dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Russische Seelen (eBook) - Albach und Müller: Der erste Fall - Frankenkrimi

Veit Bronnenmeyer

 

Verlag ars vivendi, 2013

ISBN 9783869133157 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

 

I. 1985 – Ein Nebenfluss der Weichsel?

Pfeifenrauch quoll in trägen Schwaden nach oben und bewegte sich unter der Decke in einem unförmigen Orbit um die Lampe. Zigarettenrauch stieg von der anderen Seite auf und bildete die Ausläufer des Spiralnebels. Etwas frische Luft hätte der Amtsstube gut getan. Auch die eine oder andere Grünpflanze auf dem Fensterbrett oder einem der Aktenschränke. In dem Raum befanden sich zwei Männer, die beide hart mit ihren Dienstpflichten zu kämpfen hatten. Der Jüngere hämmerte auf eine dunkelgrüne Triumph-Adler ein, die auf einem in Ehren angestaubten Resopal-Schreibtisch stand. Der Ältere hatte das Eichendekor seines Arbeitsplatzes mit einer Tageszeitung bedeckt und brütete über der Rätselseite. In der Ecke stand ein Beistelltisch, auf dem eine Kaffeemaschine brodelte, und das Kofferradio auf dem niedrigen Regal daneben spielte aktuelle Unterhaltungsmusik.

»Atlantis is calling – SOS for love«, kreischte es aus dem kleinen Lautsprecher.

»Atlantis«, murmelte Herbst, die Pfeife im Mundwinkel, »mythischer Kontinent. Passt.«

»Das ist gerade der letzte Schrei«, sagte Alfred von seiner Schreibmaschine aufblickend. »Modern Talking. Letzte Woche musste ich meinem Sohn die Platte kaufen.«

»Atlantis is calling from the stars above …«

»Immer diese englische Singerei …«, brummte Herbst. »Nelkengewächs, Vogelkraut … wo doch die deutsche Sprache so schön ist. Und es gibt so viele Wörter.«

 

Alfred lenkte seine Gedanken wieder zurück auf den Bericht. Er fragte sich ein Mal mehr, ob es richtig war, die Ermittlungen aufgrund fehlender Indizien und nicht erfolgter Identifizierung des Toten vorläufig einzustellen, und ob sie tatsächlich alles Mögliche und Unmögliche versucht hatten, um den Mörder zu finden. Wenn das Opfer wirklich ein Osteuropäer war, konnte in absehbarer Zeit tatsächlich nicht mit neuen Hinweisen gerechnet werden. Andererseits gab es keine Verjährungsfrist für Mord, und ungelöste Mordfälle blieben manchmal Jahrzehnte bei der Staatsanwaltschaft auf Wiedervorlage … Warum war es in der heutigen Zeit immer noch möglich, dass ein Toter so völlig unbekannt blieb? Warum empfand er so etwas als Miss­erfolg? Und warum gab es noch kein Tipp-Ex, das die zwei Durchschläge gleich mit korrigierte?

»Die basteln jetzt schon an Schreibmaschinen, wo man eine ganze Seite im Voraus tippen und dann noch einmal korrigieren kann, bevor sie geschrieben wird«, sagte Herbst, als er sah, wie Alfred sich mit dem kleinen weißen Papierstreifen abmühte.

»Du wirst es kaum für möglich halten, aber es gibt auch Computer«, entgegnete Alfred, »mit denen kann man hundert Seiten schreiben, immer wieder korrigieren und dann ausdrucken, sooft man will.«

»Ja, ja«, Herbst stopfte seine Pfeife nach und nichts in seinem Gesichtsausdruck ließ erahnen, was er dachte.

»Was meinst du?«, fragte Alfred, »haben wir die Ermittlungen aufgegeben oder bis auf weiteres eingestellt?«

»›Jetzt bringt den Russen endlich unter die Erde‹«, zitierte Herbst, »das waren doch die Worte vom Staatsanwalt, nicht wahr?«

»Ja, schon …«

»Also, dann lass ihn in Frieden ruhen! Wir haben schließlich noch genug andere Arbeit.«

»Wir könnten doch wenigstens versuchen, ob wir damit zu Aktenzeichen XY kommen«, schlug Alfred vor. »Das sehen jedes Mal zig Millionen Zuschauer. Danach können wir ihn ja immer noch abschreiben.«

»Glaubst du, die da drüben würden so einen Aufwand wegen einem von uns treiben?«, Herbst gestikulierte mit dem abgekauten Mundstück der Pfeife in Alfreds Richtung. »Es gibt eben so ungeschriebene Gesetze und wir tun gut daran, sie zu beachten, glaube mir. Wahrscheinlich könnten wir mehr für ihn tun, wenn er von einem anderen Stern wäre. Übrigens, kennst du einen Nebenfluss der Weichsel?«

 

Der Tote war in den Morgenstunden von einem Waldläufer entdeckt worden. Der Hund des Joggers hatte unweit des Tiergartens die vorgesehene Route verlassen und sich an einem Haufen Laub und trockenem Holz zu schaffen gemacht. Der Mann war zur nächsten Telefonzelle gerannt und hatte die Polizei gerufen. Die Routine-Maschine war bereits angelaufen, als Herbst und Alfred in ihrem 3er BMW vorfuhren. Der Tote lag anscheinend schon zwei bis drei Wochen im Wald und war nicht mehr im besten Zustand.

»Russe!«, hatte Herbst am Fundort gesagt, seinen Blick in die Umgebung schweifen lassen und festgestellt: »Da schau her, wir haben Juni und es gibt schon Maronen.«

Alfred hatte seinem Kollegen verwundert nachgeschaut, als dieser mit gezücktem Taschenmesser die direkte Umgebung des Geschehens verließ. Er wusste jetzt schon, dass es wieder ihn treffen würde, bei der Obduktion dabei zu sein. Von daher konnte er sich auch gleich den Magen verrenken und sich intensiver mit dem Anblick der Leiche beschäftigen. Es war offensichtlich, dass der Mann nicht hier im Wald zu Tode gekommen war. Er war völlig nackt, von seinen Kleidern keine Spur. Sein Körper wies viele kleine Wunden und Narben auf, die aber schon älter waren. Die Todesursache schien ein sauberer Genickschuss zu sein, womöglich eine Hinrichtung? Leider hatte es in den letzten vierzehn Tagen ziemlich viel geregnet, auf Spuren konnte man daher kaum hoffen. Es schien jedenfalls so, als ob der Täter reichlich Zeit gehabt hätte, denn der Leichnam war sorgfältig versteckt worden. Der oder die Täter hatten Äste, Zweige, Laub und Moos nicht einfach auf ihn draufgeschaufelt, sondern den Grabhügel geschickt in den Waldboden integriert.

»Nun, junger Freund«, Herbst stand hinter ihm. Er hielt seine braune Strickweste wie einen Sack in der linken Hand und aus einem Armloch lugten ein paar junge Waldpilze, »kannst du die Sprache dieses Todes verstehen?«

»Ich weiß nicht«, Alfred blickte aus der Hocke abwechselnd Herbst und den Kollegen der Spurensicherung an. »Er hat viele kleine Wunden und Verletzungen überall am Körper.«

Alfred richtete sich auf und sah Herbst in die blassblauen Augen, die, wie es ihm vorkam, seine Gedanken lesen konnten.

»Das war keine Folter«, sagte Herbst, »das können schon eher Kriegsverletzungen sein oder nähere Bekanntschaft mit einem Stacheldrahtverhau. Vielleicht war er ja Soldat. Außerdem Folter und dann gleich ein Genickschuss? Nein, nein.«

Viele Fragen blieben offen. Warum hatte der Mörder sein Opfer zum Beispiel nicht gleich tief vergraben? Anscheinend spielte es keine Rolle, ob man die Leiche entdeckte oder nicht. Alles, was der Täter brauchte, war wohl etwas Zeit gewesen, um wieder zu verschwinden. Einen Tag, vielleicht zwei. »Warum sich also mit dem schwierigen Waldboden abmühen?«, fragte Herbst rhetorisch.

Kurz darauf war Staatsanwalt Eckstein auf der Bildfläche erschienen. Er war schon im vorgerückten Alter und hatte eine wesentlich jüngere Frau geheiratet, die größten Wert auf ein modisches Erscheinen ihres Gatten legte. Was an sich ja noch kein Malheur gewesen wäre. Nur leider war Staatsanwalt Eckstein von Geburt an farbenblind und konnte sich so nicht gegen die gestalterischen Ambitionen seiner Frau wehren. Heute trug er eine hellblaue Bundfaltenhose zu einem ebensolchen Sakko, das an der Taille etwas knapper, dafür an den Schultern etwas ausladender geschnitten war. Die Schulterpartie wurde außerdem durch großzügige Polster zusätzlich aufgewertet. Darunter trug er ein pinkfarbenes Hemd mit einer dünnen Lederkrawatte. Seine Füße steckten in weißen Slippern der Größe 45. Alfred wusste nicht genau, mit wem er mehr Mitleid haben sollte, mit der Leiche oder mit Staatsanwalt Eckstein. Dem Zeitgeist und seinem noch jungen Alter zum Trotz war Alfred ein Bewahrer von klassischem Stil und Eleganz. Mit Schwarz, Weiß und Grau konnte man nichts falsch machen. Dazu ein paar Farbtupfer in möglichst natürlichen Tönen, fertig – war doch nicht so schwer. Die modischen Kapriolen der letzten Jahre konnte er nicht nachvollziehen, er verstand aber langsam den Sinn von schwarzen Roben als Dienstkleidung vor Gericht.

»Na, das ist ja wieder mal typisch«, hatte Eckstein gestöhnt, als er sich mit den wesentlichen Umständen des Falles vertraut gemacht hatte, »andere bekommen Serienmorde, einen reichen Erbonkel oder wenigstens einen Prostituiertenmord. Nur ich muss mich immer mit so was herumschlagen. Herbst!«

»Herr Staatsanwalt?«

»Und wer sind jetzt Sie?«, wandte sich Eckstein an Alfred.

»Kommissar Albach, Herr Staatsanwalt«, antwortete er zackig.

»Ja, natürlich. Sie wurden aber erst kürzlich zur Mordkommission überstellt, oder?«

»Aber Herr Staatsanwalt«, sprang Herbst ein, »Kollege Albach ist doch schon seit fast fünf Jahren bei uns. Sie erinnern sich doch sicher an den Fall Wegener, den er fast alleine gelöst hat.«

»Selbstverständlich. Da hatten Sie aber noch längere Haare und einen Schnauzbart«, befahl Eckstein.

Alfred, der Bärte jeder Art schon immer verabscheut hatte und die Haare seit der unsäglichen Föhn-Frisuren-Welle immer betont kurz trug, widersprach nicht. Es war allgemein bekannt, dass Eckstein nicht über das beste Gedächtnis verfügte und auch sonst ein eher zerstreuter Zeitgenosse war. Herbst zufolge war das aber keine Alterserscheinung, sondern schon immer so gewesen. Seine Erfolge verdankte Eckstein größtenteils dem Umstand, dass er sich immer sehr für die Belange der Polizisten und seiner anderen Mitarbeiter einsetzte. Er sah sie nicht als Erfüllungsgehilfen oder Handlanger an und war so in der glücklichen Lage, immer nur mit zufriedenen und motivierten Leuten...