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War meine Zeit meine Zeit

Hugo Loetscher

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601091 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

[5] WIE ALLE BIN ICH UNGEFRAGT AUF DIE WELT gekommen. Ich gehöre zu denen, die versuchten, daraus etwas zu machen.

Unter den ersten Dingen, die mir zufielen, war eine Stadt. Diese lag an einem See, der Absicht nach lieblich und gelegentlich besungen, eingebettet zwischen Hügel und föhnverwöhnt, an den Hängen Wein, der bis zu brauchbarer Süße wächst.

Berühmt ist der Abfluss, die Limmat. An ihr war die Stadt gegründet worden. Sie fließt den Altstadtvierteln entlang, gesäumt von Kirchen, Zunfthäusern und dem Rathaus. An ihren Quais hatten einst Schiffe angelegt, waren Märkte abgehalten worden, woran ein Weinplatz oder die Gemüsebrücke erinnern. Vorbei an den steilen Mauerresten eines römischen Kastells und einer mittelalterlichen Pfalz.

Doch es gibt einen anderen Fluss, einen minderen, wilder und mit verbauten Ufern.

Jenseits dieses Flusses war einst eingerichtet und angelegt worden, was nicht ins puritanische Bild der Stadt gepasst hatte: das Siechenhaus, der katholische Friedhof, der Schlachthof oder die Hinrichtungsstätte. Hier lebten von jeher Kleinbürger und Proleten. Was von der Stadt aus gesehen jenseits lag, war ein Diesseits für diejenigen, die hier [6] wohnten. Hier wuchs ich auf, einer, der versuchte, aus dem Ungefragten etwas zu machen.

Als Kind kletterte ich zum minderen Fluss hinunter, mich an den Sträuchern der Böschung absichernd, ermahnt von der Großmutter, nicht zu ertrinken. Doch tief war das Wasser nicht. Natürlich hüpfte ich von Stein zu Stein, zog manch vollen Schuh heraus, stand knietief im Fluss, als könnte man mit Beinen den Lauf sperren.

Viel später vernahm ich als Schüler von einer andern Art Fluss, von der Lethe. Aus diesem griechischen Fluss tranken die Toten, um zu vergessen, was hinter ihnen lag. Außer den chinesischen Toten, die tranken, um nicht Altlasten aus dem früheren Leben ins neue mitzuschleppen, einen Tee.

Ich erfuhr, dass nicht nur leben, auch tot sein kostet. Die Zulassung ins Totenreich ist nicht gratis. Ich hatte ein Sparschwein angelegt. Aber ich schlug es auf, bevor es galt, die Münzen für die Überfahrt in die Unterwelt zu entrichten. Das Geld kriegte nicht ein Fährmann, sondern eine Kioskfrau, für Heftchen, die nicht für Jugendliche bestimmt waren.

War der Fluss meiner Kindheit nicht auch ein Fluss des Vergessens? Die Sihl bildete einen Stausee. Der war noch kein Jahr alt, als ich mit Mitschülern an einem schulfreien Nachmittag mit dem Rad zur Staumauer fuhr. Wir hatten sie uns imposanter und länger vorgestellt, den ausgedehnten Stausee vor Augen. Als wir uns auf der Staumauerbrücke talseitig über die Brüstung lehnten, bis uns der Höhensturz der Mauer schwindeln ließ, redete uns einer an, nicht viel älter als wir. Ein »Umgesiedelter«, wie er sagte; er zeigte auf eine Stelle weit oben im See, dort sei er geboren worden, die [7] Stelle war kaum auszumachen: »Hinter dem Kahn, darunter, dort lag mein Schulweg«, sein Vater sei Torfstecher gewesen, er selber habe als Kleiner mitgeholfen, Soden zu trocknen; bevor die Flut kam, hätten Armeeflugzeuge zur Übung bombardiert, auch, was einst ihr Haus gewesen sei. Der Großvater habe aus den Trümmern einen Bilderrahmen gerettet.

War das nicht ein See des Vergessens? Überflutet Wiese und Weide, Kartoffelacker, Pflanzland und Moor. Verstummt, was die Gehöfte und ihre Wände einst vernommen. Türen, durch die nun Fische schwammen. Über dem Kreuz der Wegkapelle ein Anglerhaken. Ersoffen Stall und Scheune. Brunnen und Brunnenstuben ertrunken.

Ob das, was nach Unwettern im Sihl-Wasser trieb, versuchte, dem Vergessen zu entkommen? Nicht nur abgebrochene Äste, die an Gärten und Wälder von weiter oben erinnerten. Die Schuhschachtel, wieso war sie verschnürt? Und der Mantel, wen hatte er gewärmt? Ob der Hund, an dessen Halsband noch die Leine hing, auf jemand hoffte, dem er erzählen konnte, wie er ertränkt worden war? Bevor der Kadaver zu reden beginnen konnte, riss er sich los vom Stein, an dem er hängengeblieben war.

Als ich eines Tages dem Flussgott begegnete, der in Rom auf der Piazza Navona einen Brunnen in vier Ströme aufteilt, habe ich mich gefragt, wie wohl der Sihl-Gott ausschaut. Sicher nicht ein Poseidon, von Nymphen verwöhnt, nicht ein Herrscher über die Meere, kein Triton, der Seepferdchen meistert und auf Muscheln bläst – eher ein Bub, wie ich, der an etwas herumbastelt.

Eines Nachmittags hatte ich ein Holzscheit aus der Sihl [8] gefischt. Ich wunderte mich, dass ein Stück Brennholz im Wasser trieb. Ich hatte den Fund hinter einer Betonröhre versteckt. Als das Holz trocken war, schnitzte ich daran, zunächst ohne Absicht, doch dann formte ich einen Bug, und als das Holz noch die Form eines Rumpfes erhielt, ritzte ich den ersten Buchstaben meines Vornamens ein, bohrte ein Loch, steckte als Mast ein Streichholz hinein, ein kürzeres, um den Mast zu befestigen, und schickte das segellose Schiffchen auf große Fahrt, nicht wissend, wohin, und rief ihm einen Gruß nach, nicht wissend, an wen. Ein Bote, der annoncierte: Einer kommt nach.

Aufregend nur schon war, dazuhocken und sich dem Vorbeifließen hinzugeben, dem Glucksen, Raunen und Flüstern zuzuhören, zuweilen mit geschlossenen Augen, damit, was zu sehen war, nicht das, was zu hören war, störte. Gespannt, ob einem eine Welle anvertraut, wie das ist, wenn sie an einem Stein aufschlägt.

Und dann wiederum mit offenen Augen staunen, wie der Fluss bei Sturmwetter anschwoll, wie Wasser sich grau verfärbte und am Ende schwarz wurde wie die Wolken, das Gesicht dem Wind entgegenstrecken, der in die Wellen peitschte, dass es schäumte und spritzte. Und gar die Momente, wenn oben neben der Quaimauer die Linden blühten; da verströmte der Fluss ein Parfum wie der Lindenblütentee, mit dem die Großmutter Fieber heilte.

Wasser, das war Land mit Füßen. Und ich sinnierte darüber, wohin die Wellenfüße den Fluss tragen. Er, der selber den Schanzengraben, einen Nebenabfluss des Sees, schluckte, wurde von einem anderen geschluckt, der in einen größeren mündete, der seinerseits Zuträger wurde – was, wenn [9] am Ende weltweit jeder Fluss von einem anderen aufgenommen wird und jeder Fluss zum Nebenfluss wird.

Gerne suchte ich die Stelle hinter dem Bahnhof auf, der zum Teil auf Brückenpfeilern ruhte und unter dem die Sihl durchfloss. Es gab Momente, da hätte ich es der Sihl gegönnt, wenn sie den Zug genommen hätte und ans Meer gefahren wäre, vielleicht erster Klasse.

Doch zu meinem Glück floss die Sihl unter den Bahngeleisen durch. Und hinter dem Bahnhof die Stelle, wo sie sich mit dem anderen Fluss verband, dem berühmteren. Ein kurzes Stück weit flossen die beiden nebeneinander, das saubere Wasser der Limmat und das verschmutzte der Sihl, bis der bürgerliche Fluss den Proleten schluckte.

Jahrzehnte später brachte mich ein Boot an die Urwaldstelle, wo der Rio Madeira in den Amazonas mündet. Nur, dass es diesmal der Nebenfluss war, der sauber-frisches Wasser führte; der Hauptstrom hingegen war verschmutzt von aufgewühltem Schlamm. Kaum Gefälle, ein träges Geschiebe, kilometerweit nebeneinander herfließend, bis das trübe Wasser über das saubere siegte. Seither frage ich mich, ob die Sihl ein kleiner Amazonas ist und der Amazonas eine große Sihl.

Sind nicht alle Flüsse der Kindheit am Ende ein Wassersystem? Gespeist von unzähligen Nebenflüssen. Quelle und Brackwasser, abgebrochene Ufer, Quai-Anlagen und erhoffte Brücken, Inseln, die untergingen, seichtes Gewässer neben Abgrundtiefe, sich in Sumpf verlierend, nie benutzte Anlegeposten, Laichplätze neben Reusen, vielleicht quakt noch einer der Frösche, die wir nicht gefangen haben, und am Himmel der verlorene Schrei eines Wasservogels.

[10] Der Amazonas brachte mir bei, dass man sich einem Fluss nicht nur von den Ufern her nähert: unter mir eine silbrige Linie, Schleifen, die keinen Horizont respektieren, flugstundenweit Mäander, ausgreifend und schlängelnd, die sich gegen unbegrenztes Grün behaupten.

Es war das erste Mal, dass mich Monotonie faszinierte. Nach der Landung auf der Erdpiste machte ich mich daran, den Spielarten der Eintönigkeit nachzuspüren, der nie ausgeschöpften Wiederholung im mehrstöckig verhangenen Regenwald: wo Palme nicht Palme war und Liane nicht Liane, genauso wie der Affe, der schrie, nicht der Affe war, der eben mit seinem Greifschwanz von Ast zu Ast hüpfte, und Schmetterlinge kaum von den Blüten zu unterscheiden, die der Wind verstreute – am selben Ast Blüte und Frucht.

Ich hatte begriffen, dass ich einem Fluss nicht nur vom Ufer her beikomme, sondern auch aus der Luft. Erst so erlange ich Anschauung über den Lauf seiner Biographie.

So hielt ich doppelt neugierig Ausschau, als die Maschine die Flughöhe erreicht hatte; irgendwann musste der Nil auftauchen. Bis ich merkte, dass wir längst darüberflogen. Richtung Quellen, den Katarakten entgegen, gen Afrika, wohin mit den Giraffen und Leoparden die Nilpferde abgewandert sind.

Das also war Ägypten. Zwischen zwei Wüsten ein Strich von einem Land, das überschwemmt werden konnte und das ein Volk und eine Kultur mit seinem Schlamm ernährte, aus dem auch die Ziegel für die Fellachenbehausungen verfertigt werden.

Dreifach war die Bekanntschaft. Vorerst der Götterblick [11] von oben. Als die Geier im Morgenlicht ihre Schwingen ausspannten, meinte der Sonnenbrillenverkäufer: Sie beten.

Und dann das Schiff. Über den Wasserstand sinnieren, welcher Pegel Hunger und welcher Pegel Überfluss verheißt. Zuschauen, wie für die Felder Wasser gewonnen wird, ob dank eines...