dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Lesen statt klettern - Aufsätze zur literarischen Schweiz

Hugo Loetscher

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601107 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

[11] Die urbanen Platters – die andere helvetische Tradition

Gemeinhin lassen wir die deutschsprachige Literatur der Schweiz mit Albrecht von Hallers Gedichtband Die Alpen beginnen – aber es gäbe einen anderen Einstieg und eine andere Einsicht.

Zwar sind die Berge auch schon vor Haller bedichtet worden. Aber er war es, der ein Datum setzte. Erst 1732 erlangte die Alpendichtung dank des Berner Aristokraten literarischen Rang.

Nun waren die Alpen nicht irgendein Motiv; sie waren Bekenntnis. Modisch gesprochen: Sie waren identitätstiftend. Nicht umsonst hatte Haller, programmatisch wie entschuldigend, seine Verse »schweizerische« Gedichte genannt.

Die Bergwelt als das feierlich Ureigene – man konnte über sie ganz anderes lesen: Vom »hohen und grusamen Berg« schrieb Thomas Platter. Und das war zweihundert Jahre früher.

Thomas Platter (1499  1582), ein Walliser Geißbub, der die Bergwelt verließ, um in der Stadt seinen Wirkungsraum zu finden. Und Albrecht von Haller, der Städter, der in der Bergwelt göttliche und vaterländische Offenbarung erfuhr, der wanderte durch das Erhabene, ohne sich dort niederzulassen.

Auf der einen Seite Haller, der die Welt der Sennen [12] idyllisierte: »Wann Tugend Müh zur Lust und Armut glücklich macht… man ißt, man schläft, man liebt und danket dem Geschicke.« Auf der andern Seite Platter, der sich erinnert: »Im Sommer mußte ich im Heu liegen, im Winter auf einem Strohsack voller Wanzen und oft auch voller Läuse. So liegen gewöhnlich die armen Hirtlein, die bei den Bauern in den Einöden dienen.« Und manchmal war der Durst so groß, daß sich der Junge in die Hand pinkelte und das eigene Wasser trank. Trotz bitterarmer Jugend (»große armut von mutter lyb an«) erinnert er sich an glückliche Momente wie ans Kristall-Suchen. Aber die Alpen waren bedrohlich – »grausig der Berg«, »grausig der Fels«.

Als Jüngling hatte Platter seine Bergwelt verlassen. Er kehrte gelegentlich noch dorthin zurück. Doch es blieb beim Zwischenhalt; auch wenn er später einmal daran dachte, sich mit seiner Familie im Herkunftstal niederzulassen: Die Absicht blieb von kurzer Dauer, und dies, obwohl die Walliser Regierung ihm das Schulwesen anvertrauen wollte.

Als er seinen Heimatort Grächen zum letzten Mal aufsuchte, war er vierundsechzig, Leiter eines Internats, Rektor der Münsterschule in Basel, ein erfolgreicher Drucker und angesehener Wissenschafter. Die Wiederbegegnung bestätigte Trennung und Abschied, die schon lange vorher stattgefunden hatten. Er hatte als Knabe beim Rodeln einst geglaubt: »Ich könnte es ebenso gut wie meine Brüder.« Aber er machte, übers Rodeln hinaus, die Erfahrung: »Sie waren die Berge besser gewohnt als ich.«

Auf diesem letzten Besuch begleitete ihn sein Sohn Felix (1536  1614), seinerseits ein anerkannter Mediziner, der [13] Würde nach Basler Stadtarzt. Dieser, in der Stadt geboren, hatte Mühe mit der Familienwallfahrt ins Oberwallis. Von ihm als Studenten hatte es geheißen: »Zuerst die medizinische Ausbildung und dann eine reiche Heirat… unser ehrgeiziger Jüngling verliert diese klassischen Wege des sozialen Aufstiegs nicht aus den Augen.« Sein jüngerer Halbbruder wird für ihn die Grabinschrift entwerfen: »Aeskulap seiner Stadt und der ganzen Welt.« Felix Platter hatte andere Reiseerfahrungen gemacht als sein Vater; er hatte in Montpellier Medizin studiert und auf dem Hinritt und dem Rückritt ein Stück Frankreich kennengelernt.

Der Vater, Thomas Platter, hingegen war als junger Geißhirt ausgezogen, um lesen und schreiben zu lernen. Was ihm, der Halbwaise, zu Hause geboten wurde, hatte wenig mit schulischer Bildung zu tun. Der Pfarrer, der sich seiner zeitweilig annahm, war großzügiger mit Schlägen als mit Lektionen; von dieser pädagogischen Methode hatte Platter mitgekriegt, daß es zuweilen für einen Lehrer nützlich ist, den Unterrichtsstoff einzubleuen.

Platter suchte seine Ausbildung jenseits der Berner Alpen, in der Außerschweiz, wie die Walliser noch heute sagen, in Deutschland. Mit »Tütschland« war der deutschsprachige Raum gemeint und damit auch die Schweiz. Er brach in Städte auf wie München und Dresden, wie Naumburg und Breslau. Das war zu einer Zeit, als »Ausland« und »Elend« sprachlich noch die gleiche Bedeutung hatten.

Eine neue Welt tat sich auf, und sei es nur, daß der Walliser Bergbub zum ersten Mal Kachelöfen sah oder Ziegeldächer. Zum ersten Mal begegnete er auch seltsamen Tieren wie Gänsen. Die verlockten zu einer neuen [14] Möglichkeit, sich durchzuschlagen, zum Beispiel zum Gänsediebstahl.

Sechs Jahre zog Platter als fahrender Student durch die deutschen Lande, in Begleitung eines selbstherrlichen Vetters. Der Jüngere, als »Schütze«, mußte, wie es Usance war, in Gegenleistung für den Unterricht sich um den Unterhalt kümmern. Statt daß der Ältere, ein sogenannter »Bacchant«, sich groß um dessen Ausbildung sorgte, nutzte dieser den »Schützen« nach Strich und Faden aus.

Sechs Jahre Vagantentum. Der junge Platter stahl sich durch, wie Not heischte und sich Gelegenheit bot. »Singen gehen« hieß soviel wie betteln. Und Platter lernte singen. Auf unerwartete Weise erfuhr er Sympathie. Nach der Schlacht von Marignano (1515) empfand man europaweit ein Mitgefühl für die geschlagenen Schweizer; die hatten bis dahin als unbesiegbar gegolten. Dank einer helvetischen Niederlage kam Platter zu manchem Notgroschen. Und wenn er gar Walliser Dialekt redete, kriegte er für sein exotisches Deutsch oft einen Sonderbatzen.

Allerdings, als er nach seinen Vagantenfahrten ins Wallis zurückkehrte, wunderten sich nicht nur Familie und Verwandtschaft, wie »fremdländisch« er sprach. Jahrzehnte später wird er seinen Sohn Felix, als dieser von seinem Studium und seinen Reisen aus Frankreich zurückkehrt, mahnen, nicht so ausländisch zu sprechen, sondern sich dem heimisch-langsamen, betulichen Redegang anzupassen. Als sein Sohn Felix ihm Südfrüchte schickte, schrieb er zurück: »Ich bringe das seltsame Zeug nicht herunter; Pomeranzen machen mir lange Zähne, daß ich beim Brot nicht beißen mag; Granatäpfel sind langweilig zu speisen. Ich esse nach [15] meinem alten Brauch ein gut Stück Habermus wie die andern Bauern.« In solchen Momenten kam in dem Basler Humanisten der Bergler hoch, der auch nicht alle groben Scherze der Herkunft aufgegeben hatte.

»I wott id Schuel« – Platters Wunsch gibt einen Slogan ab für die Geschichte unseres Bildungswesens: »Ich will in die Schule.«

Was sich als älteste Demokratie rühmt, kennt erst dank eines Heinrich Pestalozzi seit gut zweihundert Jahren die demokratische Möglichkeit, daß alle in die Schule gehen können – was auch soviel heißen kann wie Schulzwang. Der Autodidakt (»Ich will in die Schule«) stellt in unserer Literaturgeschichte einen Typus dar: sei es Ulrich Bräker, der arme Mann aus dem Toggenburg, oder Kleinjogg, der philosophische Zürcher Bauer. Ich will in die Schule, und wenn ihr mich nicht laßt, bau ich mir selber eine. So schulfreundlich war das Land nicht immer und nicht überall. Im neunzehnten Jahrhundert wird Jeremias Gotthelf darüber einen Roman schreiben, wie die Einwohner der Vehfreude sich gegen den Bau eines Schulhauses aussprechen zugunsten einer Käserei.

Platter entschied sich nach seinem studentischen Vagantentum und einem kurzen Abstecher ins heimatliche Wallis für Zürich. Bei Myconius, dem Schulmeister am Fraumünsterstift, lernte er Latein. Griechisch erwarb er sich im Selbststudium; wo er keinen Lehrer hatte, machte er sich selber zu einem. Ein Bildungswille, der sich durch keine Umstände kleinkriegen ließ. Nachts stand er heimlich auf, um seinen Homer zu lesen. Seine Hebräisch-Kenntnisse erwarb er, indem er zur nächtlichen Stunde eine Grammatik [16] abschrieb, während deren Verfasser schlief. Seine Situation verbesserte sich, als der Autodidakt selber Lehrer wurde. Er wurde Hauslehrer bei Heinrich Werdmüller, einem Müller und Ratsherrn, das bedeutete Kost und Logis. Er übte mit den übrigen Tischgängern von Myconius Grammatik. Und zwischendurch fand er ein Auskommen, indem er sich in Zürichs Umgebung als Hebräisch-Lehrer anbot.

Als er mit einer ersten ordentlichen Ausbildung begann, war er längst über das übliche Studentenalter hinaus. Er hatte sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen, lebte zeitweilig in einem Halbbordell, besorgte Botengänge, darunter hochpolitische und höchst gefährliche. Als Hühnerhändler verkleidet, schmuggelte er Nachrichten nach Zürich, um Huldrych Zwingli über die Disputationen zu informieren, von denen der Reformator ausgeschlossen war, bei denen aber die Sache der Reformation verhandelt wurde.

Der Wechsel vom Wallis nach Zürich war kein bloßer Ortswechsel, Platter hatte nicht einfach die Berge gegen eine Stadt eingetauscht. Der Geißbub, für den zu Hause vielleicht die Ausbildung zum Priester möglich gewesen wäre, ließ den Katholizismus seiner Kindheit hinter sich; er bekannte sich zur Lehre von Zwingli. Als Protestaktion mag man die Szene deuten, die er nicht ungern weitergab: Als er als Kustos die Kirche heizen sollte, machte er mangels Brennmaterials mit einer Johannes-Statue Feuer; der Evangelist erwies sich als tauglicher Wärmespender.

Wenn sich Platter mit Hanf eindeckte und die Seilerei erlernte, dann nicht nur, um einen Brotberuf zu haben. Der Religionsmeister Zwingli hatte das Handwerk als Gegenmittel zum unverbindlichen Disputieren und Spekulieren [17] empfohlen. Angesichts mancher...