gefühlsstrukturen in der Familie verändern, sondern reagieren als Teil des Systems ebenfalls mit einer emotionalen Neuorientierung. Auch wenn die Beziehung zwischen Kindern und ihren noch ungeborenen Geschwistern bisher unerforscht ist, dürfte bei der Neuorientierung eine positive Gefühlseinstellung vorherrschen, weil einschneidende Benachteiligungen durch die Eltern oder Konflikte mit dem Geschwister erst nach dessen Geburt zu erwarten sind. Eine konfliktfreie, unambivalente Haltung ist besonders unter der Bedingung eines gut funktionierenden Systems, das heißt bei einer überwiegend liebevollen Familienatmosphäre anzunehmen. Wenn das Kind sich selbst geliebt fühlt, verfügt es über genügend libidinöse Energien, die es auf den Neuankömmling übertragen kann.

So vorbereitet, ist die Geburt, wie oft angenommen wird, keine Katastrophe, sondern ein mit Spannung erwartetes und lang ersehntes Ereignis. Das Baby ist nicht nur ein Geschenk für Mutter und Vater, sondern auch für das größere Kind. Die vorgeburtlichen Bindungen nehmen jetzt Konturen an. Das Baby ist wilde Natur. Es schreit ungehemmt, wenn es Hunger hat, saugt gierig an der Brust der Mutter, schläft danach selig ein, pinkelt und kackt zu jeder Tages- und Nachtzeit, strampelt wie wild mit Armen und Beinen, besonders wenn es nackt ist, später jauchzt es laut vor Freude, wenn es Mutter, Vater und Geschwister sieht. Ganz unzivilisiert das Ganze, ganz unerzogen. Herrlich! Es ist merkwürdig, dass diese Nähe, Verbundenheit und innere Verwandtschaft des Kindes zu solcher Form ursprünglicher Natur, wie sie ihm von seinem jüngsten Geschwister vorgelebt wird, bisher nicht gesehen wurde. Freud hat eine einleuchtende Erklärung für die Liebe von Kindern zu Tieren gefunden: »Das Verhältnis des Kindes zum Tiere hat viel Ähnlichkeit mit dem des Primitiven zum Tiere. Das Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem anderen Animalischen abzusetzen. Es gesteht dem Tiere ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tiere verwandter als dem ihm wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen.«5

Und das jüngste Geschwister, das Baby? Es zeigt die gleiche animalische Freiheit und ungehemmte Durchsetzung seiner Bedürfnisse wie die Tiere. Für ein Kind, das die ersten Sporen der Kultur aufgedrückt bekommen hat, wird das Baby zum Spiegel seiner zum Teil bereits aufgegebenen primären Natur. Indem es sich mit dem Baby identifiziert, befriedigt es regressiv eigene Triebwünsche und narzisstische Bedürfnisse. Die geläufige Beobachtung, dass ältere Kinder nach der Geburt eines Geschwisters erneut säuglingshaftes Verhalten annehmen (Nuckelflasche, ins Bett machen usw.), wird häufig als pathologischer Rückfall auf eine frühere Entwicklungsstufe gedeutet. Wie aber, wenn beide nur eine primäre Naturverbundenheit eint? Während Freud die Naturnähe des Kindes zu Tieren betont, beschreibt Hermann Grimm in seiner Einleitung zu den Märchen der Brüder Grimm sehr anschaulich die Beziehung von Kindern zur weiteren Natur: »Es liegt in den Kindern aller Zeiten und aller Völker ein gemeinsames Verhalten der Natur gegenüber: sie sehen alles als gleichmäßig belebt an. Wälder und Berge, Feuer und Sterne, Flüsse und Quellen, Regen und Wind reden und hegen guten und bösen Willen und mischen sich in die menschlichen Schicksale ein.«6

Auch ein Baby ist für ein Kind noch Teil einer so verstandenen, ganzheitlich erfassten Natur. Es redet nicht, es läuft nicht, man kann eigentlich nichts mit ihm anfangen, noch entbehrt es jeglicher Zivilisation. Aber es ist »belebt«. Wenn man Kleinkinder im Kontakt mit Säuglingen beobachtet, finden sich viele Ähnlichkeiten zu ihrem Umgang mit Tieren und anderer Natur. Mit verklärtem Blick streicheln sie das Baby, singen ihm leise ein Lied vor, um es nicht zu erschrecken; sie sprechen besonders sanft mit ihm, als wenn Babys, Tieren und Pflanzen die Sprache der Sanftheit gemeinsam wäre, sie bieten ihnen Blümchen an – Geschenke der Liebe in einem eigenen kleinen Kosmos. Keiner darf sie dabei stören.

Wenn Erwachsene unbemerkt solche Szenen beobachten, finden sie sie »rührend«. Sie werden von der Versunkenheit angerührt, mit der sich Kinder ihrer Liebe hingeben. Die verbreitete Lehrmeinung ist, dass solche Liebe auf Identifikation mit der Mutter oder auf Nachahmung beruht, was letztlich dazu diene, die destruktiven Impulse gegen das Geschwister abzuwehren und sich durch das erwünschte Verhalten die Liebe der Eltern zu sichern. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass diese Mechanismen erst zu einem späteren Zeitpunkt zum Tragen kommen, dann nämlich, wenn eine reale oder nur eingebildete Benachteiligung durch die Eltern wegen der wachsenden Ansprüche des Säuglings befürchtet wird oder die expansive Entwicklung des Geschwisters zu unvermeidbaren Konflikten führt. Im frühen Stadium nach der Geburt dürfte dagegen die Beziehung überwiegend auf einem autonomen Vorgang der Objektbindung basieren, bei dem es zu einer einzigartigen Wiederbegegnung des Kindes mit seiner primären Natur kommt. Nachdem sich in der Vorgeburtsphase die erste Bindung als Vorläufer der Geschwisterliebe entwickelt hatte, erzeugt der Säugling bei seinem älteren Geschwister eine Liebe im Sinne narzisstischer Verschmelzungswünsche. Aus diesen beiden Kernen, dem Vorläufer der Objektliebe und der narzisstischen Besetzung des Objektes im frühesten Stadium der Geschwisterbeziehung, entwickelt sich unter günstigen Bedingungen die spätere und reife Geschwisterliebe.

Der dargestellte Zusammenhang lässt sich durch Ergebnisse einer Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin, belegen.7 In einer Langzeituntersuchung über einen Zeitraum von zwei Jahren wurden 16 Familien beobachtet, die zu Beginn der Studie ihr zweites Kind bekamen. Die Entwicklung der Geschwisterbeziehung wurde in drei Phasen eingeteilt: 1.–9. Monat, 9.–18. Monat und 18.–24. Monat. Für alle drei Phasen wurde durch Direktbeobachtungen untersucht, wie sich das Verhältnis von positivem und negativem Verhalten des älteren Kindes gegenüber dem zweiten im Laufe der zwei Jahre verändert. Dabei ergaben sich folgende Durchschnittswerte:

 

Positives Verhalten:

1. Phase 30,5; 2. Phase 16,7; 3. Phase 13,7

Negatives Verhalten:

1. Phase 1,4; 2. Phase 10,9; 3. Phase 12,1

 

Die eindrucksvollen Ergebnisse zeigen, wie ausgeprägt besonders in den ersten neun Monaten das positive Verhalten des älteren Geschwisters gegenüber dem Säugling ist. Demgegenüber widerlegt der Minimalwert des negativen Verhaltens in diesem Zeitraum die geläufige Meinung über die Vorherrschaft destruktiver Gefühle ab...