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Zero Day - Thriller

David Baldacci

 

Verlag Heyne, 2013

ISBN 9783641127756 , 624 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

 

1

Die Kohlenstaubwolke, die sich tief in Howard Reeds Lunge geätzt hatte, brachte ihn beinahe dazu, das Postfahrzeug an den Straßenrand zu lenken und sich auf das verdorrte Gras zu erbrechen. Jedenfalls musste er krampfhaft würgen, husten und spucken. Er trat aufs Gaspedal und raste an den Lkw-Pisten vorüber, auf denen gewaltige Kipplaster rumpelten und schwarzen Grus in die Luft bliesen, als würden sie glühendes Konfetti streuen. Die Luft war mit Schwefeldioxid gesättigt, weil eine Kohlenstaubhalde Feuer gefangen hatte, wie es häufig geschah. Die Gase stiegen in die Atmosphäre, wo sie mit dem Sauerstoff reagierten und Schwefeltrioxid bildeten, das an Wassermoleküle andockte und eine Verbindung schuf, die später als giftiger Säureregen auf die Erde fiel. Nichts davon durfte als verlässliche Rezeptur für eine harmonische Umwelt gelten.

Reed klammerte die Hände fest an die Speziallenkung, sodass sein achtzehn Jahre alter Ford mit dem ratternden Auspuff und dem knirschenden Getriebe auf dem rissigen Asphalt die Spur hielt. Das Postfahrzeug war sein Privatwagen und so umgebaut worden, dass Reed es vom Beifahrersitz aus lenken und auf seiner Strecke unmittelbar neben den Briefkästen halten konnte. Die Vorrichtung, die diese Art des Lenkens ermöglichte, besaß Ähnlichkeit mit einem Riemenantrieb. Dank dieser Apparatur konnte Reed den Wagen von der rechten Fahrzeugseite aus steuern, bremsen und beschleunigen.

Nachdem er Landpostbote geworden war und das Auto auf der »falschen« Seite zu lenken gelernt hatte, kam er auf die Idee, nach England zu reisen und seine frisch erworbene Fähigkeit auf den dortigen Straßen zu erproben, wo alle Fahrzeughalter die linke Straßenseite benutzten. Er hatte erfahren, dass diese Besonderheit auf die Zeiten der Raufhändel zurückging, als ein Mann seinen Degen stets an der einem Angreifer zugewandten Seite trug. Reeds Ehefrau hatte ihn einen Idioten geschimpft und erklärt, er würde in der Fremde höchstwahrscheinlich abkratzen.

Seine Strecke führte am Berg vorbei, beziehungsweise an der Stelle, wo der Berg sich einst erhoben hatte, bevor er von der Trent Mining & Exploration Company gesprengt worden war, um an die darunter befindlichen reichen Kohleflöze zu ge­langen. Weite Bereiche der Umgebung sahen jetzt wie die Mond­oberfläche aus, kahl und übersät von Kratern. Berg­­kuppen­tagebau hieß das Verfahren. Reed hielt die Bezeichnung Landschaftsverwüstung für angebrachter.

Doch hier in West Virginia bot der Kohleabbau den Großteil der gut bezahlten Arbeitsplätze. Also jammerte Reed nicht, wenn Flugascheschlamm aus einem Rückhaltebecken sein Haus überschwemmte. Auch nicht, wenn das Trinkwasser sich schwarz verfärbte und nach faulen Eiern stank. Und ebenso wenig, weil das Dasein in einer dermaßen vergifteten Umgebung ihn eine Niere gekostet und Leber und Lunge geschädigt hatte. Man hätte ihn als Gegner der Kohleindustrie und damit als arbeitsplatzfeindlich gebrandmarkt. Und auf zusätz­lichen Ärger konnte Reed verzichten.

Er bog von der Landstraße ab, um das letzte Poststück des Tages dem Empfänger auszuhändigen, ein Einschreibepäckchen. Reed hatte geflucht, als er die Post eingeladen und das Päckchen gesehen hatte. Es bedeutete, dass er mit einem anderen Menschen in Kontakt treten musste. Dabei wünschte er sich momentan nichts anderes, als schleunigst zur Dollar Bar zu flitzen, wo an Montagen der Krug Bier nur 25 Cent kostete. Dort konnte er dann auf seinem Stammplatz, einem verschlissenen kleinen Barhocker, an der Mahagonitheke sitzen und zu vergessen versuchen, dass er später nach Hause zu seiner Frau musste, die seine Alkoholfahne riechen und ihm während der nächsten Stunden Vorhaltungen machen würde.

Er fuhr auf den Kiesweg. Die Gegend hier war einmal ziemlich hübsch gewesen; auf jeden Fall, wenn man zurück bis in die 1950er-Jahre blickte. Jetzt war sie nicht mehr so schön. Nirgends zeigte sich eine Menschenseele. In den Gärten waren keine Kinder zu sehen, als wäre es zwei Uhr nachts und nicht vierzehn Uhr nachmittags. An einem heißen Sommertag müssten sich die Kinder im Freien aufhalten, unter dem Wasser der Sprinkler­anlage herumtollen oder Fangen spielen. Doch Reed wusste, dass die Kinder heutzutage anders waren. Sie hockten in klimatisierten Zimmern und beschäftigten sich mit dermaßen gewalttätigen und von Blut triefenden Computerspielen, dass Reed seinen Enkeln verboten hatte, so etwas ins Haus zu holen.

Jetzt quollen die Gärten über von Müll und verdrecktem Plastikspielzeug. Verrostete alte Fords und Dodges standen auf Betonklötze aufgebockt. Putz bröckelte von den rissigen Hauswänden. Sämtliche Holzflächen hätten frisch gestrichen werden müssen, und Dächer sackten ein, als übte Gott selbst von oben Druck auf sie aus. Das war so traurig, so erbarmungswürdig, dass Reed sich umso mehr nach einem Bier sehnte, denn in seiner Wohngegend sah es genauso aus. Er wusste, dass einige Privilegierte dank der Kohleflöze ein Vermögen verdienten, aber keiner von ihnen wohnte in einer Gegend wie dieser.

Reed nahm das Päckchen aus dem Postkorb und schlurfte zum Haus. Das heruntergekommene zweistöckige Gebäude hatte eine Seitenwandung aus Kunststoff. Die weiße, verkratzte Eingangstür bestand aus Leichtbauplatten; davor war eine Ganzglastür angebracht. An der Veranda gab es eine Rollstuhlrampe aus Sperrholz. Die Sträucher vor dem Haus waren verwildert und im Absterben begriffen; ihre Zweige hatten sich gegen die Außenwandung gedrückt und sie eingebeult. Vor Reeds schwarzem Ford parkten zwei Autos auf dem Kies: ein Chrysler Minivan und ein brandneuer Lexus.

Reed ließ sich einen Moment Zeit, um das japanische Auto zu bewundern. So ein Schlitten würde ihn wohl mehr als ein Jahresgehalt kosten. Andächtig berührte Reed den blauen Metallic­lack. Am Innenspiegel sah er eine Fliegerbrille hängen. Auf der Rückbank lagen eine Aktentasche und ein grünes Jackett. Die Nummernschilder beider Fahrzeuge gehörten zu Virginia.

Reed ging weiter, umrundete die Rampe, betrat die unterste Stufe der Eingangstreppe, schleppte sich drei Blöcke Guss­beton hinauf und klingelte. Er hörte das Bimmeln aus dem Haus hallen.

Er wartete zehn Sekunden lang. Zwanzig. Seine Gereiztheit wuchs. Er läutete ein zweites Mal. »Hallo? Hier ist die Post. Ich bringe ein Einschreibepäckchen.« Seine Stimme, die er sonst während des gesamten Arbeitstages kaum benutzte, klang in seinen eigenen Ohren fremd, als spräche ein anderer. Reed senkte den Blick auf das flache Päckchen im DIN-A4-Format. Daran befestigt war das Formular, das unterschrieben werden musste.

Nun komm schon, es ist tierisch heiß, und die Dollar Bar wartet auf mich.

Reed schaute auf den Paketschein. »Mr. Halverson?«, rief er.

Er kannte den Mann nicht, aber der Name war ihm von früheren Zustellungen geläufig. In ländlichen Gegenden freundeten manche Postzusteller sich sogar mit den Empfängern an. Reed gehörte nicht zu der Sorte. Er wollte sein Bier, keinen Small Talk.

Er klingelte ein drittes Mal und klopfte mit den Finger­knöcheln zweimal kurz an die Glastür. Mit der Hand wischte er sich einen Schweißtropfen fort, der ihm in den von der Sonne geröteten Nacken rann. Sonnenbrand war sein Berufsrisiko, weil er sich den ganzen Tag bei offenem Wagenfenster heißem Sonnenschein aussetzte. In seinen Achselhöhlen sammelte sich Schweiß und tränkte das Hemd. Er fuhr das Auto nie mit geschlossenen Fenstern, sondern verzichtete auf die Klimatisierung. Sprit war teuer genug, ohne dass man ihn verschwendete.

Nun hob er die Stimme. »Hallo, hier ist Ihr Postzusteller. Ich brauche eine Unterschrift. Wenn die Sendung retourniert wird, können Sie wahrscheinlich ewig darauf warten.« Er konnte die Hitze in der Luft flimmern sehen. Ihm war ein bisschen schwindlig. Allmählich wurde er zu alt für diese Scheiße.

Erneut streifte sein Blick die beiden Fahrzeuge. Jemand musste im Haus sein. Er trat von der Tür zurück und legte den Kopf in den Nacken. Aus den Dachfenstern schaute niemand herunter. Ein Fenster allerdings stand offen.

Reed klopfte nochmals an.

Endlich hörte er, dass jemand kam. Die Holztür war einen Spaltbreit geöffnet, wie er jetzt erst bemerkte. Die Geräusche näherten sich und verstummten. Wegen seiner Schwerhörigkeit bemerkte Reed nicht den sonderbaren Klang der Schritte.

»Post«, rief er. »Ich brauche eine Unterschrift.« Er leckte sich über die trockenen Lippen. Er sah schon einen Halbliterkrug Bier in seiner Hand, konnte es sogar schon schmecken.

Mach die verdammte Tür auf.

»Möchten Sie das Päckchen entgegennehmen?«, erkundigte er sich. Mir soll es egal sein. Ich kann es auch in den Hohlweg schmeißen. Wäre nicht das erste Mal.

Endlich öffnete sich die Tür ein paar Zentimeter weiter. Reed zog die Glastür auf und streckte die Hand mit dem Päckchen aus. »Haben Sie einen Kuli?«, fragte er.

Als die Holztür noch weiter aufschwang, blinzelte er verdutzt. Niemand war zu sehen. Es schien, als hätte sich die Tür von allein geöffnet. Reed senkte den Blick. Ein Zwergcollie beäugte ihn. Die spitze Schnauze und die buschigen Hinterbeine schwenkten von einer Seite zur anderen. Offenbar hatte das Tier die Tür mit der Nase aufgeschoben.

Reed, obwohl Postbote, hatte Hunde gern und hielt selbst zwei. »Na, Freundchen?« Er ging in die Hocke. »Hallo.« Er kraulte dem Hund die Ohren. »Ist jemand zu Hause? Oder willst du die Empfangsbescheinigung unterschreiben?«

Als Reed die Nässe im Fell des Tieres spürte, dachte er zuerst an...