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Wie die wilden Tiere

Philippe Djian

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603392 , 240 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[7]  Am schlimmsten erwischte es die ganz Jungen, da gab es gar keinen Zweifel, mit ungefähr zwanzig. So um den Dreh. Man brauchte sie sich nur anzuschauen.

Richtig klar geworden war mir das während einer kleinen Feier bei unseren Nachbarn, ein paar Tage vor Weihnachten. Mein achtzehnjähriger Sohn Alexandre hatte die Anwesenden zunächst in Schockstarre und dann in Panik versetzt, als er sich eiskalt eine Kugel in den Kopf jagte. Und auf das Buffet krachte.

Ich war nach Hause gegangen und hatte Elisabeth geweckt – sie wachgerüttelt, ihrem Tablettenschlaf entrissen. »Schau, Elisabeth! Schau!«, hatte ich mit leiser, noch zitternder Stimme gemurmelt. »Schau, was passiert ist. Schau dir das Blut an meinen Händen an!« Angeblich hatte ich danach Rotz und Wasser geheult. Konnte tagelang nicht trocken bleiben.

[8]  Elisabeth hatte alles getan, um ihm darüber hinwegzuhelfen, ihn zu trösten, aufzumuntern, aber er wollte nichts hören. Sein Sohn war tot, und er wollte sich einfach nur betrinken – sich so schnell wie möglich volllaufen lassen, auf der Stelle, bevor der Schmerz erwachte. Das hielt er für eine ziemlich gute Lösung, einen akzeptablen Kompromiss. Er hatte sehnlichst darauf gehofft, dass Elisabeth ein paar Wochen oder Monate verreiste. Noch nie hatte er sich etwas so sehr gewünscht, noch nie hatte er sich so danach verzehrt, dass ihre Firma sie ans andere Ende der Welt schickte und er allein sein konnte. Aber sie hatte durchgehalten, das musste er zugeben. Sie hatte ihn nicht fallenlassen.

Am schlimmsten erwischte es die, damit musste man sich abfinden, die noch nicht einmal zwanzig waren. Als die Bahn wieder anfuhr, traf es ein Mädchen zwei Sitzreihen vor ihm – eine Blonde, die seit der letzten Station laute Rülpser von sich gab –, nun also trat sie den Beweis an, dass sie tatsächlich die kaputtesten und armseligsten von allen waren. Kotzte sich in die Schuhe, und das am frühen Morgen. Starrte verstört auf die Bescherung. Verpestete den ganzen Wagen mit säuerlichen Weindünsten. Wie reizend. Mehr kann man nicht tun, um seinen Teamgeist zu demonstrieren.

[9] Ihm fehlten die Worte, so schrecklich entwürdigend fand er das für ein Mädchen – noch dazu machte sie keine halben Sachen und hatte das Vorderteil ihres Rocks und einen ganzen Jackenärmel besudelt. Als er sah, wie sie ihren Mund verzog, glaubte er, sie würde einen wütenden Schrei ausstoßen, stattdessen kippte sie auf die Seite und glitt geräuschlos zu Boden.

Es war noch sehr früh am Morgen. Bis auf einige schlaftrunkene und schweigsame Schichtarbeiter, die weiter hinten saßen, war das Abteil leer. Die Hochbahn überquerte den Fluss, und das Mädchen rutschte durch ihr feuchtes Erbrochenes, als der Zug eine ausgedehnte Kurve Richtung Westen beschrieb, wo die oberen Stockwerke der Hochhäuser in der Sonne leuchteten wie glühende Kohlen.

Ich hatte keine große Lust, ihr zu helfen. Eine Zeit lang achtete ich nicht auf sie. Bis zu meiner Haltestelle dauerte es nur noch ein paar Minuten, und um mich rauszuhalten, genügte es, so lange wegzuschauen, die Graffitis an der Decke zu studieren oder – warum nicht? – die Verhaltensregeln für Notfälle zu lesen. Irgendjemand würde sich schon um sie kümmern. Ich war sauer auf das [10] Mädchen, weil ich wegen ihr wieder an Alexandre denken musste – er hatte zwei Alkoholvergiftungen gehabt, bevor er seiner kurzen Existenz ein Ende setzte, und dieses Mädchen erinnerte mich wieder daran, wie abgefuckt sie waren, wie tief die Wurzeln des Bösen reichten. Dieser Racker hatte mich völlig fertiggemacht.

»Das hätte uns auch fertig gemacht«, meinte Michel etwa sechs Monate nach dem Tod von Alexandre, dabei sah er ihm tief in die Augen und legte die Hand auf seine Schulter. »Du hast eine miese Zeit hinter dir, Alter, das wissen alle hier. Es wäre uns nicht anders ergangen, Marc, Alter, kein bisschen anders. Es hätte uns umgehauen.«

Michel hatte ihn eine Weile fixiert, ihn umarmt und dann aufgefordert, seine fünfundvierzig Kerzen auszublasen. Alle hatten geklatscht. Außer Elisabeth, die schon auf Distanz zu ihm gegangen war.

Dennoch schleifte Marc die junge Frau über den Bahnsteig – wobei er auf seine eigene Kleidung achtete – und schaffte es, sie auf eine Holzbank zu setzen, obwohl ihm niemand Beistand leistete, sich in der dünngesäten morgendlichen Menge keine barmherzige Seele fand.

Er betrachtete das Mädchen eine Weile und reimte [11] sich die teuflische Mischung zusammen, die sie getankt haben musste, empfand aber keinerlei Mitleid für sie. An einem Automaten kaufte er eine Flasche Wasser und hielt sie ihr hin. Sie hatte die Augen zwar einen Spalt geöffnet, es war aber dennoch unmöglich abzuschätzen, was sie mitbekam. »Überfordert« traf es nicht. »Total überfordert« traf es schon ein bisschen besser.

»Abgefuckt« passte nicht schlecht. Es war ziemlich kalt.

»Du bist durchgeknallt. Du bist echt total durchgeknallt«, seufzte Michel. »Kauf dir doch einen Hund, keine Ahnung, oder geh in die Kirche oder Blut spenden… Marc, ich bitte dich, du hast dir nichts vorzuwerfen. Hör auf damit. Für den allgemeinen Wahnsinn kann man sich nicht verantwortlich fühlen. Tu dir das nicht an, stell dich nicht dümmer, als du bist.«

Er goss Marc einen kräftigen Schluck Gin ein, wie schon so oft an diesem Abend. »Und?«, fing er wieder an. »Was willst du mit ihr machen? Hast du dir das überlegt? Und wenn Elisabeth aufkreuzt?«

»Sehr witzig.«

»Täusch dich nicht. Vielleicht kennst du sie nicht so gut, wie du denkst.«

»Michel hat recht«, sagte Anne, als sie mit [12] Gläsern eines perlenden, leuchtenden Getränks zurückkam. »Du kennst sie nicht so gut wie ich. Elisabeth ist hart im Nehmen…«

Die Musik kam von einem Wall-of-VoodooAlbum, das er ihnen geschenkt hatte.

»Wenn es einen Preis gäbe für den Typen, der sich den größten Ärger einhandelt«, fuhr Michel fort, »hättest du die besten Chancen. Kein Zweifel.« Er leerte sein Glas in einem Zug und schlüpfte zugleich in seine Jacke. »Also. Ich sage dir, was wir machen. Wir holen sie. Wir geben ihr ein bisschen Geld und bringen sie in die Stadt zurück. Jetzt sofort. Wir tun, was wir tun müssen.«

»Als ich los bin, schlief sie noch.«

»Dann wecken wir sie. Da mach dir mal keine Sorgen.«

Machte ich mir sowieso nicht wirklich.

Soweit ich mich erinnerte, hatte sich Alexandre das erste Mal mit zwölf betrunken. Der Notarzt musste kommen, und seine Mutter, Julia, mit der ich damals zusammenlebte, hatte mir die gesamte Verantwortung zugeschoben, sie beklagte meinen Mangel an Fürsorglichkeit, meine Unreife, meine kriminelle Unbekümmertheit und so weiter.

Aber letztlich hatte ich das Sorgerecht bekommen, denn ich hatte auf die Erziehung verwiesen, [13] die ein Jugendlicher bei dieser Frau erhalten würde, dass sie ein schlechtes Vorbild sei, usw. – das hatte sie nun davon.

Alles in allem war es nicht immer einfach zwischen ihm und mir, es lief nicht immer ideal, aber wir schafften es, zusammen zu leben, wir kriegten es tatsächlich hin. Das habe ich nicht vergessen. Als Elisabeth dazugekommen war, hatte sich unser Verhältnis verschlechtert. Und dabei hatten wir alles drangesetzt, um es wieder zu verbessern, ich ebenso wie Elisabeth, die Frau, mit der ich nun mein Bett, mein Schlafzimmer und mein Zuhause teilte – in guten wie in schlechten Zeiten. Keine Chance. Vernünftigen Argumenten war der Junge nicht mehr zugänglich, mit Reden kam ich nicht mehr richtig an ihn ran. Wie sollte ich ihn fragen, was nicht in Ordnung war, wenn ich nur immer wieder dieselbe blöde Antwort erhielt?

Ich konnte nicht behaupten, dass ich ein übermäßig klares Bild hatte von der Phase zwischen Julias Verschwinden und Elisabeths Ankunft – das lag größtenteils an meinem Singleleben, das mich meistens spät und fast immer betrunken nach Hause kommen ließ –, aber ich wusste, dass Alexandre und ich uns immer recht gut verstanden hatten.

Ich war überzeugt, dass ich in jenen Jahren einen annehmbaren Vater abgegeben hatte. Ich hoffte, er [14] erinnerte sich auch noch daran, als er in mir nur noch seinen schlimmsten Feind zu sehen schien – oder bestenfalls ein Wesen von einem anderen Stern. Aber ich war mir nicht sicher.

Ich sah ihm zu, wie er mit seinen Freunden spielte und auf Bäume kletterte. Wir wohnten in der Nähe eines Sees, sie badeten, sie hatten ihren Spaß, und ich bereute keine Sekunde, dass seine Mutter uns verlassen hatte. Was für ein undurchsichtiger Schleier legt sich über den Verstand eines Mannes, wenn er sich für eine Frau entscheidet, für eine bestimmte Frau unter so vielen? Wann genau trifft ihn die Einsicht wie ein Schlag ins Gesicht, doch er kann nicht mehr zurück? Wann ist er verloren? Ich für meinen Teil hatte jedenfalls vollkommen danebengelegen. Nach einigen Monaten sexueller Ausschweifungen im Anschluss an unsere Hochzeit hatte sich auf geheimnisvolle Weise ein gewisser Überdruss eingeschlichen, innerhalb weniger Jahre war unsere Beziehung versandet, eine Schicht legte sich über die nächste, schließlich war ich ihrer Liaison mit dem Gefrierkostlieferanten auf die Spur gekommen und hatte lange darüber nachgedacht, sie darauf anzusprechen, weil ich hoffte, dass in mir ein bisschen Eifersucht oder etwas anderes erwachen würde, aber die Leere, die ich im Grunde meines Herzens spürte, war fast schon erschreckend.

[15] Deshalb wollte ich über einen langen Zeitraum, wenn ich von der Arbeit nach...