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'Nein, Torben-Jasper, du hast keinen Telefonjoker.' - Referendare erzählen vom täglichen Klassen-Kampf

Thorsten Wiese

 

Verlag riva Verlag, 2013

ISBN 9783864134296 , 200 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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Herr Gessners Marionette


Carina Huber, Gymnasium, Würzburg


Meine Freundin Yvonne ist schon vor einer Stunde nach Hause gegangen. Ich laufe jetzt, nach dem dritten Mojito, erst richtig warm. Es hat sich so viel Frust aufgestaut – es muss einfach alles mal raus. »Es ist unvorstellbar. Wir leben im 21. Jahrhundert«, sage ich zu Sandra, die mir noch gegenübersitzt und an ihrer Weißweinschorle nippt. »Habe ich dir schon erzählt, was er neulich über Frauen an der Schule gesagt hat?«

»Ja, hast du«, sagt Sandra, schon leicht genervt, und verabschiedet sich kurz mal aufs Klo.

Frank, der Barmann unserer Lieblingskneipe, wirft ihr hinter dem Tresen einen wissenden Blick zu.

Der Mann, dessen Namen ich in meinem Freundeskreis eigentlich nicht mehr erwähnen darf, ohne allergische Reaktionen zu provozieren, ist mein Mentor. Seit einem halben Jahr bin ich jetzt mit den Fächern Französisch und Deutsch an der Schule. Und seit dem ersten Tag habe ich das Gefühl, als Marionette an Herrn Gessners Fäden hin- und hergezogen zu werden. Es wundert mich noch nicht einmal, dass ich die anderen damit nerve. Meist beiße ich mich, wenn ich einmal angefangen habe, den ganzen Abend an dem Thema fest. Es ist aber auch zu ungerecht. Welchen Mentor du an der Schule zugewiesen bekommst, kannst du nicht beeinflussen. Es ist wie mit dem Sitznachbarn auf einem Langstreckenflug: Du kannst Glück haben – du kannst aber auch voll danebengreifen. So war das bei mir.

Die Lehrer, die die Aufgabe ein wenig lustlos nebenher erledigen, ohne großen Einsatz, kann ich ja noch verstehen. »Herr Werner hilft mir nicht viel – aber ich kann wenigstens ruhig schlafen.« So ist das bei Sandra. Sie bringt sogar Verständnis für ihren Mentor auf: »Für die Lehrer ist es auch nicht einfach. Ich löchere ihn mit Fragen über Fragen, er muss alle Klausuren zweitkorrigieren, trägt die Verantwortung für meinen Unterricht, meine Hausaufgabenstellungen und meine Noten zusätzlich mit – und kriegt dafür gerade einmal eine Unterrichtsstunde pro Woche gutgeschrieben. Das kann schon undankbar sein.«

Ihre Probleme hätte ich gern. Klar, es gibt Betreuungslehrer, die sagen: »Junge Kollegin, du hast das erste Staatsexamen bestanden, du weißt schon, was du tust.« Sie fragen freundlich, wann es dir passen würde, einen Unterrichtsbesuch zu vereinbaren. Sie lassen dir also weitgehend freie Hand und berücksichtigen, dass du in der Ausbildung bist. Das kann für den Referendar spannend und lehrreich sein. So ist es wohl auch gedacht.

Aber dann gibt es eben auch die, die sich als zweiter Seminarleiter aufspielen, weil sie selbst mal einer werden wollen. Sie sind vor allem daran interessiert, dir ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen. So wie Herr Gessner. Ihm gefällt am Mentor-Sein eigentlich nur eins: dass er sein enzyklopädisches Wissen, seine alttestamentarischen Ansichten und seine Didaktik der alten Schule weitergeben kann. Wenn Gott Adam aus einem Erdklumpen formte und Eva aus einer von Adams Rippen, nimmt sich Herr Gessner einen der schüchternen Klumpen, als die die neuen Referendare an der Schule angeliefert werden, und bearbeitet ihn so lange auf seiner Drehscheibe, bis er zufrieden ist. Das sieht auch vor, deinen Unterricht zu den unpassendsten Zeiten zu besuchen. Einmal kam er am Tag nach einer Lehrprobe – in der Regel sagt der Referendar in solchen Stunden nur Danke und gibt Kuchen aus. Warum also einen Unterrichtsbesuch zu dieser Zeit ansetzen? Einmal kam er in der letzten Stunde vor den Weihnachtsferien und einmal in einer Intensivierungsstunde meiner sechsten Klasse – eine Stunde, in der – wie der Name schon sagt – nur alter Stoff wiederholt wird. Geschenkt. Aber hinterher durfte ich mir ordentlich was anhören. Wir saßen zusammen und reflektierten die Stunde. Er reichte mir seine Aufzeichnungen über den Tisch: Der Rand meines Unterrichtsentwurfs, den ich ihm in Kopie eingereicht hatte, war mit Urteilen wie »Igitt!!« und »Bäh!« übersät. Aber fangen wir von vorn an. Herr Gessner und ich müssen eng zusammenarbeiten. Ich sehe ihn fast jeden Tag an der Schule. Am Ende wird er an der Beurteilung über mich mitschreiben. Und ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es so schlimm wird.

Einige seiner Sprüche (Sandra kennt sie schon alle), die ich schon zu hören bekam, lauten:

»Im Unterstufenunterricht wird mir immer so schlecht.«

»Man sieht erst, wie gut ein Mensch arbeitet, wenn er unter Druck steht.«

»Da irrt das Wörterbuch wohl.« (Nachdem ich ihn darauf hingewiesen hatte, dass man sowohl »discuter de« als auch »discuter sur« sagen kann.)

»Früher haben Schüler noch ordentlich gelernt. Aber dann durften irgendwann auch Frauen unterrichten. Und die wollen immer nur spielen.«

Na, jedenfalls machen Frauen tatsächlich seltener einen autoritären Kraftbeweis aus einer Stunde: Als ich zuletzt die Stimme erhob, um einen Schüler zurechtzuweisen, kam nur ein hysterisches Kreischen heraus.

»Ist so einer denn verheiratet?«, fragt Sandra, als sie sich wieder am Tisch niederlässt.

»Keine Ahnung«, antworte ich. »Privat weiß ich so gut wie nichts über ihn. Es trauen sich wenige, überhaupt etwas über ihn zu sagen.« Hinter vorgehaltener Hand wird getuschelt, er sei mal an der Uni gewesen, habe sich aber mit der Institutsleitung überworfen und wurde deshalb gebeten zu gehen. Seitdem sei er an der Schule, im Herzen strebe er aber immer noch nach akademischen Weihen. So erkläre sich wohl auch, dass er zu jeder erdenklichen Unterrichts- und Lebenssituation eine lateinische, wahlweise griechische Weisheit parat hat.

Gern beginnt er Sätze auch mit: »Wie schon Feuerbach sagte …« Er reiht die Sinnsprüche hintereinander, als laste die Verantwortung für die Rettung der Altphilologie auf dieser Welt allein auf seinen Schultern. Daran trägt er schwer. Um es vorsichtig auszudrücken: Er ist nicht nur im Kopf ein alter Knochen – seine Einstellung hat auch außen abgefärbt. Er soll so um die 45 Jahre alt sein. Wer ihn sieht, schätzt ihn deutlich älter. Mich erinnert er immer an Karl Valentin. Er ist sehr groß und dünn, trägt stets einen dunklen Anzug mit Einstecktuch und strahlt eine unglaubliche Autorität aus. Würde er eine Weste tragen, würde an der Seite die Kette einer Taschenuhr hervorlugen. Auch ein Monokel würde zu ihm passen (hat er aber nicht), und es kann nur ein Gerücht sein, das besagt, er sei einmal vor mehr als zehn Jahren an einem Samstag in München in einer Jeans (!) beim Einkaufen auf der Kaufingerstraße gesichtet worden.

Apropos: Ich fand meine Stunde zu »Les vêtements« ganz gelungen: Was heißen »Jacke«, »Hose«, »Schuhe«, »sich anziehen« auf Französisch? Selbst bei David, der in Französisch selten etwas blickt, war einiges hängen geblieben. Herr Gessner kommentierte allerdings: »Liebes Fräulein Huber, Ihre Mühe in allen Ehren. Aber wer nicht Triangel spielen kann, studiert ja auch nicht Musik.« Wo ich denn meine »wunderlichen Methoden« für die Wissensvermittlung hernähme? Äh, aus dem Seminar vielleicht? Darüber braucht man mit ihm aber gar nicht erst das Diskutieren anzufangen. Bei der Didaktik hat er halt seine Meinung, und die steht über allem. Fachlich ist er dazu wirklich unangreifbar. An der Schule wird erzählt, die Fachbereichsleiterin habe ihm vor einigen Jahren einmal nahegelegt, Abstriche bei seinen überhöhten Anforderungen zu machen – in seinen Klassenarbeiten liegt der Notenschnitt nicht selten bei 4,5. Und er ist stolz darauf. Herr Gessner entgegnete der Frau, wohlgemerkt in gewisser Hinsicht seine Vorgesetzte, er wolle sich nicht auf ihr Bildungsniveau herablassen.

Und so bleiben auch in diesem Jahr wenigsten drei seiner Schüler kleben. Der Rest lebt in Angst und Schrecken und streicht alle Hobbys und Annehmlichkeiten aus seinem Lebensplan, solange sie Herrn Gessner haben.

»Haben sich denn nie Eltern bei der Schulleitung beschwert oder so was?«, fragt Sandra.

»Nicht, dass ich das in der kurzen Zeit mitbekommen hätte.« Es ist zwar selbst unter den Eltern weithin bekannt: Wenn dein Kind Herrn Gessner in Latein oder Französisch bekommt, dann heißt es: Alea iacta est. Der Würfel ist gefallen. Du musst dich in dein Schicksal ergeben. Die Kinder lernen nur noch, und bei den Eltern müssen Karriere, Dachbodenausbau und Nachmittage auf der Terrasse hintanstehen, damit die Versetzung des Nachwuchses nicht gefährdet ist. Aber es gibt, gerade hier in Bayern, viele, die seine konservative Attitüde begrüßen. Und es hat auch etwas Gutes: Für die Oberstufenschüler, die sich mit Nachhilfe etwas dazuverdienen, ist Herr Gessner ein Konjunkturprogramm auf zwei Beinen.

»Ich bin ja auch für gute Leistungen und fleißige Schüler«, sage ich zu Sandra. »Aber Gessner gibt mir das Gefühl, dass er überhaupt nicht auf meiner Seite steht.« Sein Hauptkritikpunkt (wahrscheinlich neben dem, dass ich eine Frau bin): Ich sei ein Kind der neuen modernen Didaktik, die will, dass alle durchkommen – und er selbst stelle eben andere Anforderungen. Ich bin die Einzige, die ihn siezen muss. Im Kollegium duzen sich eigentlich alle untereinander, und auch die anderen Betreuungslehrer haben mir gleich das Du angeboten. Das ist an der Schule so üblich. Bis auf eine Ausnahme – Herrn Gessner.

Einmal ist er richtig aus der Haut gefahren. Es gab einen veritablen Eklat im Lehrerzimmer. Der Hintergrund: Als Ref muss ich alle Klassenarbeiten, die ich meinen Schülern stelle, an die Seminarleiterin geben. Die fragt mich dann immer, warum ich das Niveau derart hochhänge. Wie soll ich mich verhalten?...