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Das Konzert

Hartmut Lange

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601053 , 144 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[21] 4

»Reden Sie ihm zu«, sagte Frau Altenschul. »Er ist auf seinem Zimmer, kann sich aber nicht entschließen zu bleiben. Und gerade ihm hätte ich gewünscht, daß er das Unrecht, das man ihm angetan hat, widerruft.«

Sie sprach von Lewanski, und ihre Besorgnis war derart, daß sie rote Flecken auf der Stirn bekam. Sie erzählte von ihrem Spaziergang im Tiergarten und von der Begegnung mit jenem, den sie regelmäßig sah und dessen Existenz Liebermann anzweifelte, jenem, der auf der Brücke gestanden und vergeblich zu grüßen versucht hatte, und sie versicherte, daß, wenn es diese Begegnung nicht gegeben hätte, Lewanski auf unabsehbare Zeit ihr Gast geblieben wäre. Aber jetzt, meinte sie, sei er wie verwandelt und säße, obwohl sie ihn gebeten hätte, diesen Abend mit ihnen Tee zu trinken, immer nur auf seinem Zimmer, und sie sei sicher, fügte sie hinzu, er würde, sowie er Gelegenheit dazu fände, die Villa heimlich wieder verlassen.

»Reden Sie ihm zu«, wiederholte sie und stand, die Kanne in ihren Händen, bekümmert [22] und ratlos da, so daß Liebermann sie bitten mußte, ruhig zu sein und erst einmal, und damit nahm er die Tasse auf, von dem vorzüglichen Tee zu trinken.

Sie schwiegen, und dies dauerte, bis sie ein Geräusch auf der Treppe hörten. Es war, als würde jemand versuchen, unbemerkt an der Tür zum Salon vorbeizukommen.

»Da ist er«, sagte Frau Altenschul rasch, »und er will fort.«

Aber sie täuschte sich. Lewanski trat ein, entschuldigte sein verspätetes Erscheinen und setzte sich, obwohl Frau Altenschul mit der Hand auf einen Stuhl in ihrer Nähe wies, auf ein Kanapee in ziemlichem Abstand zu dem Tisch, auf dem der Tee serviert war, und bat um Nachsicht. Er könne, sagte er, abends weder Tee noch Kaffee trinken, ohne überanstrengt zu sein. Dabei schlug er die Beine übereinander, saß besonders aufrecht, und wie er den Kopf über den Rand der Rückenlehne des Kanapees hinaus gegen den Nacken hin anhob, wie er mit den Händen, die Arme waren fast ausgestreckt, beide Enden des Kanapees umklammerte, eine Geste, die, weil das Kanapee breit war, unangemessen wirkte, wie er es vermied, mit seinen Blicken, obwohl er in die Richtung des Tisches sah, besonders verbindlich zu sein, dies alles [23] zeigte, daß er um Distanz bemüht war und daß er den Frack, den er trug, nicht in der Absicht angelegt hatte, seine Gastgeber zu unterhalten.

Frau Altenschul ärgerte sich. Sie fand, daß Lewanski keinen Grund hatte, ihr Bemühen, das ihm doch schmeicheln mußte, in einer derartigen Weise zu beantworten.

›Und was soll der Frack!‹ dachte sie. ›Als wollte er beweisen, daß er aus Trotz und weil man ihn dazu nötigte, bereit wäre, koste es was es wolle, noch diesen Abend in einem Konzert aufzutreten !‹

Sie hatte Lust, das Zimmer zu verlassen.

»Gut, daß Sie einmal da sind«, sagte Liebermann. »Wir wollten mit Ihnen reden.« Und er begann, wie es seine Art war, Lewanski unverblümt zu mustern. »Ich verstehe«, sagte er, »daß Sie keine Konzerte geben wollen. Ich bin des ewigen Malens auch müde. Irgendwann, denke ich, sollte alles ein Ende haben. Ich war, als ich starb, immerhin um die neunzig, ich kann also sagen: Was dem Menschen an Zeit zugemessen werden kann, davon hat man mir nichts genommen. Sie aber, junger Mann«, sagte er und kniff die Augen zusammen, um Lewanski, der im Halbdunkel saß, besser zu fassen, »Sie aber, junger Mann«, sagte er, »müssen Ihr Leben im Tode nachholen, da es Ihnen nicht [24] erlaubt war, Ihre Jahre glücklich oder unglücklich hinter sich zu bringen.«

Frau Altenschul fürchtete, Liebermanns Worte könnten Lewanski unbeeindruckt lassen. Aber Lewanski, der immer noch zu aufrecht und in unangemessener Weise dasaß, schien betroffen zu sein. Zumindest hatte ihn Liebermann mit dem Hinweis, er möge das Leben im Tode nachholen, überrascht.

»Ich höre«, sagte Liebermann, »Sie wären im Tiergarten jenen Gespenstern begegnet, deren Existenz ich anzweifle. Aber wie die Dinge nun einmal sind, auch Frau Altenschul kann von der Vorstellung nicht loskommen, daß sie von ihren Mördern wie von ihrem Schatten begleitet wird. Nun: Wir sind alle zu Schatten geworden und können einander nichts mehr anhaben, und hätte Frau Altenschul nicht, wie Sie, allen Grund, den gewaltsamen Widerruf ihres Lebens rückgängig zu machen, glauben Sie mir, niemand würde mich dazu bringen, in der Gesellschaft eines Salons das Sektglas zu halten. Ich habe dergleichen immer gehaßt.«

Lewanski löste die Hände von den Lehnen des Kanapees und nahm die Brille ab, um die Gläser mit einem Tuch, das er aus der Brusttasche zog, zu säubern. Dabei sprang, vielleicht weil er mit den Fingern zuviel Druck ausübte, [25] ein Glas aus der Fassung, aber er achtete kaum darauf und zwang es, als hätte er dies öfter getan, mit einem leichten, metallenen Klappton wieder zurück.

»Natürlich«, sagte Liebermann, »wir sind Berliner, und ich bin ehrlich genug, Ihnen zu sagen: Ich wünschte, man könnte den Untergang dieser Stadt ungeschehen machen.«

»Besser es gibt unter den Toten ein blühendes Berlin als gar kein Berlin«, sagte Frau Altenschul. »Sie könnten doch wenigstens versuchen«, sagte sie, »das Haus in der Koenigsallee, das man Ihnen angeboten hat, wieder herzurichten. Es ist ein Grundstück, auf dem häßliche, gegenwärtige Bungalows stehen, aber dies können Sie unbeachtet lassen.«

Gegen Mitternacht begann es heftig zu regnen, und man hörte ein schwaches Gewitter, das über die Stadt hinwegzog. Von Südwesten her wehte ein warmer Wind, und eine Stimmung, als wäre es Frühling, lag über den Kastanien, deren Laub gelb und rot eingefärbt war und deren Früchte die Gehwege überdeckten, so daß man, um auf den nassen Schalen nicht auszugleiten, zu Umwegen genötigt wurde.

Aber das böige Wetter endete rasch, und keine Stunde später war der Himmel wieder klar und kalt, und die Erde dampfte, weil der Regen, der [26] sie berührt hatte, so unerwartet mild gewesen war.

Lewanski hatte sich von seinen Gastgebern mit der Bemerkung verabschiedet, er würde nun, da man ihm Berlin so hartnäckig anempfohlen hatte, gern einmal allein unterwegs sein, und er ging, nachdem er sich einen Schirm erbeten hatte, in Richtung Westen und erreichte die Koenigsallee. Hier war es still, und die Bogenlampen, die in beträchtlichem Abstand zueinander standen, konnten den Straßen und den Villen und den die Dächer überragenden Kiefern nicht genügend Licht geben, so daß in unmittelbarer Nähe der Lampen, da es geregnet hatte, alles glänzte, aber dahinter, wenn man nur zwei, drei Schritte darüber hinausging, schien die Nacht dem Auge undurchdringlich. Lewanski bemerkte, nachdem er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, daß fast alles, im Gegensatz zur Voßstraße, unversehrt, als hätte es nie eine Zerstörung gegeben, dastand, nur einige Grundstücke waren überwuchert.

Er erinnerte sich, daß er hier in der Nähe an einem See gewohnt hatte, der kreisrund und so eng war, daß man glaubte, man könnte darüber hinwegspringen. Im Röhricht gab es Bleßhühner und scharenweise Stockenten, und die Erpel hatten ein Gefieder, als wäre es aus Seide. Im [27] November stieg Nebel über dem Ufer auf. Er erinnerte sich, wie schwer es für ihn gewesen war, gegen jene Stimmung, die sich Tag für Tag vor den Fenstern vollzog, Chopin, was er doch vorhatte und wofür er gelobt worden war, besonders heiter zu spielen.

›Und die Bäume‹, dachte er, ›wer hätte geahnt, daß einem unter diesen hohen, den Regen abwehrenden Bäumen etwas Endgültiges geschehen könnte.‹

Vor dem Portal jener Villa, die Frau Altenschul erwähnt hatte, blieb er stehen und hatte Mühe, die Unterschiedenheit zwischen den Bungalows, die man auf dem Park errichtet hatte, und der Villa, die niedergerissen war, aber vor seinen Augen doch unversehrt dastand, zu ertragen.

Er betrat den Kiesweg. Rechts unter einem Fliedergebüsch sah er das eiserne Tor, das man, vielleicht um es neu zu lackieren, aus den Angeln gehoben hatte, dicht dabei eine Vase aus Kupfer, die über und über mit Grünspan bedeckt und voll Regenwasser war. Links neben der Villa, dort, wo gestutzte Ulmen den Garten eingrenzten, stand ein remisenartiger Schuppen, dessen Türen geöffnet waren, und als Lewanski herantrat, um sie zu schließen, weil der Wind von den Bäumen her staubfeine Nässe hineinwehte, sah [28] er ein Automobil der Marke Adler. Und nun änderte sich seine Stimmung. War es ihm vorher, als ginge ein Riß durch alles, was er sah, und schien es ihm unmöglich, die geteilte Welt, die sich seinen Augen darbot, so wie es Frau Altenschul geraten hatte, mit Gelassenheit hinzunehmen, jetzt gelang es ihm augenblicklich.

Er stand da, achtete nicht mehr auf die Bungalows, die ihm den Blick auf den Garten hätten nehmen können, und auch die Müllkästen, die man überall an den Eingängen unter Gehäusen aus Aluminium aufgestellt hatte, waren ihm gleichgültig. Er sah immer nur auf das Automobil und erinnerte sich, wie er früher, in jenen Jahren, als er begonnen hatte, Chopins Etüden zu spielen, und als er hoffen durfte, mit seinem Talent ausreichend Geld zu verdienen, wie sehr er gewünscht hatte, solch einen Wagen zu lenken, und daß er, obwohl ihm dies noch nicht erlaubt war, immer wieder in jener Halle, in der die Automobile ausgestellt und zum Verkauf angeboten wurden, mit einer Mischung aus Verlegenheit und Dringlichkeit vorsprach und sich erkundigte, wie teuer dieses Vergnügen, gesetzt den Fall, er könnte sich zum Kauf entschließen, werden würde.

Ja,...