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Genau mein Beutelschema - Roman

Sebastian Lehmann

 

Verlag Aufbau Verlag, 2013

ISBN 9783841205865 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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8,99 EUR


 

1
Quit PLAYING GAMES with my Heart


Ich kann nicht glauben, dass sie hier wirklich dieses Lied spielen. Aber die Leute auf der Tanzfläche rasten aus, werfen ihre Hände in die Luft und singen lauthals mit:

»Quit playing games with my heart.«

Ich schaue mich um. Wahrscheinlich waren die alle noch nicht mal in der Schule, als dieses Lied rauskam, ich scheine der Einzige zu sein, der es aus den neunziger Jahren kennt und hasst. Wie alt war ich damals? Sechzehn vielleicht?

»Quit playing Games with my Heart.«

Erinnerungen an meine Schulzeit blitzen auf, Englischstunde bei Mrs. Franzen. Bravo-Starschnitte mit den grinsenden Gesichtern der Backstreet Boys gingen durch die Reihen, und wir Jungs bemalten sie mit Hitlerbärtchen, schließlich verachteten wir Boybands von ganzem Herzen. Aber im Grunde waren wir nur neidisch, weil unsere Angebeteten aus der letzten Reihe Nick Carter viel süßer fanden als uns und lieber mit den Achtzehnjährigen aus der Oberstufe gingen. Hört auf, Spielchen mit meinem Herz zu spielen. Eigentlich war das damals ein Song über mich.

Und jetzt muss ich mir das wieder anhören. Solche Musik hätte ich vielleicht bei Ü30-Partys erwartet, aber nicht in einem illegalen Kellerclub in Neukölln. Inzwischen sind also die neunziger Jahre wieder angesagt. Stecken wir nicht noch mitten im Achtziger-Jahre-Revival? Langsam verliere ich den Anschluss.

»Quit playing Games with my Heart.«

Wie lange dauert dieses Lied denn? Und besteht es nur aus dem Refrain?

Ich gehe zur Bar, die aus einem dilettantisch zusammengezimmerten Holztresen besteht, und bestelle ein Bier.

»Sold out.« Der dürre Barkeeper, der eine lila Federboa trägt, blinzelt mich gelangweilt an. »There’s only Club-Mate-Wodka left«, sagt er in einem hessisch eingefärbten Englisch. Er deutet auf den heruntergekommenen Kühlschrank hinter sich, gefüllt mit unzähligen Flaschen des aufputschenden Teegetränks.

»Okay, then I’ll take one«, sage ich, und der Barkeeper stellt eine große Mate-Flasche vor mich auf den Tresen, ich muss etwas abtrinken, er füllt mit Wodka auf, schüttelt die Flasche kurz und händigt sie mir aus. Sofort nehme ich einen großen Schluck. Ich wünschte, ich wäre jetzt so richtig betrunken, aber wahrscheinlich kann man sich diese Musik nicht einmal schön trinken. Ich dachte, in Neuköllner Clubs spielen sie nur komplizierten Elektro oder deepen Tech-House. Aber nein. Außer man würde »It’s My Life« von Dr. Alban als Elektro bezeichnen.

Die Tanzenden sehen auch nicht gerade so aus, als würden sie zu Hause solch schreckliche Chart-Mucke aus dem vorletzten Jahrzehnt hören. Sie tragen ausgelatschte Bauernstiefel, hautenge Röhrenjeans und ausgeleierte Oversize-T-Shirts mit Brustausschnitten, die beinahe bis zum Bauchnabel reichen, außerdem kleine Wollmützen und riesenhafte Rundschals, obwohl es hier im Keller bestimmt dreißig Grad sind. Ihr wichtigstes Utensil hängt ihnen lässig über der Schulter: ein Stoffbeutel, bedruckt mit grotesk-lustigen Sprüchen, wie zum Beispiel »Du hast keine Angst vorm Hermannplatz« oder »Deine Kinder sind hässlich und dumm. Ich hasse dich, geh doch zurück nach Prenzlberg und trink Bionade, bis du kotzen musst«. Frauen und Männer unterscheiden sich kein bisschen. In Neukölln wurde das dritte Geschlecht erfunden: das Hipster.

»Du tanzt ja gar nicht«, sagt jemand hinter mir, aber in diesem Moment beginnt gerade der schreckliche Neunziger-Trash-Hit »Coco Jamboo« von Mr. President.

»Die Musik«, stammle ich, drehe mich um und schaue einer mir völlig unbekannten, aber ziemlich gutaussehenden Frau in die pastellblauen Augen. Sie trägt ausgelatschte Bauernstiefel, hautenge Röhrenjeans und ein riesiges Oversize-T-Shirt. Auf ihrem Stoffbeutel steht: »Shut up and sleep with me.« Das irritiert mich kurz, aber ich nehme es als gutes Omen.

»Was ist mit der Musik?«, fragt sie und fährt sich mit der Hand durch ihren hellblond gefärbten Undercut.

»Scheißmusik«, präzisiere ich. Ich sollte langsam anfangen, richtige Sätze zu bilden. Schon wieder muss ich an meine Englischlehrerin Mrs. Franzen denken, wie sie mich immer ermahnte: »Please answer in a whole sentence.«

»Als das Lied rauskam, war ich gerade sechs.« Sie lächelt mich an.

Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück. Vielleicht sollte ich mir erst mal ihren Ausweis zeigen lassen, bevor das hier weitergeht.

»Dann bist du noch ziemlich jung?«, rufe ich ihr ins Ohr.

Jetzt lächelt sie nicht mehr.

»Ich bin einundzwanzig Jahre alt, habe letztes Jahr mein Kommunikationsdesign-Studium mit einem Bachelor of Arts abgeschlossen und arbeite jetzt bei Universal als A&R-Managerin.«

Das ist ja schrecklich. Mit einundzwanzig habe ich damals vor zehn Jahren mein Studium ja erst angefangen. Wahrscheinlich verdient dieses junge Ding auch noch doppelt so viel wie ich.

Ich versuche zu lachen, als hätte sie gerade einen Witz gemacht, aber ich ahne schon, dass das ihr purer Ernst war.

»Mir kommt es immer so vor, als seien die Neunziger gerade erst vorbei«, sage ich, werde allerdings von einem ohrenbetäubenden Chor unterbrochen: der Anfang des uralten Hits »Happy People« von Marky Mark.

Meine junge Gesprächspartnerin hüpft sofort los und macht dabei hysterische Armbewegungen. Das sieht ein bisschen lächerlich aus, aber auch ziemlich happy. Dann hört sie zum Glück wieder auf, beugt sich vor und schreit mir ins Ohr: »Wie heißt du?« Dabei kann ich ihren Atem riechen. Er riecht nach Rauch und Club Mate mit einer Note Wodka.

»Ich heiße Marky Mark«, sage ich.

Ich kann mich übrigens grundsätzlich nicht beherrschen, jeden schlechten Witz zu machen, der sich aufdrängt. Aber meine junge Gesprächspartnerin lächelt zum Glück.

»Mein Name ist Christina Aguilera. Vielleicht wollen wir was trinken an der Bar? Was meinst du, Marky?«

Ich überlege, einen Witz über sie als »Genie in a Bottle« zu machen, beherrsche mich aber gerade noch. Christina Aguilera zieht mich durch die Menschenmenge zur Bar und bestellt auf Englisch zwei Wodka-Shots beim hessischen Barkeeper. Wir stoßen an und exen die kleinen Plastikbecher. Sie verzieht kurz ihr Gesicht, und das sieht natürlich wahnsinnig niedlich aus.

»Warum tanzt du denn nicht, Marky?«, fragt sie. »Das ist doch deine Musik.«

»Genau deswegen. Außerdem bin ich doch jetzt Schauspieler.«

»Stimmt, besonders gut hast du mir als Dirk Diggler in Boogie Nights gefallen.«

Ich verschlucke mich an meiner Mate, aber Christina hat sich schon wieder dem Barkeeper zugewandt und verhandelt über eine zweite Runde Wodka. Wir exen abermals die kleinen Becher, und langsam verfliegt meine Nervosität. Ein bisschen eingeschüchtert bin ich doch, man wird schließlich nicht jeden Tag von hübschen Frauen angesprochen. Und Christina Aguilera fällt hier trotz ihrer Neukölln-Uniform auf. Da kann man auch mal über ihre straighte Karriere im bösen Musikbusiness hinwegsehen.

»Bist du hier öfter?«, frage ich schließlich, weil mir nichts Besseres einfällt.

»Der Club hat doch erst letzte Woche aufgemacht.«

Vielleicht sollte ich den Spruch auf ihrem Stoffbeutel wirklich ernst nehmen, zumindest den ersten Teil.

»Irgendwie kommst du mir bekannt vor«, sagt Christina plötzlich ziemlich ernst dreinschauend.

»Ich bin ja auch sehr berühmt«, sage ich.

»Berühmt ja, aber für was?«

»Na ja, ›Dirrty‹ ist jetzt auch nicht gerade das komplexeste und anspruchsvollste Lied.«

»Aber meine Stimme, Marky. Die ist ja wohl spektakulär.« Sie berührt mich beiläufig und lässt ihre Hand ein wenig zu lange auf meinem Arm liegen.

»Ich hab eigentlich nie so sehr auf die Musik geachtet, mich haben eher die Videos interessiert.«

»Dagegen ist der Text von ›Happy People‹ wirklich ein lyrisches Meisterwerk.« Christina beugt sich vor und singt mir noch mal das gerade verklungene Lied ins Ohr:

»I want to see more happy people

Happy people want to see more happy people

Where are all those happy people?«

Sie kann zwar nicht so schön röhren wie ihre Namensvetterin, aber ich bin jetzt trotzdem auch ziemlich happy. Das scheint doch alles gar nicht so schlecht zu laufen.

Auf einmal steht ein Typ neben uns und flüstert Christina Aguilera etwas zu. Er trägt eine dieser riesigen schwarzen Brillen, die man aus Fernsehdokus über die 68er-Proteste und von alten Familienfotos kennt. Nerd-Brillen heißen die inzwischen. Ansonsten sieht er natürlich genauso aus wie alle hier. Auf seinem Stoffbeutel steht: »Ich bin intelligenter und fotogener als du.«

»Mein Kollege Dr. Alban«, stellt Christina ihn mir vor. »Und das ist Marky Mark.« Sie deutet auf mich. Ich muss unkontrolliert lachen, da macht noch jemand gern schlechte Witze. Dr. Alban hält mir aber unbeeindruckt seine Hand hin.

»Unterhaltet euch. Ich geh aufs Klo«, ruft Christina und stolpert Richtung Ausgang.

»Ich bin nicht ihr Freund«, sagt Dr. Alban und sieht mich ausdruckslos an.

Na toll, dann wohl ihr Beschützer, auch nicht besser.

Schon wieder beginnt ein neuer Song, »Hyper Hyper« von Scooter. Unglaublich, ich kenne wirklich jedes Lied.

»Immer wenn man denkt, es könnte nicht schlimmer werden, wird es doch noch schlimmer«, sage ich und beobachte die Hipster-Jünglinge auf der Tanzfläche, wie sie zu diesem unterirdischen...