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Hellas Channel

Petros Markaris

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603224 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[5] 1

Jeden Morgen um Punkt neun starren wir einander wortlos an. Er steht vor meinem Schreibtisch. Sein Blick scheint ungefähr in Augenhöhe, irgendwo zwischen meinen Augenbrauen und Wimpern, hängenzubleiben. »Ich bin ein verdammter Wichser«, sagt er.

Nur mit seinem Blick sagt er es, er spricht es nicht aus. Ich sitze hinter meinem Schreibtisch und schaue ihm geradewegs in die Pupillen. Denn ich bin sein Vorgesetzter und darf ihm in die Augen starren. Er hingegen hat seinen Blick niederzuschlagen. »Ich weiß, daß du ein verdammter Wichser bist«, sage ich zu ihm. Kein Laut kommt über meine Lippen. Mein Blick spricht für sich. Diesen lautlosen Wortwechsel tauschen wir zwölf Monate im Jahr aus, mit Ausnahme der zwei Monate, in denen wir Urlaub haben. Zwölf Monate im Jahr, fünf Tage in der Woche, von Montag bis Freitag unterhalten wir uns wortlos, nur unsere Blicke sprechen. »Ich bin ein verdammter Wichser – Ich weiß, daß du ein verdammter Wichser bist.«

Auf jeder Dienststelle ist ein gewisser Prozentsatz Versager. Es können nicht alle gerissene Spürhunde sein, es müssen immer auch ein paar miese Stümper dabeisein. Thanassis gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Er hatte sich in die Polizeischule eingeschrieben und dann die Ausbildung abgebrochen. Mit Mühe arbeitete er sich zum [6] Kriminalhauptwachtmeister hoch, und in dieser Position saß er sich den Arsch breit.

Er hatte keinen Funken Ehrgeiz. Er wollte einfach nicht weiterkommen. Von seinem ersten Arbeitstag an setzte er alles daran, mir unmißverständlich klarzumachen, daß er ein verdammter Wichser war. Und ich wußte seine Aufrichtigkeit zu schätzen. Sie bewahrte ihn vor allen schwierigen Missionen – den Nachtschichten, den Straßensperren, den Verfolgungsjagden. Ich setzte ihn für Büroarbeiten ein. Irgendein problemloses Verhör oder Tätigkeiten im Archiv, irgendeine Kleinigkeit im Briefverkehr mit der gerichtsmedizinischen Abteilung oder dem Ministerium. Dabei herrscht seit Jahren chronischer Personalmangel bei der Polizei, wir kommen den ganzen Einsätzen nicht hinterher. Er jedoch erinnert mich beständig und tagtäglich daran, daß er ein verdammter Wichser ist. Damit ich es nicht vergesse und er sich nicht irrtümlicherweise in einem Streifenwagen wiederfindet.

Nach einem kurzen Blick auf meinen Schreibtisch registriere ich, daß das Croissant und der Kaffee fehlen. Seine einzige regelmäßige Aufgabe besteht darin, mir jeden Morgen meinen Kaffee und mein Croissant zu bringen. Ich hebe den Blick und schaue ihn verwundert an.

»He, Thanassis, wo ist denn heute mein Frühstück geblieben? Hast du das vergessen?«

Während meiner Anfangszeit im Polizeidienst aßen wir alle Sesamkringel. Wir wischten mit der flachen Hand die Sesamkörner vom Tisch, während uns irgendein Totschläger, jugendlicher Strauchdieb oder gefinkelter Taschenspieler namens Dimos, Menios oder Lambros gegenübersaß.

[7] Thanassis grinst. »Der Chef hat angerufen und will Sie dringend sprechen. Ich dachte, ich bring es Ihnen später.«

Es ging bestimmt um den Albaner. Man hatte ihn um das Haus schleichen sehen, in dem wir letzten Dienstag das erschlagene Ehepaar aufgefunden hatten. Den ganzen Morgen über hatte die Haustür offengestanden. Doch keiner hatte sich die Mühe gemacht, einen Blick hineinzuwerfen. Was gibt es auch in einem verliesartigen Rohbau zu holen, wo das eine Fenster unverglast und das andere mit Brettern vernagelt ist? Schließlich faßte sich gegen Mittag eine neugierige Nachbarin, die die sperrangelweit geöffnete Tür beobachtet hatte, ein Herz. Sie brauchte etwa eine Stunde, um uns zu verständigen, da sie zwischendurch immer wieder in Ohnmacht fiel. Als wir eintrafen, waren gerade zwei Frauen dabei, ihr Wasser ins Gesicht zu spritzen. So wie man es mit Fischen macht, damit sie fangfrisch aussehen.

Eine nackte Matratze war auf dem Zementboden ausgebreitet. Darauf lag eine ungefähr fünfundzwanzigjährige Frau. An ihrem Hals klaffte eine Schnittwunde, die wie ein aufgerissener blutender Mund aussah. Ihre rechte Hand war in die Matratze verkrallt. Die Farbe ihres Nachthemds war nicht mehr zu erkennen. Es war blutüberströmt. Der Mann neben ihr war vielleicht fünf Jahre älter. Er war vornübergestürzt, und sein Brustkorb ragte über die Matratze hinaus. Seine Augen schienen auf einen Kakerlak zu starren, der in diesem Augenblick in aller Gemütsruhe vorbeimarschierte. Er hatte fünf Messerstiche im Rücken: drei aufeinanderfolgende waagrechte, von der Höhe des Herzens in Richtung der rechten Schulter über den Rücken verteilt, und zwei senkrechte, als ob der Mörder ihm den Buchstaben ›E‹ für [8] sein Ende in den Rücken ritzen wollte. Die ganze Behausung sah aus, als wären ihre Bewohner von einer Hölle in die nächste unterwegs. Ein Klapptisch, zwei Plastikstühle und eine Gasflasche mit einer Kochflamme.

Zwei erschlagene Albaner sind für die Fernsehsender nur von Interesse, wenn die Schlächterei sich gut fotografieren läßt und den Leuten ordentlich Brechreiz verursacht, bevor sie sich um neun zum Abendessen setzen. Früher gab es Sesamkringel und Griechen. Heute Croissants und Albaner.

Wir brauchten eine knappe Stunde für die erste Phase der Untersuchungen: die beiden Leichen zu fotografieren, die Fingerabdrücke abzunehmen, die fünf Fundstücke in Plastikbeutel zu packen und die Tür zu versiegeln. Nicht einmal der Gerichtsmediziner bemühte sich an den Tatort. Er begnügte sich damit, die Leichen im Seziersaal in Empfang zu nehmen. Eine Hausdurchsuchung war nicht nötig. Was sollte man auch durchsuchen? Es stand ja nicht einmal ein Schrank in dem Zimmer. Die paar Kleiderfetzen der Frau hingen an einem Haken an der Wand. Die des Mannes lagen neben ihm, auf dem Zementboden.

»Sollten wir nicht nach Geld suchen?« fragte mich Sotiris, der pingelige Kriminalobermeister.

»Du kannst ruhig danach suchen und es einsacken, aber du wirst keine einzige Drachme finden. Sei es, weil sie gar kein Geld hatten oder weil der Mörder alles mitgenommen hat. Was nicht heißen soll, daß es sich notwendigerweise um Raubmord handelt. Denn auch wenn es ein Rachedelikt war – das Geld hätte er auf jeden Fall eingesteckt. Die lassen doch nichts liegen!« Er suchte herum und fand schließlich ein Loch in der Matratze. Ohne Geld.

[9] Die Nachbarn hatten nichts bemerkt. Das behaupteten zumindest alle. Kann sein, daß sie uns gegenüber schwiegen, um dann um so effektvoller vor laufender Kamera auszusagen. Uns blieb nur, zur Durchführung der zweiten Phase in die Dienststelle zurückzukehren: um einen Bericht zu schreiben, der geradewegs ins Archiv wandern würde. Wozu nach dem Mörder suchen? Es wäre verlorene Liebesmüh.

Als wir gerade dabei waren, die Unterkunft zu versiegeln, tauchte sie plötzlich wie ein Tagmond auf. Ihr rundes Gesicht leuchtete ebenso wie ihre glänzende Bluse, in der sich zwei große Brüste den Platz streitig machten. Ihren Hintern hatte sie in einen engen Rock gezwängt, daher war er hinten etwas kürzer. Ihre Füße steckten in lilafarbenen Pantoffeln. Ich saß gerade im Streifenwagen, als ich sie auf die zwei Männer zugehen sah, die die Tür versiegelten. Sie flüsterte ihnen etwas zu, und die beiden deuteten auf mich. Sie machte kehrt und kam auf mich zu.

»Wo kann ich mit Ihnen sprechen?« fragte sie, als ginge es um ein heimliches Rendezvous.

»Hier auf der Stelle. Schießen Sie los…«

»In den letzten Tagen hat sich ein Mann in der Nähe des Hauses herumgetrieben. Er klopfte an und wollte rein, doch die Frau hat ihn jedesmal abgewiesen und ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er war mittelgroß, dunkelblond, mit einer Narbe an der linken Wange. Er trug eine hellblaue Sportjacke, am Knie geflickte Jeans und Turnschuhe. Vorgestern habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Er hat geklopft, und sie hat die Tür wieder zugeschlagen.«

»Und warum haben Sie das nicht dem Kriminalbeamten gesagt, der die Verhöre durchgeführt hat?«

[10] »Ich habe es mir eben gut überlegt. Ich wollte nicht in irgendeinen Prozeß hineingezogen werden.«

Wie oft saß sie wohl am Fenster und beobachtete die Straße, die Nachbarn und die Passanten? Wahrscheinlich trat sie gleich nach dem Aufstehen ihre Schicht am Fenster an, nur unterbrochen von Kochen und Essen.

»Na schön. Wenn wir Sie brauchen, werden wir auf Sie zurückkommen.«

Im Büro wollte ich die Angelegenheit spontan ins Archiv abschieben. Wir haben genug mit Terroristen, Einbrüchen, Rauschgiftdelikten zu tun – wer hat die Zeit, sich mit Albanern herumzuschlagen? Es war ja schließlich kein Grieche zu Schaden gekommen. Keiner von denen, die im Zeitalter der Croissants schnell in eine ›Snackbar‹ oder ›Crêperie‹ gehen. Dann sähe die Sache anders aus. Untereinander können die Albaner aufführen, was sie wollen. Solange wir genügend Krankenwagen für ihren Abtransport haben.

Wenn jemand behauptet, daß man aus seinen Fehlern lernt, kann ich nur lachen. Immer wieder tappe ich in dieselbe Falle. Anfangs sage ich mir noch, daß ich mich in die Sache nicht reinhängen werde. Doch dann beginnt der Holzwurm im Gebälk zu arbeiten. Vielleicht weil mich das Büro anödet oder weil noch ein kleiner Überrest kriminalistischer Neugier in mir steckt, der noch nicht von der ganzen Routine aufgefressen wurde. Dann ergreift mich manchmal die Lust, tätig zu werden. Ich schickte also die Beschreibung des Albaners, die mir die Dicke gegeben hatte, über Funk an andere Polizeidienststellen. Meistens muß man in solchen Fällen nicht lange suchen. Man braucht nur bestimmte Athener Plätze abzuklappern, den...