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Die Mitternachtsrose - Roman

Lucinda Riley

 

Verlag Goldmann, 2014

ISBN 9783641125554 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

Ein Jahr später

Ich erinnere mich. In der Nacht erscheint schon die sanfteste Brise wie eine himmlische Erholung von der ewigen trockenen Hitze in Jaipur. Oft klettern die anderen Frauen und Kinder der zenana und ich zu den Dächern des Mondpalastes hinauf und schlafen dort

Wenn ich da liege und zu den Sternen hochblicke, höre ich dieses Singen und weiß, dass ein geliebter Mensch von der Erde genommen und sanft nach oben getragen wird

Ich schrecke aus dem Schlaf hoch und finde mich in meinem Zimmer in Darjeeling wieder, nicht auf dem Dach des Palasts in Jaipur. Es war ein Traum, versuche ich, mich ein wenig desorientiert zu beruhigen, als der Gesang in meinen Ohren nachhallt, obwohl mir klar ist, dass ich wach bin.

Ich weiß, was das bedeutet: Gerade stirbt jemand, den ich liebe. Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich schließe die Augen und gehe im Geist meine Familie durch, um herauszufinden, wer.

Ohne Erfolg. Merkwürdig, denke ich, denn noch nie zuvor haben die Götter sich geirrt.

Wer …?

Ich atme tief durch, horche in mich hinein.

Und plötzlich weiß ich es.

Mein Sohn … mein geliebter Sohn.

Tränen treten mir in die Augen. Um mich zu trösten, blicke ich durchs Fenster hinauf zum Himmel. Und sehe nur dunkle Nacht.

Es klopft leise an der Tür, und Keva tritt mit besorgter Miene ein.

»Madam, ich habe Sie weinen hören. Sind Sie krank?«, fragt sie, kommt zu mir und fühlt meinen Puls.

Ich schüttle stumm den Kopf, während sie mit einem Taschentuch die Tränen von meinen Wangen wischt. »Nein«, beruhige ich sie. »Ich bin nicht krank.«

»Was ist dann? Haben Sie schlecht geträumt?«

»Nein.« Sie wird es nicht verstehen. »Mein Kind ist gerade gestorben.«

Keva sieht mich entsetzt an. »Woher wissen Sie, dass Madam Muna tot ist?«

»Nicht meine Tochter, Keva, sondern mein Sohn, den ich vor so vielen Jahren in England zurücklassen musste. Er ist einundachtzig Jahre alt geworden«, murmle ich. »Immerhin hatte er ein langes Leben.«

Keva legt verwirrt eine Hand auf meine Stirn, um zu prüfen, ob ich Fieber habe. »Madam, Ihr Sohn ist schon lange tot. Wahrscheinlich haben Sie geträumt.«

»Möglich«, sage ich, um sie nicht zu beunruhigen. »Notiere bitte trotzdem Datum und Stunde für mich. Diesen Augenblick möchte ich nicht vergessen. Die Zeit des Wartens ist vorüber.«

Sie tut mir den Gefallen und gibt mir den Zettel.

»Ich komme jetzt allein zurecht. Du kannst gehen.«

»Sehr wohl, Madam. Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Ja. Gute Nacht, Keva.«

Als sie das Zimmer verlässt, schreibe ich einen kurzen Brief. Dann hole ich die abgegriffene Sterbeurkunde meines Sohns aus der Schublade des Nachtkästchens. Morgen soll Keva beides in einen Umschlag stecken und diesen an den Anwalt schicken, der meinen Nachlass regeln wird. In dem Brief bitte ich ihn, mich anzurufen, damit ich ihm sagen kann, an wen er den Umschlag nach meinem Tod senden soll.

Ich schließe die Augen, um zu schlafen. Plötzlich fühle ich mich hier auf Erden sehr allein, und mir wird klar, dass ich auf diesen Moment gewartet habe. Bald werde ich meinem Sohn folgen …

Drei Tage später klopfte Keva zur üblichen Zeit an der Tür ihrer Herrin. Nicht sofort eine Antwort zu erhalten war nichts Ungewöhnliches, denn Madam Chavan döste oft bis spät in den Vormittag hinein. Also erledigte Keva eine halbe Stunde lang andere Dinge im Haushalt, bevor sie noch einmal klopfte und wieder keine Reaktion erfolgte. Das war nun allerdings ungewöhnlich. Als Keva leise die Tür öffnete, stellte sie fest, dass ihre Herrin tief und fest schlief. Erst nachdem sie die Vorhänge zurückgezogen und ihr dabei wie immer Belanglosigkeiten erzählt hatte, merkte sie, dass Madam Chavan nicht antwortete.

Aris Handy klingelte mitten im chaotischen Verkehr von Mumbai. Als er die Nummer seines Vaters sah, mit dem er Wochen nicht gesprochen hatte, ging er ran und stellte laut.

»Papa!«, rief er fröhlich aus. »Wie geht’s?«

»Hallo, Ari, gut, aber …«

Die Stimme seines Vaters klang traurig.

»Ja?«, fragte er. »Was ist los?«

»Deine Urgroßmutter Anahita ist heute in den frühen Morgenstunden gestorben.«

»Oh, Papa, das tut mir leid.«

»Es tut uns allen leid. Sie war eine wunderbare Frau und wird uns fehlen.«

»Immerhin hatte sie ein langes Leben«, stellte Ari fest, während er mit seinem Wagen einem Taxi auswich, das unvermittelt vor ihm stehen geblieben war.

»Ja. Die Beisetzung findet in vier Tagen statt, damit die Verwandten genug Zeit haben herzukommen. Deine Geschwister und alle anderen werden da sein. Du hoffentlich auch«, sagte Vivek.

»Diesen Freitag?«, fragte Ari entsetzt.

»Ja, mittags. Sie wird nur in Anwesenheit der Familie am ghaat von Darjeeling verbrannt. Später findet eine Trauerfeier für sie statt.«

»Papa«, stöhnte Ari. »Wirklich, Freitag geht nicht. Ein potenzieller Kunde fliegt wegen einem Softwarevertrag eigens aus den Staaten her. Der Auftrag würde mein Unternehmen von einem Tag auf den anderen aus der Verlust- in die Gewinnzone bringen. Beim besten Willen: Am Freitag kann ich nicht nach Darjeeling kommen.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Ari«, seufzte sein Vater schließlich, »sogar ich weiß, dass es Situationen gibt, in denen die Familie wichtiger ist als der Beruf. Deine Mutter würde dir das nie verzeihen, gerade deswegen, weil Anahita dir bei ihrer Geburtstagsfeier letztes Jahr zu verstehen gegeben hat, wie sehr du ihr am Herzen liegst.«

»Tut mir leid, Papa«, beharrte Ari. »Das schaffe ich nicht.«

»Ist das dein letztes Wort?«

»Ja.«

Ari hörte, wie sein Vater den Hörer auf die Gabel knallte.

Am folgenden Freitagabend kehrte Ari bestens gelaunt nach Hause zurück. Das Treffen mit den Amerikanern war so gut gelaufen, dass sie sich sofort auf den Deal verständigt hatten. Da er zur Feier des Tages mit Bimbi ausgehen wollte, fuhr er zuvor zum Duschen und Umziehen zu seinem Apartment. Unten holte er einen Brief aus seinem Postfach und nahm dann den Lift in den sechzehnten Stock. Im Schlafzimmer riss er den Umschlag auf und las den Brief darin.

Anwaltskanzlei Khan & Chauhan

Chowrasta Square

Darjeeling

Westbengalen

Indien

2. März 2001

Sehr geehrter Herr,

den Anweisungen meiner Mandantin Anahita Chavan folgend sende ich Ihnen diesen Umschlag. Wie Sie vielleicht schon wissen, ist Madam Chavan vor ein paar Tagen verstorben.

Mit herzlichem Beileid

Devak Khan

Partner

Ari setzte sich aufs Bett. In der Aufregung um den Geschäftstermin hatte er die Beisetzung seiner Urgroßmutter völlig vergessen. Mit einem tiefen Seufzen öffnete er das Kuvert, das der Anwalt beigelegt hatte. Bestimmt, dachte er, würden seine Eltern es ihm nie verzeihen, dass er sie nicht einmal angerufen hatte.

»Egal, so ist es nun mal«, brummte Ari, als er den Brief entfaltete.

Mein lieber Ari,

wenn Du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Beigefügt sende ich Dir das Datum und die genaue Uhrzeit des Todes von meinem Sohn Moh sowie seine Sterbeurkunde von damals. Wie Du siehst, stimmen die Daten nicht überein. Im Moment mag Dir das vielleicht noch nichts sagen, doch wenn Du Dich irgendwann entschließen solltest, Nachforschungen darüber anzustellen, was mit ihm geschehen ist, könnte es Dir möglicherweise helfen.

In der Zwischenzeit schicke ich Dir, bis wir uns an einem anderen Ort wiedersehen, meine Liebe. Vergiss nicht, dass wir unsere Geschicke niemals ganz selbst lenken können. Lausche auf das, was Deine Ohren Dir sagen, und halte Deine Augen offen, das wird Dich leiten.

Deine Dich liebende Urgroßmutter

Anahita

Ari seufzte. Er war nicht in der Stimmung, sich Gedanken über dieses Gewäsch seiner Urgroßmutter oder darüber zu machen, wie wütend seine Eltern im Moment wahrscheinlich auf ihn waren, und wollte sich den Abend nicht verderben lassen.

Bevor er das Wasser in der Dusche aufdrehte, stellte er den CD-Player neben seinem Bett laut, damit er die dröhnende Musik hören konnte.

Nach dem Duschen schlüpfte er in einen seiner maßgeschneiderten...