dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Tiefe Wasser

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601015 , 416 Seiten

4. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

[9] 1

Vic tanzte nicht, allerdings nicht aus den Gründen, die sich die meisten Nichttänzer dafür zurechtlegen. Er tanzte schlicht deshalb nicht, weil seine Frau gern tanzte. Seine verstandesmäßige Erklärung für diese Haltung war dürftig, und er nahm sie sich keinen Moment lang ab, obwohl sie ihm jedesmal in den Sinn kam, wenn er Melinda tanzen sah: sie wirkte unerträglich albern, wenn sie tanzte. Sie machte das Tanzen zu einer peinlichen Angelegenheit.

Er wurde sich, allerdings nur sehr am Rande, bewußt, daß sie ganz kurz in sein Gesichtsfeld wirbelte; nur weil er mit jedem Detail ihrer äußeren Erscheinung vertraut war, hatte er überhaupt gemerkt, daß sie es war. Ruhig hob er sein Glas Scotch mit Wasser und nippte daran.

Er saß mit nichtssagendem Gesichtsausdruck in krummer Haltung auf der gepolsterten Bank, am Antrittspfosten der Mellerschen Treppe, starrte auf das wechselnde Muster der Tänzer und nahm sich vor, wenn er heute nacht nach Hause kam, noch einen Blick auf seine Kräuterkästen in der Garage zu werfen, um festzustellen, ob der Fingerhut schon aufgegangen war. Er zog im Augenblick mehrere Arten von Kräutern, denen er halb soviel Licht und Wasser zukommen ließ, wie sie normalerweise bekamen, um ihr Wachstum zu hemmen und so ihren Duft zu steigern. [10] Er stellte die Kästen jeden Nachmittag um ein Uhr, wenn er zum Mittagessen nach Hause kam, in die Sonne, und schaffte sie um drei, wenn er in seine Druckerei zurückkehrte, wieder in die Garage.

Victor Van Allen war sechsunddreißig, von annähernd mittlerer Größe, neigte eher zu einer kompakten Rundlichkeit als zu Korpulenz und hatte dichte, drahtige Augenbrauen, die unschuldige blaue Augen überwölbten. Sein braunes Haar war glatt, kurz geschnitten und wie seine Augenbrauen dicht und struppig. Sein Mund war ebenfalls von mittlerer Größe und normalerweise am rechten Winkel heruntergezogen – ob in schiefer Entschlossenheit oder humorvoll, war Ansichtssache. Es war der Mund, durch den sein Gesicht etwas Zweideutiges bekam – denn man konnte auch eine gewisse Bitterkeit hineindeuten –, weil seine blauen Augen – groß, intelligent und abgeklärt – keinerlei Hinweis darauf lieferten, was er dachte oder empfand.

In den letzten Sekunden hatte der Geräuschpegel um ungefähr ein Dezibel zugenommen, und als Reaktion auf die lateinamerikanische Musik, die seit kurzem spielte, wurde nun ausgelassener getanzt. Der Lärm beleidigte sein Ohr, aber er blieb trotzdem sitzen, obwohl er den Flur entlang in das Arbeitszimmer seines Gastgebers hätte spazieren und dort in den Büchern hätte schmökern können, wenn er Lust dazu gehabt hätte. Er hatte genügend getrunken, um ein schwaches, rhythmisches Summen in seinen Ohren auszulösen, das er als gar nicht so unangenehm empfand. Vielleicht sollte man auf einer Party oder überhaupt bei jeder Zusammenkunft, wo es Alkohol gab, seinen Konsum dem zunehmenden Lärmpegel anpassen. Den [11] Lärm mit selbst produziertem Lärm von sich abhalten. Im Kopf einen hübschen Wirrwarr lustiger Stimmen erzeugen, das erleichterte manches. Nie ganz nüchtern, nie ganz betrunken sein. Dum non sobrius, tamen non ebrius. Ein schöner Grabspruch für ihn, nur leider nicht zutreffend, dachte er. Schlicht und unergreifend war es nun einmal so, daß er es die meiste Zeit vorzog, hellwach zu sein.

Unwillkürlich konzentrierte sich sein Blick auf das plötzlich sich herausbildende Muster: eine Conga-Reihe. Und ebenso unwillkürlich machte er Melinda ausfindig, die jemandem ein unbekümmertes Fang-mich-doch-Lächeln über die Schulter zuwarf, und dieser Jemand über ihrer Schulter, ja fast schon in ihrem Haar, war Joel Nash. Vic seufzte und nahm einen Schluck. Für einen Mann, der letzte Nacht bis drei und die Nacht davor bis fünf getanzt hatte, hielt sich Mr. Nash sehr gut.

Vic fuhr zusammen, als er eine Hand auf seinem linken Ärmel spürte, aber es war nur die alte Mrs. Podnansky, die sich zu ihm herbeugte. Er hatte schon fast vergessen, daß sie da war.

»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Vic. Macht es Ihnen wirklich nichts aus, ihn selbst abzuholen?« Das gleiche hatte sie ihn schon vor fünf oder zehn Minuten gefragt.

»Aber nein«, sagte Vic lächelnd und stand mit ihr zusammen auf. »Ich komme morgen so gegen Viertel vor eins vorbei.«

Genau in diesem Moment beugte sich Melinda über Mr. Nashs Arm zu ihm hin und sagte, obwohl sie Vic ansah, Mrs. Podnansky fast ins Gesicht: »Na, du Miesepeter! [12] Warum tanzt du nicht?« Und Vic sah, wie Mrs. Podnansky zusammenfuhr und sich mit einem Lächeln wieder fing, ehe sie sich entfernte.

Mr. Nash bedachte Vic mit einem glücklichen, leicht beschwipsten Lächeln, während er mit Melinda davontanzte. Wie sollte man dieses Lächeln nennen? fragte sich Vic. Kameradschaftlich. Das war das Wort. So hatte es wirken sollen. Vic wandte bewußt den Blick von Joel ab, obwohl er gerade einem bestimmten Gedankengang nachhing, der mit dem Gesicht des anderen zu tun hatte. Es war nämlich weniger Joels Verhalten – heuchlerisch, leicht verlegen, unreif –, das ihn irritierte, als vielmehr dessen Gesicht. Diese jungenhaften Pausbacken, das hübsch gewellte, hellbraune Haar, die regelmäßigen Züge, die die Frauen, die ihn mochten, als nicht zu regelmäßig bezeichnen würden. Die meisten Frauen fanden ihn vermutlich gutaussehend: Mr. Nash, der ihm gestern nacht sechs-, achtmal sein leeres Glas gereicht und dabei vom Sofa zu ihm aufgeblickt hatte, als schämte er sich dafür, daß er noch etwas trank, daß er noch eine Viertelstunde blieb, dabei hatte in seiner Miene eine gewisse naßforsche Frechheit überwogen. Bis jetzt, dachte Vic, hatten Melindas Freunde wenigstens mehr Verstand oder weniger Frechheit besessen. Joel Nash würde allerdings nicht für immer in der Gegend sein. Er war Vertreter der Furness-Klein Chemical Company in Wesley, Massachusetts, und nur für ein paar Wochen hier, um an einer Schulung über die neuen Produkte der Firma teilzunehmen. Hätte er vorgehabt, sich in Wesley oder Little Wesley häuslich niederzulassen, würde er, da hatte Vic keinen Zweifel, über kurz oder lang Ralph Gosdens Platz [13] einnehmen, ungeachtet dessen, wie sehr er sie langweilen oder sich in anderer Hinsicht als Niete entpuppen würde, denn einem gutaussehenden Gesicht, oder was sie dafür hielt, hatte Melinda noch nie widerstehen können. Und in Melindas Augen sah Joel bestimmt besser aus als Ralph.

Vic blickte auf und sah Horace Meller vor sich stehen. »Hallo, Horace. Suchst du einen Sitzplatz?«

»Nein, danke.« Horace war ein schmächtiger Mann, mittelgroß, mit grauen Schläfen, einem schmalen, empfindsamen Gesicht und einem ziemlich buschigen schwarzen Schnurrbart. Sein Mund unter dem Schnurrbart trug das höfliche Lächeln des nervösen Gastgebers. Horace war immer nervös, obwohl die Party so gut lief, wie man sich das als Gastgeber nur wünschen konnte. »Was tut sich in der Druckerei, Vic?«

»Wir machen gerade den Xenophon fertig«, antwortete Vic. Bei dem Lärm konnten sie sich nicht besonders gut unterhalten. »Warum schaust du nicht einmal abends vorbei?« In der Druckerei, meinte Vic. Er war stets bis sieben da und ab fünf allein, weil Stephen und Carlyle um fünf nach Hause gingen.

»Ja, mache ich«, sagte Horace. »Hast du noch zu trinken?«

Vic nickte.

»Bis dann«, sagte Horace und entfernte sich.

Sobald er gegangen war, spürte Vic eine Leere. Eine Peinlichkeit. Etwas Ungesagtes, und er wußte auch, was das war: Horace hatte taktvollerweise davon abgesehen, Mr. Joel Nash zu erwähnen. Hatte nicht gesagt, Joel sei nett oder willkommen, hatte sich nicht näher nach ihm [14] erkundigt oder irgendwelche Banalitäten von sich gegeben. Daß Joel zu der Party eingeladen worden war, hatte Melinda gedeichselt. Vic hatte sie vorgestern mit Mary Meller telefonieren hören: »…na ja, nicht direkt unser Gast, aber wir fühlen uns für ihn verantwortlich, weil er in der Stadt nicht so viele Leute kennt… Ach, danke, Mary! Ich dachte mir schon, daß du nichts gegen einen zusätzlichen Mann hättest, noch dazu einen so gutaussehenden…« Dabei kriegte man Melinda nicht einmal mit einem Brecheisen von ihm weg. Noch eine Woche, dachte Vic. Noch genau sieben Nächte. Mr. Nash reiste am ersten ab, einem Sonntag.

Sein Glas in der Hand, erschien Joel Nash, der in seinem breitschultrigen weißen Jackett leicht schwankend vor ihm aufragte. »Guten Abend, Mr. Van Allen«, sagte er mit gespielter Förmlichkeit und ließ sich auf den Platz plumpsen, auf dem eben noch Mrs. Podnansky gesessen hatte. »Wie geht es Ihnen?«

»Ach, wie üblich«, sagte Vic lächelnd.

»Zwei Dinge wollte ich Ihnen sagen«, sagte Joel mit plötzlichem Enthusiasmus, als wären sie ihm gerade eben erst eingefallen. »Das eine ist, daß ich gebeten worden bin, noch ein paar Wochen länger hier zu bleiben – von meiner Firma –, deshalb hoffe ich, ich kann mich bei Ihnen beiden für die große Gastfreundschaft revanchieren, die Sie mir in den letzten Wochen erwiesen haben, und –«, Joel verstummte mit einem jungenhaften Lächeln und zog den Kopf ein.

Melinda hatte eine natürliche Begabung dafür, Leute wie Joel Nash zu finden, dachte Vic. Kleine Geistesverwandtschaften. »Und das zweite?«

[15] »Das zweite – na ja, als zweites möchte ich Ihnen sagen, wie toll ich es von Ihnen...