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Scott-Kings moderne Welt

Evelyn Waugh

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603538 , 80 Seiten

Format ePUB

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8,99 EUR


 

[7] I

1946 unterrichtete Scott-King schon im einundzwanzigsten Jahr in Granchester Alte Sprachen. Er war selbst ein alter Granchesterianer und geradewegs von der Universität, wo er sich vergebens um einen Lehrauftrag bemüht hatte, an seine Schule zurückgekehrt. Da war er dann geblieben und ein wenig kahl und ein wenig rundlich geworden, ganzen Schülergenerationen zuerst als »Scottie«, in letzter Zeit jedoch, obwohl er eigentlich erst in den besten Jahren war, als »der alte Scottie« bekannt; er war eine »Institution«, und seine treffenden, leicht näselnd vorgetragenen Lamentationen über die moderne Dekadenz wurden ausgiebig parodiert.

Granchester ist nicht gerade das renommierteste Internat Englands, aber es ist – oder war einmal, wie Scott-King sagen würde – durchaus angesehen; es hat eine Cricket-Mannschaft, die alljährlich auf dem Lord’s spielt; unter seinen Ehemaligen findet sich ein rundes Dutzend berühmter Männer, die im Allgemeinen ohne Scheu bekennen: »Ich [8] war in Granchester« – anders als die Zöglinge geringerer Einrichtungen, die eher sagen: »Also, offen gestanden, ich war auf einer Schule namens –. Sehen Sie, mein Vater konnte damals…«

Zu Scott-Kings Schülerzeit und zunächst auch nach seiner Rückkehr als Lehrer war Granchester in zwei annähernd gleich große Züge, einen humanistischen und einen naturwissenschaftlichen, aufgeteilt gewesen, wozu noch ein unbedeutendes und unbeachtetes Spezialgrüppchen kam, das man die »Armeeklasse« nannte. Jetzt lag der Fall anders, denn von den vierhundertfünfzig Schülern lernten kaum noch fünfzig Griechisch. Scott-King hatte seine altphilologischen Kollegen einen nach dem andern weggehen sehen, teils an ländliche Schulen, teils zum British Council, teils zur BBC, und an ihrer Stelle waren Physiker und Ökonomen von Provinzuniversitäten gekommen, so dass er selbst nun viele Stunden in der Woche hinabsteigen und Unterstufenschülern Xenophon und Sallust eintrichtern musste, statt sich einzig in den hohen intellektuellen Sphären der humanistischen Oberstufe bewegen zu dürfen. Aber Scott-King murrte nicht. Im Gegenteil, er fand eine besondere Genugtuung darin, sich in Betrachtungen über die Siege der Barbarei zu ergehen, und genoss seine herabgesetzte Stellung regelrecht, denn er gehörte [9] zu einer in der Neuen Welt unbekannten, in Europa aber recht verbreiteten Spezies, die sich an Bedeutungslosigkeit und Misserfolg zu berauschen vermag.

»Fade« ist das richtige Beiwort für Scott-King, und es war eine Art Verwandtschaftsgefühl, eine Blutsbrüderschaft in Fadheit, die ihn ursprünglich bewogen hatte, die Werke des Dichters Bellorius zu studieren.

Keiner, höchstens Scott-King selbst, hätte diesen an Fadheit übertreffen können. Als Bellorius im Jahre 1646, arm und entehrt, in seinem Heimatdorf starb, das seinerzeit in einem glücklichen Königreich unter der Herrschaft der Habsburger lag, jetzt aber dem turbulenten modernen Staat Neutralien* [* Die Republik Neutralien ist frei erfunden und zusammengesetzt, steht für keinen existierenden Staat.] angehörte, hinterließ er als Lebenswerk einen einzigen Folioband mit 1500 Zeilen lateinischer Hexameter. Die einzige Wirkung, die er zu Lebzeiten mit diesem Werk erzielte, war, dass es den Königshof verärgerte und ihn seine Pension kostete. Nach seinem Tod wurde es völlig vergessen, bis es um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in einer Sammlung von Spätrenaissancetexten in Deutschland wieder auftauchte. Dort fand es Scott-King, als er am Rhein [10] Urlaub machte, und die sofort erkannte Wesensverwandtschaft ließ sein Herz höher schlagen. Das Thema war unrettbar langweilig – ein Besuch auf einer imaginären Insel der Neuen Welt, wo in primitiver Einfachheit, von Tyrannei und Dogma unverdorben, ein tugendhaftes, keusches und vernunftbegabtes Volk lebte. Die Verse waren korrekt und melodisch und mit manch glücklicher Sprachfigur angereichert; Scott-King las sie an Deck eines Rheindampfers, während Weinberg, Burgzinne und Fels, Terrasse und Park sanft vorüberglitten. Womit das Werk Anstoß erregt hatte – durch welch absichtliche oder unabsichtliche, inzwischen jedenfalls stumpf gewordene satirische Spitze, durch welch gefährliche Spekulation –, ist heute nicht mehr begreiflich. Dass es vergessen wurde, leuchtet hingegen jedem, der die Geschichte Neutraliens kennt, ohne weiteres ein.

Etwas müssen wir über diese Geschichte wissen, wenn wir Scott-King verständig folgen wollen. Verzichten wir auf Einzelheiten, und stellen wir nur fest, dass dem Land in den dreihundert Jahren nach Bellorius’ Tod jede nur denkbare Unbill widerfuhr, die einem Gemeinwesen widerfahren kann. Dynastiekämpfe, fremde Invasionen, Thronfolgestreitigkeiten, Kolonialerhebungen, Syphilisepidemien, ausgezehrte Böden, Freimaurerintrigen, [11] Revolutionen, Restaurationen, Kabalen, Junten, Manifeste, Befreiungen, Verfassungen, Staatsstreiche, Diktaturen, Attentate, Agrarreformen, allgemeine Wahlen, ausländische Interventionen, verfallene Staatsanleihen, Inflationen, Gewerkschaften, Massaker, Brandschatzungen, Atheismus, Geheimbünde – vervollständigen Sie die Liste, setzen Sie alle Ihre Lieblingsübel ein, und Sie werden sie in den letzten dreihundert Jahren der neutralischen Geschichte wiederfinden. Daraus hervorgegangen ist nun die heutige Republik Neutralien, ein typischer moderner Staat, regiert von einer einzigen Partei, die einem alleinherrschenden Marschall zujubelt und sich eine riesige unterbezahlte Bürokratie hält, deren Misswirtschaft durch Korruption gemildert und vermenschlicht wird. Dies muss man also wissen; ebenso dass die Neutralier als Angehörige einer listigen romanischen Rasse wenig zur Heldenverehrung neigen und sich hinter dem Rücken ihres Marschalls nach Kräften über ihn lustig machen. Nur in einem hat er ihre vorbehaltlose Wertschätzung errungen: Er hielt sich aus dem Zweiten Weltkrieg heraus. Neutralien riegelte sich ab, und der einstige Tummelplatz rivalisierender Sympathien wurde vergessen und unbedeutend, mit einem Wort, fade; und wie nun Europas Antlitz hässlicher wurde und der Krieg in den Berichten der im [12] Gemeinschaftsraum ausliegenden Zeitungen und des im Gemeinschaftsraum aufgestellten Rundfunkgeräts seinen heldenhaft-ritterlichen Tarnmantel abwarf und sich als ein schmutziges Tauziehen von Rüpeln entpuppte, die sich voneinander kaum unterschieden, da wurde Scott-King, der nie einen Fuß in dieses Land gesetzt hatte, im Herzen Neutralier, und als Hommage nahm er mit Feuereifer die Aufgabe wieder in Angriff, an der er zwischendurch immer wieder gearbeitet hatte: Bellorius in Spenser-Stanzen zu übersetzen. Zur Zeit der Landung in der Normandie war das Werk vollendet – Übersetzung, Einführung und Kommentar. Er schickte es an die Oxford University Press und bekam es zurück. Er legte es in eine Schublade seines dunklen Schreibtischs in dem dunklen gotischen Studierzimmer über dem Innenhof von Granchester. Er murrte nicht. Es war sein Opus, sein Monument der Fadheit.

Aber noch immer stand Bellorius’ Schatten neben ihm und forderte Sühne. Die beiden hatten noch eine Rechnung miteinander offen. Man kann nicht in enger Gesellschaft mit jemandem leben, sei er auch schon drei Jahrhunderte tot, ohne dass sich Verpflichtungen ergeben. Und so destillierte Scott-King um die Zeit der Friedensfeiern seine Gelehrsamkeit und schrieb einen kleinen Essay, zehn [13] Seiten lang, betitelt Der letzte Latinist, zum Gedenken an Bellorius’ bevorstehenden dreihundertsten Todestag. Der Essay erschien in einer gelehrten Zeitschrift. Scott-King bekam für die Frucht von fünfzehn Jahren hingebungsvoller Arbeit zwölf Guineen; sechs davon zahlte er als Einkommenssteuer; von den andern sechs kaufte er sich eine Uhr aus Kanonenguss, die ein, zwei Monate lang unzuverlässig lief und schließlich den Geist aufgab. Damit hätte die Sache ein Ende haben können.

Dies also sind, ganz allgemein und mit Abstand betrachtet, die Umstände – Scott-Kings Geschichte, Bellorius, die Geschichte Neutraliens, das Jahr der Gnade 1946, alles glaubhaft, alles belanglos –, die im Verbund zu Scott-Kings Sommerurlaub mit seinen seltsamen Ereignissen führten. Fahren wir nun die Kamera näher heran und betrachten ihn in Großaufnahme. Sie haben alles über Scott-King gehört, aber kennengelernt haben Sie ihn noch nicht.

Lernen Sie ihn also an einem trüben Morgen zu Beginn des Sommertrimesters beim Frühstück kennen. Die unverheirateten Lehrer von Granchester bewohnten jeweils zwei Studentenzimmer in der Schule und nahmen ihre Mahlzeiten im Gemeinschaftsraum ein. Scott-King kam mit wehendem Talar und einem Stoß flatternder [14] Übungsblätter in den tauben Fingern aus dem Klassenzimmer, wo er frühen Unterricht hatte halten müssen. Die Einschränkungen der Kriegszeit waren in Granchester noch nicht aufgehoben, und der kalte Kaminrost wurde als Aschenbecher und Papierkorb benutzt und selten geleert. Auf dem Frühstückstisch standen lauter kleine, jeweils mit dem Namen eines Lehrers versehene Töpfchen, die ihre Ration Zucker, Margarine und Pseudomarmelade enthielten. Das Hauptfrühstück bestand aus einem mit ›Eipulver‹ zubereiteten Brei. Scott-King wandte sich traurig von der Anrichte ab. »Wer will, kann meinen Anteil von diesem Triumph der modernen Wissenschaft gern haben.«

»Ein Brief für Sie, Scottie«, sagte einer seiner Kollegen. »›An den Hochverehrten Herrn Professor Scott-King, Esq.‹ Herzlichen Glückwunsch.«

Die merkwürdige Anschrift stand auf einem großen, steifen Umschlag mit...