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Unschuldige - Eine Berliner Liebesgeschichte

Ian McEwan

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603552 , 384 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] Eins

Lieutenant Lofting riß das Gespräch gleich an sich. »Schauen Sie her, Marnham. Sie sind gerade eben erst angekommen, es gibt also gar keinen Grund, weshalb Sie Bescheid wissen müßten. Das Problem hier sind nicht die Deutschen oder die Russen. Nicht einmal die Franzosen. Sondern die Amerikaner. Die haben ja keinen blassen Dunst. Was noch schlimmer ist, sie wollen nichts dazulernen, sie lassen sich einfach nichts sagen. So sind sie nun mal.«

Leonard Marnham, Angestellter bei der Post, hatte noch nie in seinem Leben mit einem richtigen Amerikaner gesprochen, sie aber in seinem lokalen Lichtspielhaus eingehend studieren können. Er lächelte mit geschlossenen Lippen und nickte. Er langte in die Innentasche seines Mantels und zog sein versilbertes Zigarettenetui hervor. Wie bei einem Indianergruß hob Lofting abwehrend die Hand. Leonard schlug die Beine übereinander, nahm eine Zigarette heraus und klopfte das Ende mehrmals gegen das Etui.

Lofting ließ seinen Arm über den Schreibtisch hinwegschnellen und streckte ihm sein Feuerzeug entgegen. Während der junge Zivilist den Kopf zur Flamme hinneigte, nahm Lofting den Faden wieder auf: »Sie können sich vorstellen, daß es eine Reihe gemeinsamer Projekte gibt, gemeinsame Geldmittel, Know-how, so etwas halt. Aber [8] glauben Sie etwa, die Amerikaner hätten auch nur die leiseste Ahnung von Teamarbeit? Erst stimmen sie einer Sache zu, und dann handeln sie doch auf eigene Faust. Sie hintergehen uns, halten Informationen zurück, reden mit uns von oben herab, als hätten sie es mit Armleuchtern zu tun.« Lieutenant Lofting rückte den Tintenlöscher gerade, den einzigen Gegenstand auf seinem Stahlschreibtisch. »Wissen Sie, früher oder später wird die Regierung Ihrer Majestät gezwungen sein, andere Töne anzuschlagen.« Leonard wollte etwas sagen, aber Lofting winkte ab. »Ich will Ihnen mal ein Beispiel nennen. Ich bin britischer Verbindungsoffizier für den intersektoralen Schwimmwettkampf nächsten Monat. Niemand kann bestreiten, daß wir hier auf dem Olympiagelände das beste Schwimmbecken haben. Als Austragungsort eignet es sich eindeutig am besten. Die Amerikaner haben schon vor Wochen zugestimmt. Und wo, glauben Sie, soll der Wettkampf auf einmal abgehalten werden? Unten im Süden, in ihrem Sektor, in irgendeinem glitschigen Tümpel. Und wissen Sie, warum?«

Lofting sprach geschlagene zehn Minuten lang weiter.

Als sämtliche Tücken des Schwimmwettbewerbs abgehandelt schienen, sagte Leonard: »Major Sheldrake hatte Ausrüstungsgegenstände und versiegelte Anweisungen für mich. Wissen Sie etwas davon?«

»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, sagte der Lieutenant scharf. Er hielt inne und schien Kraft sammeln zu wollen. Als er weitersprach, konnte er nur schwach einen gereizten Jodellaut unterdrücken. »Wissen Sie, der einzige Grund, weshalb ich hierherbeordert [9] worden bin, war, daß ich auf Sie warten sollte. Als Major Sheldrakes Versetzung durchkam, sollte ich von ihm die ganzen Sachen ausgehändigt bekommen und weiterleiten. Ich kann nichts dafür, daß zwischen der Abreise des Majors und meiner Ankunft achtundvierzig Stunden verstrichen sind.«

Er legte eine Pause ein. Es klang so, als hätte er sich seine Erklärung sorgfältig zurechtgelegt. »Anscheinend haben die Amis mächtig Stunk gemacht. Dabei war die Bahnfracht in einem bewachten Raum verschlossen, und Ihr versiegelter Umschlag lag auf der Stube des Kommandeurs im Panzerschrank. Sie haben darauf bestanden, daß jemand die ganze Zeit für das Zeug unmittelbar haftbar ist. Vom Brigadegeneral kamen Anrufe für die Stube des Kommandeurs, die vom Generalstab ausgingen. Wir konnten nichts mehr ausrichten. Sie kamen mit einem Laster und nahmen alles mit, Umschlag, Frachtgut, einfach alles. Dann traf ich ein. Laut meinen neuen Anweisungen sollte ich auf Sie warten – was ich nun schon fünf Tage tue –, sicherstellen, daß Sie wirklich der sind, der Sie zu sein behaupten, Ihnen die Situation erläutern und Ihnen diese Kontaktadresse übergeben.«

Lofting nahm einen braunen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn über den Tisch. Gleichzeitig händigte Leonard ihm sein Beglaubigungsschreiben aus. Lofting zögerte. Er hatte noch eine schlechte Nachricht.

»Die Sache ist die. Da Ihre Sachen, was immer das im einzelnen ist, nun schon einmal den Amis überstellt worden sind, gilt das gleiche auch für Sie. Sie sind jetzt den Amis untergeben. Vorläufig sind die für Sie [10] verantwortlich. Ihre Instruktionen werden Sie also von ihnen entgegennehmen.«

»Geht in Ordnung«, sagte Leonard.

»Tja, da haben wir wirklich Pech gehabt.«

Als er seine Pflicht getan hatte, erhob sich Lofting und schüttelte ihm die Hand.

Der Armeefahrer, der Leonard am frühen Nachmittag vom Flughafen Tempelhof abgeholt hatte, wartete auf dem Parkplatz des Olympiastadions. Leonards Quartier lag nur wenige Minuten entfernt. Der Korporal öffnete den Kofferraum des khakifarbenen Kleinwagens, schien es aber nicht für seine Aufgabe zu halten, die Koffer herauszuheben.

Platanenallee 26 war ein Neubau mit einem Aufzug im Hausflur. Die Wohnung lag im dritten Stock und bestand aus zwei Schlafzimmern, einem großen Wohnzimmer, einer Küche mit Eßecke und einem Badezimmer. In Tottenham wohnte Leonard noch im Haus seiner Eltern und pendelte jeden Tag nach Dollis Hill. Er ging von einem Zimmer ins andere und knipste sämtliche Lichter an. Es gab verschiedene Neuheiten, etwa ein großes Radio mit cremefarbenen Tasten und ein Telefon auf einem Satz Couchtische. Daneben lag ein Stadtplan von Berlin. Die Möbel waren die armeeüblichen – eine dreiteilige Polstergarnitur mit verblichenem Blumenmuster, ein Sitzpolster mit Lederquasten, eine nicht ganz lotrechte Stehlampe und an der gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers ein Schreibtisch mit dicken, geschwungenen Beinen. Er schwelgte in der Wahl des Schlafzimmers und packte sorgfältig seine Sachen aus. Eine eigene Wohnung! Er hätte [11] nicht gedacht, daß er soviel Vergnügen daran haben würde. Er hängte seine grauen Anzüge, den besten, den zweitbesten und den Alltagsanzug, in den Einbauschrank, dessen Schiebetür bei der leisesten Berührung auf- und zuglitt. Das mit Teakholz ausgeschlagene, versilberte Zigarettenetui mit seinen eingravierten Initialen, ein Abschiedsgeschenk seiner Eltern, legte er auf den Schreibtisch. Sein schweres Tischfeuerzeug, das wie eine neoklassische Urne aussah, stellte er daneben. Würde er wohl jemals Gäste empfangen?

Erst als alles zu seiner Zufriedenheit eingerichtet war, ließ er sich in den Lehnsessel unter der Stehlampe sinken und öffnete den Umschlag. Er war enttäuscht. Es war ein Stück Papier, von einem Notizblock abgerissen. Keine Adresse, nur ein Name – Bob Glass – und eine Berliner Telefonnummer. Er hatte den Stadtplan auf dem Eßtisch ausbreiten, die Adresse markieren, seine Route planen wollen. Jetzt mußte er seine Instruktionen von einem Unbekannten, dazu noch von einem Amerikaner, entgegennehmen und zum Telefon greifen, einem Apparat, der ihm trotz seines Berufs nicht ganz geheuer war. Weder seine Eltern noch irgendeiner seiner Freunde besaßen ein Telefon, und auf der Arbeit mußte er nur selten Anrufe erledigen. Den Zettel auf dem Knie balancierend, wählte er sorgsam. Er wußte, wie er klingen wollte. Entspannt, entschlossen, Leonard Marnham am Apparat. Ich nehme an, Sie erwarten meinen Anruf.

Sogleich stieß eine Stimme hervor: »Glass!«

Leonards Sprechweise verkam zu genau dem englischen Gestammel, das er in der Unterhaltung mit einem [12] Amerikaner tunlichst zu vermeiden gesucht hatte: »Hm, tja, also, es tut mir schrecklich leid, ich…«

»Sind Sie Marnham?«

»Ja, genau, Leonard Marnham am Apparat. Ich glaube, Sie…«

»Schreiben Sie sich die Adresse auf: Nollendorfstraße 10. Die geht vom Nollendorfplatz ab. Finden Sie sich morgen früh um acht hier ein.«

Während Leonard die Adresse noch in seinem freundlichsten Tonfall wiederholte, wurde bereits aufgelegt. Er kam sich blamiert vor. Allein mit sich, errötete er. Er erblickte sich in einem Wandspiegel und ging hilflos auf sich zu. Seine Brille, die sich von seinen Körperausdünstungen gelblich verfärbt hatte – so jedenfalls lautete seine Theorie –, saß albern auf seiner Nase. Als er sie abnahm, sah sein Gesicht aus, als sei ihm etwas abhanden gekommen. An den Nasenwänden befanden sich rote Druckstellen, regelrechte Dellen im Knochenbau. Eigentlich müßte er auch ohne Brille auskommen. Was er wirklich wahrnehmen wollte, konnte er auch aus allernächster Nähe sehen. Ein Schaltdiagramm, einen Röhrenglühfaden, ein anderes Gesicht. Ein Mädchengesicht. Seine häusliche Ruhe war dahin. Wieder durchmaß er, von einem unkontrollierbaren Verlangen getrieben, seinen neuen Wohnbereich. Schließlich disziplinierte er sich, indem er sich am Eßtisch einem Brief an seine Eltern widmete. Schriftliche Äußerungen dieser Art kosteten ihn Überwindung. Zu Beginn eines jeden Satzes hielt er den Atem an, am Ende stieß er ihn keuchend wieder aus. Liebe Mutti, lieber Vati! Der Flug war langweilig, aber wenigstens ist nichts [13] schiefgegangen! Ich bin heute um sechzehn Uhr angekommen. Ich habe eine schöne Wohnung mit zwei Schlafzimmern und Telefon. Die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, habe ich zwar noch nicht zu Gesicht bekommen, aber ich denke, Berlin wird schon werden. Es regnet, und es ist furchtbar windig. Selbst bei Dunkelheit sieht alles ziemlich zerstört aus. Bisher habe ich noch keine Gelegenheit gehabt, mein Deutsch auszuprobieren…

Bald darauf...