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Zwei Fremde im Zug

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257600964 , 464 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[9] 1

In störrischem, unregelmäßigem Rhythmus jagte der Zug dahin. Er mußte häufiger an kleineren Bahnhöfen halten, wo er ungeduldig wartete, bevor er sich wieder in die Prärie fraß, aber von einem Vorankommen war kaum etwas zu merken. Die Prärie wellte sich wie eine große, rötlichbraune Decke, die nachlässig geschüttelt wird. Je schneller der Zug fuhr, desto lebhafter und kecker die Wellen.

Guy löste den Blick vom Fenster und schob sich im Sitz zurecht.

Bestenfalls, dachte er, würde Miriam die Scheidung hinauszögern. Vielleicht wollte sie nicht einmal die Scheidung, sondern nur Geld. Würde er die Scheidung von ihr überhaupt je erreichen?

Er merkte, daß der Haß sein Denken trübte und die Wege, die ihm in New York die Logik gewiesen hatte, in Sackgassen verwandelte. Er spürte Miriam, die ihn erwartete – nicht mehr allzu fern, rosig und sommersprossig –, und eine ungesunde Hitze ging von ihr aus wie von der Prärie vor dem Zugfenster: mürrisch und grausam.

Automatisch griff er nach einer Zigarette, erinnerte sich zum x-ten Mal an das Rauchverbot im Pullmanwagen und nahm sie trotzdem. Er klopfte sie zweimal gegen das [10] Zifferblatt seiner Uhr, las die Zeit ab – siebzehn Uhr zwölf, als ob das jetzt wichtig wäre – und schob sich die Zigarette im Mundwinkel zurecht, bevor er sie hinter vorgehaltener Hand anzündete. Dann verbarg er statt des Streichholzes die Zigarette in der gewölbten Hand und rauchte mit langen, gleichmäßigen Zügen. Immer wieder sahen seine braunen Augen zu der schroffen, faszinierenden Landschaft vor dem Fenster hinaus. Ein Kragenzipfel seines Hemds richtete sich auf. Im Spiegelbild, das in der hereinbrechenden Dunkelheit auf der Fensterscheibe sichtbar wurde, sah die weiße Kragenecke vor seinem Kinn wie auch sein schwarzes Haar, das oben lang und hinten kurz geschnitten war, wie aus dem letzten Jahrhundert aus. Die Frisur und seine lange Nase verliehen ihm etwas Zielgerichtetes, Bestimmtes, wenngleich die starke, gerade Linie der Brauen und des Mundes von vorne den Eindruck von Stille und Zurückhaltung weckten. Er trug Flanellhosen, die gebügelt gehörten, ein dunkles Jackett, das locker auf seinem schlanken Oberkörper saß und im Lichtschein schwach purpurn schimmerte, sowie eine tomatenrote Wollkrawatte mit locker gebundenem Knoten.

Daß Miriam schwanger war, konnte er sich nicht vorstellen, es sei denn, sie wollte es. Was hieße, daß ihr Liebhaber sie heiraten wollte. Aber warum wollte sie ihn sehen? Um die Scheidung zu bekommen, brauchte sie ihn nicht. Und warum mühte er sich wieder mit den gleichen fruchtlosen Gedanken ab wie vor vier Tagen, als er ihren Brief erhalten hatte? Die fünf, sechs Zeilen in Miriams Schülerschrift hatten nur besagt, daß sie ein Kind erwartete und ihn sehen wollte. Ihre Schwangerschaft bedeutete die [11] Scheidung, sagte er sich eindringlich, warum also seine Nervosität? Der Verdacht, daß er möglicherweise eifersüchtig war, weil sie das Kind eines anderen austragen würde und das seine abgetrieben hatte, quälte ihn ganz entsetzlich. Nein, sagte er sich, was ihn bedrückte, war nur die Scham, daß er jemanden wie Miriam hatte lieben können. Er drückte seine Zigarette auf dem Gitter der Heizungsverkleidung aus. Der Stummel rollte ihm vor die Füße, und er beförderte ihn mit einem Tritt unter die Heizung.

Es gab so vieles, auf das er sich freuen konnte: seine Scheidung, die Arbeit in Florida – es war so gut wie sicher, daß der Ausschuß seine Entwürfe annehmen würde, und er würde es im Lauf der Woche erfahren – und Anne. Er und Anne konnten nun endlich Pläne schmieden. Über ein Jahr lang hatte er unter Bangen darauf gewartet, daß etwas geschah – daß dies geschah –, was ihn befreite. Ein starkes, herrliches Glücksgefühl durchströmte ihn mit einemmal, und er lehnte sich entspannt in dem Plüschsitz zurück. Er hatte tatsächlich die letzten drei Jahre darauf gewartet, daß so etwas geschah. Gewiß, er hätte sich freikaufen können, aber selbst dazu fehlte ihm das Geld. Als selbständiger junger Architekt zu überleben war nicht einfach gewesen, und es war auch jetzt noch nicht einfach. Miriam hatte ihn nie um regelmäßige Unterhaltszahlungen angegangen, aber sie hatte ihm auf andere Weise das Leben schwergemacht, indem sie in Metcalf über ihn sprach, als hätten sie noch immer das denkbar beste Verhältnis zueinander, als wäre er nur nach New York gegangen, um eine Stelle zu finden und sie später nachzuholen. Bisweilen bat sie ihn um Geld, kleine, aber ärgerliche Beträge, die er immer schickte, weil [12] ihr zuzutrauen war, daß sie sonst in ganz Metcalf schlecht über ihn sprach, und in Metcalf lebte seine Mutter.

Ein großgewachsener, blonder junger Mann in einem rostfarbenen Anzug ließ sich auf den Sitz gegenüber fallen, machte es sich in der Ecke bequem und setzte ein unverbindlich freundliches Lächeln auf. Guy warf einen Blick auf das blasse, unentwickelte Gesicht. Mitten auf der Stirn prangte ein riesiger Pickel. Guy sah wieder aus dem Fenster.

Der junge Mann gegenüber schien unentschlossen, ob er ein Gespräch anfangen oder schlafen sollte. Sein Ellbogen rutschte immer wieder die Fensterbank entlang, und jedesmal wenn die kurzen Wimpern sich öffneten, sahen die grauen, blutunterlaufenen Augen Guy an, und das weiche Lächeln kehrte zurück. Vielleicht war der Mann leicht angetrunken.

Guy schlug sein Buch auf, aber nach einer halben Seite schweiften seine Gedanken ab. Er sah auf, als die weiß leuchtenden Deckenlichter eines nach dem anderen eingeschaltet wurden; sein Blick wanderte zu der unangezündeten Zigarre, mit der eine knochige Hand im Gespräch hinter dem Rücken eines Sitzes heftig gestikulierte, und zu dem Monogramm, das an einem dünnen Goldkettchen auf der Krawatte des jungen Manns im Sitz gegenüber zitterte. Das Monogramm lautete CAB, und die handbemalte Krawatte aus grüner Seide zierten geschmacklos grellorangene Palmen. Der lange rostfarbene Körper war nun ausgestreckt, verletzlich, mit zurückgelehntem Kopf, so daß der große Pickel oder Furunkel auf der Stirn aussah wie der Krater eines Vulkans. Es war ein interessantes Gesicht, ohne daß Guy hätte sagen können, warum, weder jung [13] noch alt, weder intelligent noch gänzlich dümmlich. Zwischen der schmalen, vorgewölbten Stirn und dem breiten Kinn beschrieb es einen degenerierten Bogen nach innen, tief innen, wo der schmale Mund lag, noch tiefer in den bläulichen Höhlen mit den kleinen Augendeckeln. Die Haut war so weich wie die eines Mädchens, wachsklar, als hätten all ihre Unreinheiten nur diesen einen Pickel genährt.

Guy nahm sein Buch wieder auf. Die Worte wurden verständlich und beruhigten ihn. Aber was nützt Platon gegen Miriam, fragte ihn eine innere Stimme. Sie hatte ihn das schon in New York gefragt, aber er hatte das Buch trotzdem mitgenommen, ein altes Lehrbuch aus einem Philosophieseminar, vielleicht zum Ausgleich dafür, daß er die Reise zu Miriam unternehmen mußte. Er sah aus dem Fenster, erblickte darin sein Spiegelbild und zupfte seinen Kragen zurecht. Das tat sonst immer Anne für ihn. Mit einemmal kam er sich ohne sie hilflos vor. Er bewegte sich, stieß dabei versehentlich an den Fuß des schlafenden jungen Mannes und beobachtete fasziniert, wie dessen Lider zuckten und sich öffneten. Die blutunterlaufenen Augen sahen aus, als hätten sie ihn vielleicht schon vorher durch die halbgeschlossenen Lider beäugt.

»Tschuldigung«, murmelte Guy.

»Schon gut«, sagte sein Gegenüber. Er setzte sich auf und schüttelte heftig den Kopf. »Wo sind wir?«

»Bald in Texas.«

Der blonde junge Mann holte einen Flachmann mit goldener Flüssigkeit aus der Innentasche seines Jacketts, schraubte ihn auf und hielt ihn Guy hin.

[14] »Nein, danke«, sagte Guy. Die Frau auf der anderen Seite des Gangs, die seit St. Louis nicht von ihrem Strickzeug aufgeblickt hatte, sah, wie Guy bemerkte, plötzlich zu ihnen herüber, als die Flasche quietschend geöffnet wurde.

»Wohin geht die Reise?« Das Lächeln war jetzt ein schmaler, feuchter Halbmond.

»Metcalf«, sagte Guy.

»Oh, nette Stadt, Metcalf. Geschäftlich unterwegs?« Er blinzelte höflich mit seinen entzündeten Augen.

»Ja.«

»Und in was für Geschäften?«

Guy sah unwillig von seinem Buch auf. »Ich bin Architekt.«

»Oh.« Mit versonnener Neugier. »Häuser und so?«

»Ja.«

»Habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Er erhob sich halb vom Sitz. »Bruno. Charles Anthony Bruno.«

Guy reichte ihm kurz die Hand. »Guy Haines.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Leben Sie in New York?« Die heisere Baritonstimme klang falsch, als redete er, um sich wachzurütteln.

»Ja.«

»Ich wohne auf Long Island. Fahre nach Santa Fe, um ein bißchen auszuspannen. Waren Sie schon mal in Santa Fe?«

Guy schüttelte den Kopf.

»Tolle Stadt zum Ausspannen.« Er lächelte und enthüllte dabei schlechte Zähne. »Hauptsächlich Indianerarchitektur, vermute ich.«

[15] Ein Schaffner blieb im Gang stehen und blätterte in den Fahrkarten. »Ist das Ihr Platz?« fragte er Bruno.

Bruno lehnte sich besitzergreifend in seinen Sitz. »Privatabteil im nächsten Wagen.«

»Nummer drei?«

»Vermutlich.«

Der Schaffner ging weiter.

»Idiot!« murmelte Bruno. Er lehnte sich vor und sah belustigt aus dem Fenster.

Guy wandte sich wieder seinem Buch zu, doch die unübersehbare Langeweile seines Reisegefährten, das Gefühl, der andere werde gleich etwas sagen,...