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Die Waldsteinsonate - Fünf Novellen

Hartmut Lange

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601060 , 112 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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16,99 EUR


 

[13] Meine Adresse weiß ich nicht mehr: nehmen wir an, daß sie zunächst der Palazzo del Quirinale sein dürfte.«

Das letzte, dessen er sich erinnern konnte, war ein Gefühl, unaufhörlich zu wachsen, ein Gehoben-Werden jenem Licht zu, das er vom Engadin her kannte. Es war ein inwendiges Ausufern ins Unendliche, und doch konnte er von der Vorstellung nicht lassen, bei aller Entfesselung, die der Geist an ihm vornahm, auf irgendeine Weise gekreuzigt zu sein.

Zwei Tage vorher war er noch mit irdischen Verwicklungen beschäftigt, er spürte dieser und jener Fährte nach, die seine Existenz zu bestätigen schienen. Es waren Nachrichten aus Paris, Kopenhagen, St. Petersburg, aber sie konnten ihm, dem Verhungernden, keine Nahrung mehr zuführen, und so schrieb er jenen denkwürdigen Satz:

»Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine hundsgemeine Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts anderes bin.«

Man schrieb die ersten Januartage des Jahres 1889. Das Wetter in Turin war strahlend, aber doch [14] von jener Gebrochenheit, die dem italienischen Himmel aufgenötigt wird, wenn die Sonne den Horizont nicht mehr hinter sich lassen kann. Die Enge des Zimmers, das ihm zugewiesen worden war, deprimierte ihn nicht mehr, da alle Dinge, die er wahrnahm, aus ihm selbst zu kommen schienen, so auch die nachlässigen Handreichungen des Cameriere während der täglichen Mahlzeit und die Blicke der Passanten, wenn er die Straße zur Osteria überquerte.

Er war nun gesichert. Er war in der Zuversicht, Gott zu sein, Ursprung und Einheit aller Dinge, und er war entschlossen, von dieser Zuversicht Gebrauch zu machen, wann immer es ihm beliebte. Denn dieses Belieben war es ja, nach dem er sich gesehnt hatte, wenn die Dinge um ihn her sein Selbstgefühl auf hartnäckige Weise in Frage gestellt hatten, so daß er gezwungen war, dem vorzubeugen, indem er sich in vollkommener Einsamkeit, den Blick auf Schneefelder gerichtet, hoch in die Lüfte erhob, in der Hoffnung, man würde soviel Auftrieb letzten Endes doch anerkennen müssen. Und wie oft war er gezwungen, wenn diese Anerkennung ausblieb, am eigenen Bewundern ein Genüge zu haben.

Nun brauchte er keine Bewunderung mehr, er war die Bewunderung selbst. Briefe waren noch zu schreiben, Botschaften übermütiger Gelassenheit, [15] Nachrichten darüber, daß er alles, was ihn sterblich und also verwundbar machen konnte, hinter sich gelassen hatte.

»Ah, Freund! Welcher Augenblick! – Als Ihre Karte kam, was tat ich da… Es war der berühmte Rubicon…«

Er ging die vier, fünf Schritte in seinem Zimmer auf und ab wie jemand, der sich darin gefällt, nicht durch die Wände zu gehen. Die Stiege nahm er behutsam, mit durchgedrückten Knien, den Kopf hoch erhoben, er hätte fliegen können, aber dies wäre ihm billig erschienen. Und so ging er auch die Straße entlang, Schritt für Schritt, jedem Hindernis fast bis zur Umständlichkeit ausweichend. Er wollte die Passanten bitten, ihr zustimmendes Lächeln zu unterlassen, ihm fiel aber immer wieder rechtzeitig ein, daß er es selbst war, der sich begegnete, oder daß zumindest alle Dinge den Schein ihrer Unabhängigkeit nur wahren konnten, weil seine Bescheidenheit es verlangte. Dies hatte er notiert, aber nun war auch diese Notiz der Post übergeben.

Vor dem Palazzo Carignano sah er in das Gewimmel, und während er prüfte, ob es der Mühe wert war, diese Ansammlung menschlicher Unerheblichkeiten erschaffen zu haben, entdeckte er ein Pferd und wie dieses, da der Karren, den es ziehen sollte, zu schwer war, auf den vorderen Hufen ausrutschte, [16] und wie der Kutscher, erbittert vor Wut, mit einer Peitsche auf die Kreatur einschlug und wie sie bei jedem Versuch, das Unmögliche, das man von ihr erzwingen wollte, doch noch zu leisten, hoffnungsloser und endgültiger auf den Knien zusammenbrach. Es war ein Bild des Jammers.

Er ging auf den Kutscher zu und wollte ihn energisch zurechtweisen, wie er dazu käme, ein Tier, das in jeder Hinsicht höher stünde als er, derart zu quälen und ob er nicht wisse… Aber plötzlich schien ihm das Gefühl der Allmacht, jenes Ausufern ins Unendliche wie das Spannen einer Feder, die, je mehr man sie dehnt, an Kraft und Widerstand zunimmt, bis sie jenen Zustand erreicht, wo sie zurückschlagen muß. Er konnte den Blick von der Peitsche nicht mehr wenden, das verzerrte Gesicht des Fluchenden, dieses unnachgiebige, bis in den äußersten Willen angestrengte Wüten, bäumte sich vor ihm auf wie eine Wand. Nun sank sein Mut, der eben noch alle Grenzen überstiegen hatte, ins Unerhebliche. Er begann zu schluchzen, warf sich dem Pferd um den Hals, wobei er ins Stolpern kam, und als einige Männer ihn fassen wollten und als auch der Kutscher, ernüchtert durch die überfallartige Verzweiflung des Fremden, ihm hilfreich die Hand reichte, stieß er Schreie der Empörung aus. Er verfluchte die Welt, nannte das Tier seinen Bruder und hing noch [17] haltloser, noch unlösbarer mit dem Pferd verbunden, an dessen Hals, und jeder sah, daß hier jemand ein für allemal die Fassung seines Lebens verloren hatte.

Man brachte ihn auf sein Zimmer. Er war immer noch außer sich, konnte aber die Fragen, die man ihm nach Herkunft, Alter, Beschäftigung stellte, klar beantworten. Überhaupt schien es unnötig, sich um ihn, der immer wieder versicherte, er brauche Schlaf, einen tiefen, ausgiebigen Schlaf, sonst nichts, weiter zu kümmern. Eine halbe Stunde später lag er mit weit von sich gestreckten Armen reglos da, er atmete tief, ruhig, als wäre es ihm gelungen, seine übermäßige Wachheit noch einmal zu besänftigen.

Was träumte er? Unwichtig. Vielleicht sah er etwas Herbstliches. Oder ein Boot, das vom Ufer weggestoßen wurde. Ein, zwei stumme Zypressen… Er schrie auf, sprang vom Bett, und als er die Augen öffnete, als er das dämmrige Licht sah, das durch die kleinen Fenster in seine Stube eindrang, wußte er, daß er gestorben war. Er stand ganz still. Für Augenblicke nichts weiter als Erleichterung. Vorbei. Et in arcadia ego. Er hatte auch das letzte Problem hinter sich gelassen: Die Zeit. Ein Lächeln, ein zustimmendes Nicken. Aber wer war er? Auch die Ewigkeit hatte einen Namen.

Er lief zu dem Stummen Diener, an dem seine [18] Jacke hing, riß die Dokumente aus der Tasche. Die Hände zitterten ihm, als er sein passeport auseinanderfaltete, und was er nun lesen mußte, war allerdings entsetzlich. Da stand in einer steilen, allzu deutlich gehaltenen Schrift ein Name, den er kannte: FRIEDRICH WILHELM NIETZSCHE!

›Da hast du sie‹, dachte er und spürte einen Schlag und wie ihm ein eisernes Viereck (war es ein Spaten?) langsam, aber unwiderruflich durchs Gehirn zog. ›Da hast du sie, die ewige Wiederkehr des Gleichen, die du dir gewünscht hast. Und nichts wird sich ändern! Dieselbe Hölle der Einsamkeit!‹

Ihn fröstelte. Er rief nach dem Wirt, verlangte ein Glas Wasser, ließ es aber zurückgehen, weil es nicht durchsichtig genug war. Ein neues Glas Wasser! Dies trank er wie ein Fiebernder in ein, zwei Zügen leer, dann wies er schon mit hilfloser Geste auf seinen Magen und teilte dem Wirt mit, er hätte sich überanstrengt.

Auf dem Hof, den er nur mit Mühe, beide Hände gegen den Leib gepreßt, erreichte, mußte er sich übergeben, und es war ihm, als würde er in ein Meer von Übelkeit getaucht und als könne er diesen Zustand keine Sekunde länger ertragen. Er preßte den Ärmel seiner Bluse gegen den Mund, weil er wußte, daß heftige Konvulsionen folgen würden, dabei fiel sein Blick auf einen leeren Blumenkübel. Nun erst bemerkte er, daß ein Kind in unmittelbarer [19] Nähe auf eben diesem Kübel saß und ihn mit großen Augen ansah, unbeweglich, gebannt vom Elend eines Erwachsenen. Er vergaß seine Beschwerden, war nun seinerseits gebannt von dieser ruhigen, selbstverständlichen Art zu staunen, er nickte mit dem Kopf und sagte:

»Ganz recht. Ja, so machen wir’s. Die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.«

Dann wandte er sich ab. Wehmut überfiel ihn, Selbstmitleid, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er ging, so wie er war, ohne Jacke, die Ärmel seiner Bluse halb aufgekrempelt, in jene Osteria, in der er seit Tagen nur noch Wein und Brot, hin und wieder ein Glas Wasser zu sich genommen hatte.

Auf der Straße zeigte er sich beeindruckt darüber, daß ein derart unschuldiges, voraussetzungsloses Staunen, wie er es eben erlebt hatte, überhaupt möglich war und daß er den Zustand des Kindes an sich selbst nie erfahren hatte. Er hielt Ausschau, ob ihm das gleiche Erlebnis im Gedränge des Marktes, den er überquerte, noch einmal begegnen würde, aber er fand nichts.

In der Osteria setzte er sich stumm an einen Tisch, und als der Cameriere ihm mit einem Lächeln, ohne zu fragen, alles Gewohnte, die gefüllte Karaffe, die Schale mit dem Brot, das Salz, vorsetzte, fühlte er sich wie ein reumütiges Kind, [20] das nach einer langen, langen Zeit der Widersetzlichkeit Abbitte zu leisten gewillt ist.

»Mein Herr«, sagte er, »was ein Genie seinem Zeitalter übelnimmt, übelnehmen muß, ist nicht das Unverständnis, sondern das geringschätzige Lächeln, das dieses Unverständnis begleitet. Ich habe Bücher geschrieben, so tief, so in Sprache abgefaßt, ich verbeuge mich vor mir selbst, ich habe keinen Bedarf nach fremden Verbeugungen. Aber das gewisse Lächeln, mein Herr, dieses gewisse Lächeln hat mich zum Hammer greifen lassen.«

»Certo, certo«, antwortete der Cameriere und ging fort. Nietzsche wollte dessen Hand ergreifen, faßte aber ins Leere. Einen Augenblick...