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Das starke Geschlecht

Hans Werner Kettenbach

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601725 , 448 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

12

Olga hatte ihn bis ins Zimmer zurückgeleitet, dann war sie, nachdem er sie mit einer Handbewegung verabschiedet hatte, verschwunden, aber mit einer Platte voll belegter Happen, dazu eingelegten Gürkchen, Paprikaschoten und Zwiebeln zurückgekommen. Unterdessen hatte er sich noch ein Glas Wein von mir einschenken lassen. Er hatte mich stumm dazu aufgefordert, indem er sein Glas, das er zum zweiten Mal geleert hatte, über den Tisch auf mich zuschob.

[111] Ich hatte die Flasche aus dem Kühler genommen, sie dann jedoch in der Schwebe gehalten und ihn fragend angesehen. Er erwiderte den Blick, als verstehe er nicht, was ich sagen wollte.

Ich fragte: »Ist das denn jetzt das Richtige für Sie?«

Er blaffte: »Sind Sie meine Krankenschwester?« Ich goss ihm ein, aber er trank nicht sofort. Er legte die Hand auf den Fuß des Glases und blickte, schweigend und mit zusammengezogenen Brauen, durch die offene Balkontür hinaus auf die grünen Wipfel. Als Olga mit den Häppchen kam, wollte er die Schachplane mit den Figuren zur Seite ziehen.

Olga sagte: »Halt, halt, so geht nicht! Abräumen!«

Sie stellte die Häppchen ab, suchte das Behältnis der Schachfiguren und fand es, beugte sich halb über Klofft und fing an, die Figuren einzuräumen. Offenbar war sie nicht gesonnen, pfleglich mit ihnen umzugehen, sie nahm eine Handvoll und ließ sie polternd in die Holzkiste fallen. Unverzüglich schrie er: »He, bist du noch zu retten?!«

Er gab ihr einen Stoß in die Seite, machte sich daran, selbst die Figuren einzusammeln. Ich nahm ihm die Arbeit ab. Olga sagte deutlich: »Dupek! Dumme Holzdinger! Blöde Dinger!«, stampfte zur Tür, sagte auch noch: »Blöder Kerl!«, und verschwand.

Er sagte: »Sie ist und bleibt ein Trampel!« Dann beugte er sich vor, musterte die Häppchen und sagte: »Bedienen Sie sich.«

Ich legte die Schachplane mit dem Figurenkasten auf den Zeitungsstapel, stellte einen der Teller, die Olga mitgebracht hatte, vor Klofft, legte Besteck und Serviette dazu und fragte ihn: »Was möchten Sie denn gern?«

[112] »Ach… eins mit dem rohen Schinken.«

Ich legte ihm zwei davon auf den Teller, er zog die Brauen zusammen, aber er protestierte nicht. Nachdem ich auch mich selbst bedient hatte, sagte er: »Guten Appetit«, nahm eins von seinen Häppchen mit den Fingern und biss ein Stück ab. Während er kaute, sah er wieder hinaus in den Garten. Nach einer Weile sagte er: »Tut mir leid, diese… dieses Theater.«

Ich sah ihn an. »Was für ein Theater? Reden Sie davon, dass Sie… dass es Ihnen nicht so gut war?«

»Was denn sonst?«

»Das braucht Ihnen doch nicht leidzutun.«

Er schwieg wieder eine Weile, dann sagte er: »Sagen Sie nur ja nicht, dass es Ihnen nichts ausgemacht hat.«

»Was heißt ausgemacht? Ich habe… ich hab mich erschreckt, ja.« Nachdem ich einen Schluck Mineralwasser getrunken hatte, sagte ich: »Ich hab schon überlegt, ob ich Olga rufen sollte, das stimmt.«

»Ja, das wäre die Richtige gewesen!« Er lachte. »Kalte Umschlag auf Kopf! Fieße hoch! Und was sie sonst so von zu Hause kennt. Ich glaube, in Polen nehmen sie in schwierigen Fällen auch gern noch Hühnerkacke.«

»Sie sollten vielleicht nicht so reden.«

Er sah mich erstaunt an. Ich sagte: »Ich glaube, sie meint es gut mit Ihnen.«

Er wollte antworten, sagte dann aber nichts, sondern richtete den Blick wieder hinaus.

Ich zögerte, doch dann fragte ich: »Was sagt denn Ihr Arzt dazu?«

»Mein Arzt ist ein Arschloch.«

[113] Als ich darauf nicht antwortete, warf er mir einen Seitenblick zu. »Ja, ich weiß, Sie denken natürlich wieder, dass es sich nicht gehört, einen Menschen so zu nennen, und schon gar nicht einen Arzt. Ganz unmöglich, nicht wahr? Aber er ist eins, glauben Sie mir!«

»Warum gehen Sie nicht zu einem anderen?«

»Zu welchem denn? Die Brüder sind doch alle gleich! Versuchen, Ihnen eine möglichst teure Behandlung anzudrehen! Alle miteinander!«

Er nahm einen Schluck Wein, ließ drei, vier weitere folgen, ächzte und setzte das Glas ab. »Der hier, mein Hausarzt, wie man so sagt, ich gehöre seit gut zehn Jahren zu seinen zahlenden Kunden… der also ist vor einiger Zeit darauf gekommen, dass ich womöglich an diesem Parkinson-Syndrom leide. Ich nehme an, Sie wissen, was das ist?«

Ich zuckte die Achseln. »Nicht genau. Aber ich hab davon gehört. Natürlich.«

»Dann wissen Sie vielleicht auch, dass niemand so genau weiß, was das ist und woher es kommt. Aber egal – er will an mir unbedingt eine gründliche Untersuchung vornehmen. Gründlich, verstehen Sie? Das heißt, dass er mich durch ein halbes Dutzend sündhaft teurer Apparate schieben will, ach Quatsch, mindestens ein ganzes Dutzend von den Dingern. Solches Science-Fiction-Zeug, das sich natürlich amortisieren muss. Hat er selbst nicht in seiner Praxis, jedenfalls nicht alles, aber es gibt ja Spezialisten, bei denen das herumsteht und auf Opfer wartet und wo Sie dann herumgereicht werden. Und wahrscheinlich bekommt er von diesen Aasgeiern dann auch seine Prozente. So sieht’s doch aus!«

[114] Ich schüttelte den Kopf.

Er starrte mich wütend an. Ich sagte: »Aber vielleicht könnte man damit ja doch eine Therapie für Ihre… für solche Attacken finden, wie die –«

 Er fiel mir ins Wort: »Therapie?! Ach ja, Therapie! Natürlich nehmen wir nur das Feinste vom Feinen, nicht wahr? Dauert zwar ein bisschen und kostet ein kleines Vermögen, aber hilft auf jeden Fall.« Er nickte heftig. »Und wem hilft es? Den Aasgeiern, wem denn sonst! Vor allem, wenn ich lange genug lebe und erst zum Ende der Therapie sterbe, nicht wahr?!«

»Das ist doch Unsinn!«

»Ach ja, Unsinn, meinen Sie?! Wissen Sie, was Unsinn ist?!« Er rückte sich in seinem Stuhl zurecht, dann sagte er: »Ich zähle Ihnen jetzt mal ein paar Symptome für Parkinson auf, geben Sie Obacht: Dieser Fußdreher, den ich vorhin hatte, gehört dazu, das ist richtig. Auch der Tatterich, den ich manchmal habe. Aber das können auch schlicht und einfach Alterserscheinungen sein, verstehen Sie? Ich bin nun mal nicht mehr der Jüngste! Und das ist ja noch nicht alles.«

Er hob die Rechte und begann, an den Fingern aufzuzählen: »Zu den Symptomen gehören nämlich auch eine reduzierte Lautstärke der Stimme – habe ich nicht! Das vermehrte Auftreten von Schuppen oder fettiger Haut – habe ich nicht! Depressionen – kenne ich nicht! Wollen Sie noch mehr hören?«

»Nein, das muss nicht sein. Ich glaube Ihnen ja!« Ich suchte nach einem neuen Argument, mit dem ich diesen sturen Rechthaber zumindest ein wenig verunsichern konnte, [115] aber bevor ich eines gefunden hatte, sagte er apodiktisch: »Natürlich glauben Sie mir nicht

Er lachte, wurde unversehens wieder ernst, visierte mich mit seinem Zeigefinger an. »Glauben würden Sie mir erst, wenn Sie in meiner Haut steckten.« Der Finger begann zu zittern, er legte die Hand auf den Tisch. »Dann, mein Lieber, würden wahrscheinlich auch Sie sich fragen, warum Sie Ihre Lebenszeit vergeuden sollten mit dem Verdacht, dass Sie an einer Krankheit leiden, die Sie vielleicht haben, vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht, und der Arzt weiß es auch nicht. Ich weiß allerdings, dass meine Lebenszeit begrenzt ist und dass sie sich dem Ende nähert, weil ich alt werde. Aber dieser Parkinson… der kann mich mal kreuzweise, verstehen Sie?«

Er lehnte sich zurück, schwenkte seinen Drehstuhl ein wenig zur Seite und blickte wieder hinaus in den Garten. Nach einer Weile sagte er: »Nicht, dass das Altwerden so viel schöner wäre als ein Parkinson. Mit silbernen Haaren und Abendsonnenschein und dem Ausspannen nach den Anstrengungen des Lebens hat es wenig zu tun. Das Altwerden, verstehen Sie. Ach was, wenig – überhaupt nichts hat es damit zu tun! Altwerden… das ist rundum beschissen, und sonst gar nichts!«

Er schwieg. Nach einer Weile raffte ich mich auf. Ich sagte: »Aber… ich denke mir, ein Mensch, der so viel wie Sie… auf die Beine gestellt hat, Ihre Firma, Ihr Unternehmen, das Sie doch… mehr oder weniger aus dem Nichts…«

Er wandte mir sein Gesicht zu.

Ich sagte: »Ich meine, das muss Sie doch auch, na ja, mit [116] Stolz erfüllen.« Er schwieg noch immer. Ich sagte hastig: »Mit Zufriedenheit, denke ich.«

Er lächelte. Dann sagte er: »Nett von Ihnen. Aber Sie haben tatsächlich keine Ahnung. Nicht mal den Schimmer einer Ahnung.« Er lachte. »Der junge Mensch, hat Olga Sie genannt. Die Frau hat Ahnung, weiß Gott.« Er wandte sich ab, sah wieder hinaus. »Wahrscheinlich werden Sie’s nicht glauben. Aber ich hab eine Menge gelesen, über das Altwerden. Nicht zu fassen, wie viel darüber geschrieben worden ist! Das meiste hab ich vergessen. Aber an eine Stelle erinnere ich mich, die hat mir ganz besonders gefallen.«

Er lachte, schüttelte den Kopf. »Die steht bei Platon. Sie wissen wahrscheinlich besser als ich, wer das war. Also, der hat irgendwo geschrieben, im Greisenalter könne man sich immerhin darüber freuen, dass die Geilheit sich endlich verzieht. Er hat das natürlich viel feiner formuliert, ich glaube, er hat es ›die Begierde nach Weibern‹ genannt. Die Begierde, die ›nun endlich schweigt‹. Aber gemeint hat er dasselbe. Okay, und wissen Sie was?«

Er sah mich an. »Der Kerl war kein Philosoph. Der war ein Idiot. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Entweder wollte er den Leuten was vormachen oder sich selbst. Nämlich so tun, als ob es ihm wurscht wäre, dass er...