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Die Totengräberin - Roman
Sabine Thiesler
Verlag Heyne, 2010
ISBN 9783641051358 , 528 Seiten
Format ePUB
Kopierschutz Wasserzeichen
"ERSTER TEIL (S. 9-10)
1
Sie hatte die ganze Nacht geweint. Um zehn nach drei sah sie das letzte Mal auf die Uhr, und unmittelbar danach schlief sie vollkommen erschöpft ein. Gegen halb sechs war sie wieder wach. Ihr Kopf dröhnte, und sie spürte, dass ihre Augen zugeschwollen waren. Sie rollte sich von der Bauchlage auf den Rücken und versuchte, sich zu entspannen.
Aber ihre Ängste verschlimmerten sich. Sie hatte keinen Strohhalm mehr, an dem sie sich festhalten konnte. Johannes hatte von alldem nichts mitbekommen. Sein Atem ging gleichmäßig, er schlief tief und fest. Sie überlegte, wie es sein würde, wenn er nicht mehr da wäre, wenn sie seinen Atem nie wieder hören würde, und bei diesem Gedanken verspürte sie Panik.
Sie konnte ohne ihn nicht leben, aber sie konnte auch mit ihm nicht mehr leben. Um halb sieben ging die Sonne auf und warf einen rötlich goldenen Lichtstreifen auf den antiken Brotschrank dem Bett gegenüber, in dem Magda ihre Bettwäsche aufbewahrte. Johannes schnaufte leise und drehte sich auf die Seite. Gestern Abend waren ihr seine Bartstoppeln gar nicht aufgefallen, er hatte sich seit mindestens drei Tagen nicht rasiert. Sie hasste das. Wenn sie ihm über die Wange strich, sollte seine Haut weich sein.
Ohne jede Unebenheit, ohne jeden Makel. Magda stand leise auf, zog sich ihren Bademantel über und ihre Hausschuhe an. Obwohl es Juli war, war es durch die vierzig bis achtzig Zentimeter dicken Mauern morgens im Haus regelrecht kühl. Vor zehn Jahren hatten sie das ehemalige Landgut La Roccia, das stark renovierungsbedürftig war, gekauft. Es hatte einen hufeisenförmigen Grundriss, war für Magdas Geschmack viel zu groß und noch dazu in einem erbärmlichen Zustand.
Das Dach drohte einzustürzen, von den Innenwänden fiel der Putz, und der Fußboden hing beängstigend durch. Das Grundstück war verwildert und mit Brombeeren, Heckenrosen, Weißdorn und Erika zugewuchert. Zum Verzweifeln, fand Magda. Aber Johannes war von dem Panoramablick fasziniert. Nach Norden sah man von Montevarchi bis hin zum Prato Magno, dem Gebirge, das das Arno-Tal vom Casentino trennt.
Nach Westen blickte man auf ein kleines Bergdorf, nach Osten auf einen kahlen Hügel mit einem einzelnen Haus, und nach Süden auf den dichten Wald und den Weg, der nach Solata führte. Johannes hatte sich sofort in diesen Platz verliebt und war in jeder freien Minute nach Italien gefahren, hatte Handwerker und Freunde mobilisiert, sich selbst mit unermüdlicher Energie in die Arbeit gestürzt und das Landgut allmählich im Lauf der Jahre in ein Schmuckstück verwandelt."