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Rachesommer - Thriller

Andreas Gruber

 

Verlag Goldmann, 2013

ISBN 9783641113636 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

6


Der Kaffee schmeckte gar nicht so schlecht. Mit dem dampfenden Becher in der Hand folgte Pulaski der jungen Frau durch die Gänge der Anstalt.

Ein Mann kam ihnen entgegen, Mitte dreißig, weißer Kittel, schwarzes Haar, Seitenscheitel und rahmenlose Brille. Sie stellten sich einander vor. Der Mann hieß Steidl, war zweifacher Doktor und Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie. Vielleicht noch etwas jung für diesen Posten, dachte Pulaski, aber mit den richtigen Beziehungen war alles möglich. Der Mediziner war ihm nicht von vornherein unsympathisch. Pulaski mochte bloß das aufdringliche Rasierwasser nicht. Außerdem war ihm aufgefallen, dass der Doppeldoktor darauf verzichtet hatte, ihm die Hand zu geben – und solche Kleinigkeiten genügten Pulaski, um sich ein Bild zu machen.

»Wo sind Ihre Kollegen?«, fragte Steidl.

»Welche Kollegen?«

Steidl schnappte nach Luft. »Ich dachte, Sie würden den Todesfall untersuchen und …«

Pulaski warf einen demonstrativen Blick an sich hinunter. Sah er etwa nicht so aus, als könnte er die Leiche untersuchen? »Es handelt sich doch um Selbstmord?«, vergewisserte er sich. Zumindest hatte der Anrufer das bei dem Telefonat mit der Kripo behauptet. »Falls das stimmt, sind wir mit den Formalitäten in einer Stunde fertig.«

Und falls nicht …

Jeder Gesichtszug und vor allem der Blick, mit dem Steidl ihn musterte, sprach Bände. Mittlerweile glaubte Pulaski sogar, dass der Mann seine Gedanken nicht einmal verbergen wollte. Ja, so einen alten, heruntergekommenen Knaben hatte die Kripo ihnen geschickt! Einen Mann, der wegen seiner Asthmaanfälle, die sich von Jahr zu Jahr verschlimmerten, knapp vor der Frühpensionierung stand und der deshalb im Kriminaldauerdienst nur noch Standardermittlungen übernahm: die üblichen Todesfälle, bei denen man nicht gleich mit Gerichtsmediziner, Kripofotograf und Spurensicherungsteam anrückte. Eine gewöhnliche Aktennotiz genügte, ein bisschen Bürokram – Fall abgeschlossen. Es sei denn, der Staatsanwalt entschied anders, dann wurden die Mordkommission oder das LKA hinzugezogen, aber das kam so gut wie nie vor. Die Gerichte wurden seit Jahren bis oben hin mit Arbeit zugemüllt. Für eine Irre, die Selbstmord begangen hatte, interessierten sich höchstens die Schmierblätter.

»Wo ist die Leiche?«

»In ihrem Zimmer.«

»Wer hat sie entdeckt?«

»Ich.«

»Wann?«

»Bei der Morgenvisite.«

Das war ja wohl klar. »Und wann genau?«, fragte Pulaski.

»Kurz vor sechs Uhr früh.«

»Was passiert um diese Zeit?«

»Die Morgendosis der Medikamente wird ausgegeben.«

»Übernehmen das nicht die Pfleger?«

»Bei manchen Patienten mache ich das wegen der Mundkontrolle selbst.«

Wenn das so weiterging, war er heute Abend noch hier. Dabei hatte sich bei dem Notruf alles nach einem Routinefall angehört. Andererseits war er es gewohnt, nicht mit offenen Armen empfangen zu werden. Niemand mochte Schnüffler im eigenen Haus.

Pulaski nahm seinen Koffer und folgte dem Arzt durch das Gebäude, bis sie einen langen Korridor erreichten. Auf beiden Seiten bemerkte er eine Reihe von Türen.

»Wer weiß noch von der Toten?«

»Mein Ärztlicher Direktor, Doktor Wolf, und meine Assistentin Hanna … sonst niemand.«

Hanna war die Blondine mit der Hornbrille, die ihn empfangen und ihm anschließend den Kaffee gebracht hatte.

Pulaski nippte an dem Becher. Mein Ärztlicher Direktor, nicht unser Ärztlicher Direktor. Wieder so eine Kleinigkeit.

»Wie lange sind Sie schon Chefarzt?«, fragte Pulaski.

Steidl hielt inne. Die pechschwarzen Augenbrauen verengten sich. »Ist das wichtig?«

Pulaski schüttelte den Kopf. »Unwichtig.« Er kannte die Antwort bereits. Der junge Schnösel schmiss die Abteilung seit höchstens vier oder fünf Monaten. Bestimmt erwähnte er bei jeder Cocktailparty mindestens fünfmal, dass er nun Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie war. Pulaski wusste, seine Vorurteile wurden mit zunehmendem Alter schlimmer. Seine Frau hatte ihn jedes Mal daran erinnert, wenn sie jemanden kennenlernten. Aber er sagte sich: besser eine vorgefasste Meinung als gar keine.

Steidl hielt vor einer Tür mit der Nummer 27. Natascha Sommer stand auf dem Plastikschild an der Wand. Ein hübscher Name.

Pulaski trat ein, während Steidl im Türrahmen stehen blieb. Auf den ersten Blick konnte Pulaski keine Einbruchspuren feststellen. Die aufgehende Sonne warf ihre Strahlen zwischen die Lamellen der Jalousie. Der Raum war lediglich so groß, dass ein Bett, ein Schrank, ein Tisch mit Stuhl und eine Waschgelegenheit hineinpassten. Pulaski fiel auf, dass kein Handtuch auf der Halterung hing. Eigentlich hatte er mit einem Sturz aus dem Fenster gerechnet, mit einem Mädchen, das an einem Gürtel aufgeknüpft am Heizungsrohr an der Decke baumelte, oder mit einem blutgetränkten Bettlaken und einer geöffneten Pulsader, in der noch eine rostige Büroklammer steckte … Doch nichts dergleichen war hier zu sehen.

Natascha Sommer war nicht älter als neunzehn Jahre. Ein zartes Wesen mit kurzen, brünetten Haaren, burschikoser Frisur und einer mit Sommersprossen übersäten Stupsnase. Ihr hübsches Antlitz wies osteuropäische Gesichtszüge auf. Möglicherweise stammte sie aus Rumänien oder der Ukraine. Ihre Arme waren dünn, vermutlich wog sie nicht einmal vierzig Kilo.

Die Kleine lag mit dem Rücken auf dem Bett – keine Würgemerkmale, keine Spuren von Erbrochenem –, beinahe friedlich. Wenn da nicht ihr Blick gewesen wäre. Dieser entsetzliche Blick!

Pulaski betrachtete die Anstaltskleidung. Ein cremefarbenes Nachthemd mit blauen Punkten, das ihr gerade mal bis zu den Knien reichte. Der linke Ärmel war hochgerollt. In Nataschas Armbeuge steckte eine Nadel, daran hing eine 50 ml große Spritze, mit der man einen Gaul hätte ruhigstellen können. Ein sauber gesetzter Stich. Intravenös. Spuren von Blut befanden sich an der Unterseite und am Rand des Kolbens. Unter dem Bett lag eine Durchstichflasche. Leer bis auf den letzten Tropfen.

An der Innenseite von Nataschas Handgelenken bemerkte Pulaski die ziemlich langen Narben eines Selbstmordversuchs, der bestimmt schon mehrere Jahre zurücklag. Manchmal verging viel Zeit, aber irgendwann war es so weit, und dann kam jede Hilfe zu spät.

Pulaski stellte Koffer und Kaffeebecher auf den Tisch und ging ums Bett herum. Nataschas Pupillen waren noch nicht getrübt, sie war keinesfalls länger als zwei Stunden tot. Er schloss ihre Augenlider. »Hatte sie Angehörige?«

»Nur ihren gesetzlich vorgesehenen Betreuer«, antwortete Steidl. »Sie kam bereits als Waisenkind zu uns.«

»Wie lange ist Ihr Vorgänger eigentlich schon im Ruhestand?«, fragte Pulaski, ohne den Arzt anzusehen.

»Seit vier Mon…« Steidl sprach den Satz nicht zu Ende. Vermutlich biss er sich gerade auf die Lippe.

Pulaski grinste innerlich. Er zog sich Latexhandschuhe an und fischte die Flasche unter dem Bett hervor. 100 ml Perfalgan. Laut Aufkleber enthielt das Präparat 1000 mg der Substanz Paracetamol, ein Schmerzmittel, das bei Migräne, Arthrose oder Zahnschmerzen verabreicht wurde. Im Gummistopfen am Flaschenhals entdeckte Pulaski zwei Einstiche. Die Kleine hatte die Spritze also zweimal aufgezogen und damit die ganze Flasche geleert.

Er betrachtete die Armbeuge des Mädchens. Neben der Stelle, wo die Nadel unter die Haut ging, befanden sich drei weitere Einstiche. Offensichtlich zwei gescheiterte Versuche, die Vene zu treffen. Beim dritten und vierten Mal hatte es dann geklappt. Warum so kompliziert? Weshalb hatte sie sich keinen Butterfly gesetzt? Außerdem war Selbstmord durch Spritze bei Frauen unüblich. Ein einfacher Schnitt in die Pulsader hätte es auch getan. Das war der Klassiker. Oder war sie aus Erfahrung klug geworden?

»Ab wie viel Milligramm wirkt Paracetamol tödlich?«, fragte Pulaski.

»Kommt darauf an.« Steidl wiegte den Kopf. »Mit dieser Dosis hätte man zwar die Schmerzen aller Patienten dieser Station wegzaubern können. Aber tödlich? Unwahrscheinlich, selbst bei einer so mageren Person wie Natascha.«

»Also keine Überdosis?«

»Nur in Verbindung mit Alkohol.«

In Verbindung mit Alkohol. Pulaski ließ Nadel, Spritze und Flasche in Plastiktüten verschwinden. Vielleicht war es gar nicht nötig, Glas und Kunststoff nach Fingerabdrücken zu untersuchen. Aber das konnte man im Voraus nie wissen!

»Wo ist der Abschiedsbrief?«, fragte er, während er sich ächzend erhob.

»Welcher Abschiedsbrief?«

Pulaski deutete auf Nataschas Fingerkuppen. Rückstände von blauer Tinte hafteten an der Haut.

Noch bevor Steidl antworten konnte, war Pulaski zum Tisch gegangen. »Ich darf doch?« Er zog die Schublade auf. Doch bis auf einen leeren Notizblock, eine Füllfeder, einen Radiergummi und einige Buntstifte befand sich nichts darin. Pulaski durchsuchte die Wäschefächer des Schranks. Nichts. Auch in den Büchern auf dem Wandregal lag kein Zettel. Neben Bukowskis Hot Water Music stand eine nahezu leere Flasche Gin.

»Gehören Gin und Bukowski zur Therapie in dieser Anstalt?« Pulaski wartete keine Antwort ab und drehte die Flasche, um das Etikett zu lesen. Cadenheads Old Raj Gin. 55 Prozent Alkohol.

Tödlich – nur in Verbindung mit Alkohol.

Er war zwar einen Schritt weiter, hatte aber immer noch nicht gefunden, wonach er suchte. Irgendwo musste es eine Nachricht des Mädchens geben! Wo hast du sie versteckt?

Steidl stand immer noch im Türrahmen. »Ich glaube nicht, dass …«

»Pst!« Pulaski hob die Hand. Er...