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Nachtfalter

Petros Markaris

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603248 , 560 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[13] 2

Der Marktplatz des Inselhauptortes liegt etwas erhöht und sieht wie das Konzertpodium einer dörflichen Blaskapelle aus. Drei Sträßchen kreuzen sich auf dem Marktplatz. Das eine schlängelt sich aus dem Ort hinaus, das zweite führt zur Endhaltestelle der Buslinie, die zwischen dem Hafen und dem Hauptort verkehrt, und das dritte endet vor der Kirche. In den engen Gassen rund um den Marktplatz spielt sich das gesamte Leben des Ortes ab – im unmittelbaren Umfeld eines Tante-Emma-Ladens, einer Gemüsehandlung mit Fleischtheke und eines Geschäfts, in dem von Kunsthandwerk bis zu Gummistiefeln alles zu finden ist. Dann sind da noch das Kafenion des Bruders meines Schwagers, eine Taverne, ein altmodischer Biergarten und zwei Souflakibuden, wovon sich die eine einen internationalen Anstrich gibt, die andere auf griechisches Flair setzt. Die internationale Souflakibude unterscheidet sich von der griechischen darin, daß ihr Namensschild sie nicht als »Grillstube« ausweist, sondern hochtrabend als »Souflaquerie« bezeichnet. Augenscheinlich glaubt der Wirt, die vielen französischen Touristen so auf seine Seite ziehen zu können. Vermutlich ein Schlag ins Wasser, denn die griechischen Gäste ziehen die einheimische Grillstube der Souflaquerie vor, und die Franzosen, die möglicherweise der Souflaquerie den Vorzug gegeben hätten, können [14] das Schild nicht lesen, da es mit griechischen Buchstaben geschrieben ist. Die Läden auf dem Marktplatz sind die einzigen, die bei dem Erdbeben keinen Schaden davongetragen haben, da sie eng aneinandergebaut sind. Ihr Zusammenhalt hat sie vor dem Schlimmsten bewahrt.

Es sind drei Stunden vergangen, seitdem ich mit Adriani ins Freie gestürzt bin. Ich sitze auf dem Blaskapellenpodium, gegenüber der Souflaquerie. Das Schild kann ich nicht erkennen, weil es stockdunkel ist. Licht und Telefon sind ausgefallen. Aus den Transistorradios erfahren wir, daß sich das Epizentrum in der Gegend von Kreta befand und das Erdbeben die Stärke von 5,8 Grad auf der Richter-Skala erreicht hat. In den vergangenen drei Stunden haben die Inselbewohner siebenunddreißig Erdstöße gezählt, doch um den letzten ist ein heftiger Streit ausgebrochen. Die eine Hälfte der Insulaner behauptet, er müsse mitgezählt werden, während die andere Hälfte meint, er bilde bloß eine kleine Draufgabe zur vorletzten Erschütterung. Sie reden sich also die Köpfe heiß, um nur ja keine Möglichkeit ungenutzt zu lassen, sich in ihrem Unglück zu suhlen.

»Beim Erdbeben von Kalamata wurden innerhalb von drei Stunden zweiundfünfzig Erdstöße gezählt«, sagt einer, der neben mir auf dem Gehsteig sitzt, als wäre er traurig darüber, daß seine Insel nicht in Führung liegt.

Der ganze Ort hat sich auf dem Marktplatz versammelt. Etliche sitzen auf den Stühlen der Taverne oder des geschlossenen Biergartens, andere im Kafenion des Bruders meines Schwagers, das geöffnet hat und Limonade, Coca-Cola und Eiskaffee ausschenkt. Wer sich keinen Sitzplatz in den Lokalen sichern konnte, spaziert zwischen den [15] umhertollenden, Ball spielenden Kindern über den Platz. Der Krach ist ohrenbetäubend, da nicht nur die Kinder kreischen, sondern sich auch die Erwachsenen lautstark vom Kafenion quer über den Platz, vom Platz zur Taverne und von der Taverne in den Biergarten hinüber unterhalten. Nur in den beiden Souflakibuden klingelt die Kasse. Die Kinder sind hungrig, und es gibt sonst nirgendwo etwas zu essen. Die Souflakibuden haben Holzkohle zum Glühen gebracht und brutzeln eifrig Fleischspießchen, die sie mit einer Scheibe Landbrot verteilen. Zum Schluß geht ihnen das Brot aus, und sie servieren das Fleisch ohne Beilage. Nur das Holzkohlenfeuer erhellt den Marktplatz.

Die wenigen Touristen, die im September noch übriggeblieben sind, wurden vom Marktplatz verdrängt und haben sich zur Bushaltestelle geflüchtet. Liebend gerne würden sie abreisen, doch der dort abgestellte Bus wagt nicht loszufahren, und sie trauen sich nicht, in die Häuser zurückzukehren und ihre Sachen zu holen. Einige haben sich vor den Souflakibuden angestellt, doch sie kommen nicht zum Zuge, weil die Einheimischen sich ständig vordrängeln.

Es wird immer später, und die Erdstöße wollen nicht enden, da lähmt die Angst schließlich auch die Schreihälse, und der Lärm ebbt ab. Als wäre das alles nicht schon Unglück genug, setzt auch noch ein dünner Nieselregen ein, der neues Protestgeschrei hervorruft. Der Kombi der Stromgesellschaft fährt zum vierten Mal mit quietschenden Reifen vorbei und hupt wie wild, um die Leute von der Straße zu scheuchen.

»He, Lambros, was ist? Wann haben wir wieder Strom?« fragt der Mann neben mir den Beifahrer des Wagens.

[16] »Stell dich lieber auf eine längere Wartezeit ein. Das Kabel ist beschädigt, und das kann dauern«, entgegnet der andere, zufrieden, daß diesmal der Strom mit gutem Grund ausfiel und nicht wie sonst zweimal täglich ohne ersichtlichen Anlaß.

»Schämt ihr euch denn gar nicht, ihr Schmarotzer!« ruft mein Nachbar hinter dem Wagen her.

Er würde gerne weiterschimpfen, doch eine heftige Erschütterung bringt ihn aus dem Gleichgewicht, und er rutscht vom Gehsteig. Ein Gezeter unterschiedlichster Stimmlagen erhebt sich über dem Marktplatz. Es reicht vom »Hoppla, schon wieder!« der Mutigsten bis zum hysterischen Gekreische der Frauen.

»Ach, da bist du ja! Wir suchen dich schon auf dem ganzen Marktplatz«, höre ich Adrianis Stimme neben mir.

Sie ist in Begleitung von Eleni, ihrer Schwester, und Aspa, Elenis Tochter, die in die dritte Klasse des Gymnasiums geht und ein besonnenes, aufgewecktes Mädchen und das sympathischste Mitglied der Familie meiner Schwägerin ist.

»Ist alles in Ordnung?« frage ich Eleni, mehr aus Pflichtbewußtsein als aus echter Sorge, da ich ja sehe, daß mit ihr alles in Ordnung ist.

»Sei still, ich zittere immer noch am ganzen Leib. Ich war im Ortsverschönerungsverein, wir wollten unsere Vorgangsweise gegen Theologou, diesen Gauner, besprechen. Der will nämlich ein Hotel am Kap bauen und sich den ganzen Strand unter den Nagel reißen. Da merke ich plötzlich, wie der Boden unter meinen Füßen nachgibt! Bis ich bei der Schule angekommen bin, um Aspa in Sicherheit zu bringen, habe ich Höllenqualen durchlitten!«

[17] »Du hast das Unglück herbeigeredet! ›Wieso fahren wir denn weg, zu Hause ist es doch viel schöner, wozu brauchen wir Urlaub…‹ Wie hätte es da nicht zu einem Erdbeben kommen sollen, wenn man ständig lamentiert?« sagt Adriani zu mir, und mit einem Mal finde ich mich in der Rolle des Sündenbocks wieder, der das Erdbeben verursacht hat.

Ich bin knapp davor, aus der Haut zu fahren. Wäre sie auf meinen Vorschlag eingegangen, doch lieber zu Hause zu bleiben, müßte sie jetzt auch nicht in den traurigen Trümmerhaufen nach unserer Unterwäsche stöbern. Plötzlich spüre ich einen bohrenden, stechenden Schmerz im Rücken und springe auf.

»Was hast du? Wieder die Schmerzen?« fragt mich Adriani, die seit fünfundzwanzig Jahren jede meiner kleinsten Bewegungen mit Argusaugen verfolgt. »Geschieht dir recht, wenn du nicht zum Arzt gehst. Du zahlst vollkommen umsonst so hohe Beiträge an die Krankenkasse.«

»Sie hat recht, warum gehst du mit deinen Schmerzen nicht zum Arzt?« mischt sich Eleni ein.

»Weil er Angst davor hat wie alle Männer! Ein gestandener Hauptkommissar, Leiter der Mordkommission, der den ganzen Tag mit Mördern und Messerstechern zu tun hat, fürchtet sich vor dem Doktor!«

»Es ist nur ein eingeklemmter Nerv. Ich renn doch wegen eines eingeklemmten Nervs nicht gleich zum Arzt.«

«Ach, die Diagnose hat er auch schon parat«, sagt Adriani verächtlich.

Das ganze Gespräch findet unter leichten Erdstößen statt, als befänden wir uns auf einem schaukelnden [18] Tragflügelboot, und der Nieselregen wird langsam stärker. Seit einem Monat etwa taucht dieser plötzliche, heftige Schmerz in der linken Schulter auf, zieht sich in meinen Arm hinunter und klingt nach zehn Minuten wieder ab. Ich gehe nicht zum Arzt, da man immer, wenn man nachbohrt, mehr zutage fördert, als einem lieb ist.

Ich höre auf, daran zu denken, nicht weil ich einen so eisernen Willen hätte, sondern weil sich auf dem Marktplatz ein aufrührerisches Geheul erhebt. Ich wende mich um und sehe, wie der Bürgermeister auf das Konzertpodium steigt und auf die Menge einzureden versucht.

»Ruhe! Laßt mich doch zu Wort kommen!« ruft er, und der Tumult beruhigt sich etwas. »Ich habe mit der Präfektur gesprochen. Zelte und Wolldecken sind unterwegs«, ergänzt er zufrieden, doch seine Befriedigung bricht sogleich wieder in sich zusammen, da die Nachricht die Menge eher aufbringt als beruhigt.

»Wann werden sie das alles schicken? Nächstes Jahr?«

»Wir harren jetzt schon fünf Stunden im Finstern aus, sind vollkommen durchnäßt, und du kommst daher und willst uns weismachen, daß die Sachen unterwegs sind?« Mit Betonung auf dem »unterwegs«.

»Ist dir klar, daß die Leute in Kalamata noch heute, zehn Jahre danach, in Wohnwagen hausen?«

»So ein Staat kann mir gestohlen bleiben! Die können doch nur Steuern aus einem rauspressen!«

Der Bürgermeister nimmt noch einen Anlauf. »Habt etwas Geduld, Leute! Wir sind nicht die einzigen, die schlimm dran sind.«

»Wir sind zwar nicht die einzigen, aber wir werden [19] die letzten sein, die Hilfe erhalten. Dank deines Einsatzes!«

»Ich hab’s immer gesagt, wir hätten ihn nicht wählen sollen, doch ihr habt ja nicht auf mich gehört«, sagt jemand...