dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Pinguine frieren nicht

Andrej Kurkow

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603200 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

[91] 14

Um Mitternacht kam Sergej Pawlowitsch nach Hause und ließ Viktor sofort zu sich rufen.

Viktor war bestens vorbereitet für die nächste ›Sitzung‹. Er war zornig und entschlossen nach Golossejewo zurückgekehrt, und um seine Wut auf Nina und diesen dubiosen Milizionär-Wächter-Onkel irgendwie loszuwerden, hatte er sich sofort an die Arbeit gemacht. Auf sechs weißen Papierseiten hatte er so eine Wahlpropaganda entworfen, daß er sich beim Durchlesen selbst wunderte und beinahe auf der Stelle bereit gewesen wäre, für diesen Kandidaten zu stimmen, dessen Wahlversprechen und Pläne er sich selbst eben erst ausgedacht und in Sätze gepackt hatte.

Sergej Pawlowitsch wirkte bedrückt und nahm die vollgeschriebenen Blätter lustlos entgegen. Die ersten Zeilen überflog er, dann vertiefte er sich in das Geschriebene. Auf seinem Gesicht erschien ein konzentrierter Ausdruck, und er las den Text schweigend zu Ende. Darauf entspannte er sich, seufzte erleichtert und sah Viktor an.

»Gut gemacht!« nickte er und kaute nachdenklich an seinen Lippen. Dann fuhr er fort: »Die PR-Berater kommen morgen früh, dann geht die Arbeit richtig los. Morgen früh mußt du zur Stelle sein!«

Viktor nickte und spürte im gleichen Moment einen komischen, gespielt besorgten Blick des Hausherrn. »Hast du heute irgendwas?«

Viktor verzog das Gesicht. Dann erzählte er leicht und ungezwungen in wenigen Worten von Nina und von der ganzen Sache mit seiner Wohnung.

[92] »Tja, mein Freund!« sagte Sergej Pawlowitsch nur, als er zugehört hatte. Und schwieg. »Siehst du, du hast gleich in mehreren Punkten gegen das Gesetz der Schnecke verstoßen, und hier sind die Folgen! Unkenntnis schützt vor Strafe nicht! Merk dir Punkt drei: Es ist verboten, Fremde, halbe Fremde und halbe Freunde in sein Haus zu lassen. Jetzt sieh dir an, was geschehen ist! Du hast halbe Freunde in dein Haus gelassen, dann kommst du zurück, und es sind Fremde drin! Was bedeutet das?«

Viktor zuckte die Achseln.

»Das bedeutet, daß du dich nicht mit Menschen auskennst oder auch nur nicht genauer hinschauen willst! Wer ist dir von dieser Gesellschaft am nächsten?«

»Sonja.«

»Verstehe. Morgen… Nein, morgen ist zu viel zu tun. Übermorgen bekommst du die Schlüssel zu deiner Wohnung zurück.«

»Und was wird mit Sonja? Soll sie denn dort allein bleiben?«

»Da lassen wir uns etwas einfallen. Du wohnst jedenfalls erst einmal hier.«

15

Die PR-Berater wurden morgens in dem schwarzen Geländewagen gebracht. Sie kamen mit wenig Gepäck, ein paar Sporttaschen und drei Kartons, in denen, nach den Worten des PR-Berater-Chefs Schora, das transportable Gehirn ihrer Truppe steckte: ein hochspezieller [93] Computer. Außer Schora gehörten zur Truppe noch drei weitere PR-Berater: ein Computerfachmann namens Slawa und zwei wendige Brüder, die Zwillinge Sergej und Wowa. Die Zwillinge waren die jüngsten im Team und sahen nicht älter aus als zwanzig oder zweiundzwanzig. Schora, der Chef, war etwa dreißig. Der Computermann Slawa glich dem typischen Klassenstreber, ein bißchen vertrocknet und krummer geworden, und blickte durch seine Brillengläser mit übermüdeten Augen in die Welt. Er ließ wohl in den nächsten ein, zwei Jahren die Vierziger hinter sich.

Sergej Pawlowitsch führte Schora durchs Haus. Schora blickte aufmerksam in alle Ecken, auf der Suche nach einem Platz, wo seine Leute ihr Hauptquartier aufschlagen konnten.

»Haben Sie überhaupt keinen Computer?« fragte er am Ende der Hausbesichtigung erstaunt.

»Wozu brauche ich einen Computer?« Der Hausherr lächelte den PR-Berater zufrieden an. »Computerspiele mag ich nicht, ich spiele nur in echt.«

»Und wo bewahren Sie Ihre Informationen auf?«

Sergej Pawlowitsch tippte sich ein paarmal mit dem Zeigefinger der rechten Hand an den Kopf. »Na, hier.«

Schora nickte betreten.

Sie berieten etwa fünf Minuten über die Zimmerwahl, dann schleppte die Truppe ihre Taschen und den Computer hoch in das ehemalige Kinderzimmer im ersten Stock.

Inzwischen war Viktor hinuntergestiegen, und der Hausherr stellte ihn den PR-Beratern als seinen Assistenten vor.

Schora begegnete Viktor gleich mit Achtung und [94] Interesse. Er drückte ihm fest die Hand und stellte seine Jungs vor. Sie frühstückten gemeinsam im Salon, mit Käse, Wurst, frischen Brötchen und Kaffee. Der Hausherr saß etwa fünf Minuten mit allen am Tisch, blickte nachdenklich auf die Gesichter der kauenden PR-Berater, dann trank er seinen Kaffee aus und ging hinaus.

Nach dem Frühstück wollte Schora eine rauchen und winkte Viktor mit sich nach draußen in den Hof. Dort zog er ein Päckchen Gauloises heraus und steckte sich eine Zigarette an. »Hör mal, bist du schon lange hier?« fragte er.

»Nicht besonders«, antwortete Viktor.

»Aber du hast schon den Durchblick?«

»Mhm.«

»Na, und wie ist der Chef so?«

»Normal.«

»Nicht geizig?« setzte Schora zwischen zwei Zügen an der Zigarette sein Verhör fort.

»Eigentlich nicht…«

»Das ist gut. Ich mag die Geizigen nicht… Und wieviel zahlt er dir?«

»Ausreichend…«

Auf Schoras Gesicht erschienen Anzeichen von Ermattung. Er musterte Viktor aus zusammengekniffenen Augen.

»Du brauchst keine Angst zu haben, wir stehen doch an derselben Front. Damit ich erfolgreich arbeiten kann, muß ich bloß wissen… Verstehst du, jeder Auftraggeber hat so seine Macken, die Felsen unter der Oberfläche sehen verschieden aus… Also warne mich lieber…«

»Er ist ganz normal…«

[95] »Und seine Konkurrenten? Ernst zu nehmen?«

»Was weiß ich.« Viktor zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich…«

»Ohne Krieg?«

»Was heißt das?«

Schora ließ den Stummel seiner Gauloise fallen, zertrat ihn mit der quadratischen Spitze seiner modischen Schuhe und quetschte ihn mit ganz unnötiger Kraft in den Kies; dabei erschien auf seinem Gesicht für einen Augenblick ein harter Ausdruck, die dünnen Lippen verzerrten sich. Aber gleich darauf brachte er seine Gesichtszüge wieder ›in Ausgangslage‹. Er hob den auf einmal gleichgültig gewordenen Blick zu Viktor.

»Was das heißt? Das heißt: Hat es schon Opfer gegeben, oder noch nicht?«

»Es gab einen Zwischenfall bei der Jagd«, antwortete Viktor ruhig. »Vor ein paar Tagen.«

»Und wen haben sie umgebracht?«

»Seinen Schwiegersohn.«

»Aha…« Schora dachte nach. »Laß mich solche Sachen wissen, es soll nicht umsonst sein!«

»Gut«, versprach Viktor.

Die Unterhaltung mit Schora hinterließ bei Viktor ein leicht unangenehmes Gefühl. Das Wort ›Krieg‹ hatte in ihrem Gespräch gar so alltäglich geklungen. Genauso alltäglich war Viktor der ›Zwischenfall bei der Jagd‹ über die Lippen gekommen. Er stand vor der Haustür und überlegte, daß er sich jetzt tatsächlich an der Front befand. Denn unter den heutigen Bedingungen war jede Wahl ein Krieg von zwei oder mehr Armeen. In diesen Kämpfen vor [96] der Wahl wurde kein Gebiet erobert, es wurden nur die Feinde – die Konkurrenten – erschossen. Wie im großen Geschäft. Deshalb gab es keine echte Frontlinie, oder genauer, sie war überall, wo sich zufällig oder auch absichtlich einer der an den Vorwahl-Kriegshandlungen Beteiligten aufhielt.

Sergej Pawlowitsch kam heraus und ging auf den gedankenverlorenen Viktor zu. »Was stehst du hier rum?« fragte er ruhig. »Geh rein zu den Jungs! Ich habe ihnen deinen Text zum Lesen gegeben!«

Viktor ging wieder ins Haus und schaute bei den PR-Beratern vorbei. Dort stand anstelle des Kinderbettes schon ein Schreibtisch, darauf der Computer. Neben dem Computer machte sich Slawa mit verschiedenen Kabeln zu schaffen. Auf einem Sofa in der Nähe saß Schora. Er las das Programm, das Viktor geschrieben hatte. Dann schaute er hoch, nickte freundlich und las zu Ende.

»Hat der Chef es abgesegnet?« fragte Schora und sah Viktor wieder an.

»Ja.«

»Tolles Konzept! So eins ist an die fünf Riesen wert. Wir jagen es in den Computer, wir drucken es, entwerfen die Plakate… Man könnte übrigens die Rede noch ein bißchen aufs Geld bringen… Okay?«

»Was meinst du?« wollte Viktor wissen.

»In meinem Computer hier stecken etwa fünfzig Wahlprogramme, für Parteien, Parteilose, Populisten, was du willst! Und in deinem finden sich hübsche neue Ideen… Wir haben vor einer Weile den Bürgermeister von Gomel gemacht, der wollte auch so ausgeklügelte Versprechen. [97] Aber in Gomel lebt einfaches Volk. So habe ich es ihm auch gesagt – man muß ihnen Knete versprechen. Das versteht das Volk. Knete auf die Hand! Er hat auf uns gehört und ist jetzt ein zufriedener Bürgermeister. Kannst du mir folgen?« Schora sah Viktor ins Gesicht.

»Nein, kann ich nicht…«

»Du hast ein Programm für fortgeschrittene Kreise geschrieben, für Moskau oder Kiew… Deiner kandidiert doch in Kiew?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Viktor.

»Na, du bist gut!« Schora maß Viktor mit einem mitleidigen Blick. »Hat er dir denn nichts erzählt?«

»Noch nicht.«

»Auweia… Und wie ist seine Stimmung heute, normal?«

»Normal.«

Schora nickte vor sich hin und verließ sein Hauptquartier. Viktor blieb allein im Zimmer mit Slawa, der schon den Computer angeschaltet hatte und auf die Tasten einhämmerte, die Nase hatte fast...