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Letzte Helden - Reportagen

Landolf Scherzer

 

Verlag Aufbau Verlag, 2010

ISBN 9783841200341 , 208 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz frei

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8,99 EUR


 

Zwei Versuche, mich Tschernobyl zu nähern (S. 59-60)

Erster Versuch

Das ukrainische Wort »Tschernobyl« heißt auf Deutsch »schwarzer bitterer Wermut«. Bei der Kernexplosion im Atomkraftwerk Tschernobyl – der größten technologischen Katastrophe im 20. Jahrhundert – wurde am 26. April 1986 die 3000 Tonnen schwere stählerne Reaktordecke angehoben. Große Mengen radioaktiver Brennstäbe und Graphitelemente wurden in die Luft geschleudert und fielen auf die Dächer der danebenstehenden Reaktoren, die Straßen, Plätze, Äcker und Wiesen der Umgebung. Durch die Explosion wurde sechstausendmal mehr Radioaktivität als durch die Hiroshima-Bombe freigesetzt. Die ersten verstrahlten Menschen starben schon nach zwölf Stunden. Tausende Männer, Frauen und Kinder, die in keiner Statistik erfasst sind, wurden seitdem in der Ukraine und Belorussland Opfer des »unsichtbaren schwarzen Todes«.

20 Jahre nach Tschernobyl fragt mich nach einer Lesung in Berlin eine große und sehr aufrecht gehende Frau verlegen, ob ich mir ihr Buch anschauen würde. Es ist ein dickes, rotweiß kariertes Schulheft. 56 der 120 nummerierten Seiten sind in gestochener Handschrift beschrieben. Auf dem Umschlag steht, von aufgeklebten Klatschmohnblüten gerahmt: »Galina Wolina: Eine Mohnblumenliebe«.*

Die Ukrainerin übersetzt mir die ersten Zeilen ihres Buches. * Name verändert. »Heute ist Serjosha, der zweite Mann meiner besten Freundin Nadeshda, gestorben. Er wäre im November 46 Jahre alt geworden, also 25 Jahre älter als ihr erster Mann, den alle liebevoll ›Paschka‹ genannt hatten. Nadeshdas einziges Kind starb, als es noch nicht geboren worden war, an Lenins 117.Geburtstag am 22. April 1987.«

Unter dem Text ein Foto: Bunt gekleidete Männer, Frauen und Kinder tragen zu Girlanden gebundene Blumen über ihren Köpfen. Hinter ihnen fährt ein LKW, dessen schwarz verhängte Seitenwände heruntergeklappt sind. Auf der Ladefläche steht ein offener Sarg, der nur mit einem Strauß roter Mohnblumen geschmückt ist. Eine kleine Frau – »Das ist Nadeshda «, sagt Galina – geht gebückt und allein hinter dem Auto. Sie hält sich an der Ladefläche des LKWs fest, als wolle sie das Totenauto voranschieben oder anhalten.