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Wiedersehen mit Brideshead - Die heiligen und profanen Erinnerungen des Captain Charles Ryder

Evelyn Waugh

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603439 , 464 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[15] Prolog

Als ich die Quartiere der Dritten Kompanie oben auf der Anhöhe erreichte, hielt ich inne und wandte mich zu dem Lager um, das im grauen Dunst des frühen Morgens unter mir soeben in seiner ganzen Größe sichtbar wurde. An diesem Tag rückten wir ab. Bei unserem Einzug drei Monate zuvor hatte Schnee gelegen, jetzt spross das erste Frühlingslaub. Damals hatte ich gedacht, dass ich mir nichts Grausameres vorstellen könnte, egal, welch trostlose Szenen noch vor uns lagen, und jetzt dachte ich, dass ich keine einzige glückliche Erinnerung daran bewahrte.

Hier war die Liebe zwischen mir und der Armee gestorben.

Hier endeten die Gleise der Elektrischen, so dass die Männer, die benebelt aus Glasgow zurückkehrten, so lange auf ihren Sitzen dösen konnten, bis das Ende der Reise sie aufschrecken ließ. Von der Haltestelle bis zum Lager war es noch ein Stück zu Fuß; eine Viertelmeile, auf der sie sich die Uniformjacken zuknöpfen und ihre Mützen zurechtrücken konnten, ehe sie die Wachstube passierten, eine Viertelmeile, auf der das Pflaster am Straßenrand in Gras überging. Dies war das äußerste Ende der Stadt. Hier endete das dichte, homogene Gebiet von Wohnsiedlungen und Kinos und begann das Hinterland.

[16] Das Lager stand da, wo noch bis vor kurzem Wiesen und Felder gewesen waren. Das Bauernhaus, das uns als Büro für das Bataillon gedient hatte, schmiegte sich in eine Mulde des Hangs. Noch stützte Efeu einen Teil dessen, was einmal die Mauer eines Obstgartens gewesen war; ein halber Morgen verkrüppelter alter Bäume hinter den Waschhäusern hatte überlebt. Alles war zum Abriss bestimmt gewesen, bevor die Armee hier einzog. Ein weiteres Jahr Frieden, und es hätte kein Bauernhaus, keine Mauer und keine Apfelbäume mehr gegeben. Schon führte eine halbe Meile gepflasterter Straße zwischen kahlen Lehmböschungen entlang, und auf beiden Seiten offenbarte ein Netzwerk offener Gräben, wo die städtischen Bauunternehmer ein Abwassersystem geplant hatten. Ein weiteres Jahr Frieden, und diese Gegend wäre Teil des sich ausbreitenden Vorstadtviertels gewesen. Jetzt aber warteten die Baracken, in denen wir überwintert hatten, darauf, abgerissen zu werden.

Auf der anderen Seite lag das städtische Irrenhaus, das selbst im Winter hinter dichtstehenden Bäumen halb verschwand und Anlass zu bissigen Kommentaren gab. Mit seinen schmiedeeisernen Gittern und vornehmen Toren konnte unser primitiver Drahtverhau nicht mithalten. An schönen Tagen sahen wir, wie die Verrückten über die gepflegten Kieswege und hübsch angelegten Rasenflächen schlenderten oder hüpften, glückliche Kollaborateure, die den ungleichen Kampf aufgegeben, sich aller Zweifel entledigt und alle Pflichten abgeschüttelt hatten. Sie waren die unbestrittenen Nutznießer eines Jahrhunderts voller Fortschritt, die behaglich genossen, was man ihnen hinterlassen hatte. Wenn wir an ihnen vorbeimarschierten, riefen unsere Männer ihnen [17] über den Zaun hinweg zu: »Halt mir ein Plätzchen warm, Kumpel, ich bleib nicht lange.« Doch Hooper, mein frisch zu uns gestoßener Zugführer, gönnte ihnen ihr privilegiertes Leben nicht. »Hitler würde sie in die Gaskammer stecken«, erklärte er. »Vermutlich könnten wir das eine oder andere noch von ihm lernen.«

Als wir mitten im Winter eingerückt waren, hatte ich eine Kompanie kräftiger und hoffnungsvoller Männer gehabt. Wir waren aus der Moorlandschaft hier in die Hafengegend verlegt worden, und sie meinten, dass es nun endlich in den Nahen Osten gehen sollte. Doch die Zeit verging, und als wir anfingen, den Schnee zu räumen und einen Exerzierplatz anzulegen, beobachtete ich, wie sich ihre Enttäuschung in Resignation verwandelte. Sie schnupperten den Duft von Bratfischbuden und spitzten die Ohren, wenn sie vertraute Geräusche des Friedens hörten wie die Sirene der Fabriken oder die Musik der Tanzorchester. An freien Tagen lungerten sie jetzt an Straßenecken herum und verdrückten sich rasch, wenn ein Offizier auftauchte, aus Angst, ihr Gesicht bei ihren neuen Freundinnen zu verlieren, wenn sie salutierten. Im Kompaniebüro häuften sich Protokolle kleinerer Straftaten und Anträge auf Urlaub aus familiären Gründen, und schon im Morgengrauen begann der Tag mit dem Jammern der Simulanten oder dem düsteren Gesicht und starren Blick eines Mannes, der eine Beschwerde vortragen wollte.

Doch wie sollte ich, der nach allen Vorschriften verpflichtet war, ihre Moral zu heben, ihnen helfen, wenn ich doch mir selbst nicht zu helfen wusste? Der Colonel, unter dem wir uns formiert hatten, wurde woandershin beordert und von einem jüngeren, weniger liebenswürdigen Mann [18] abgelöst, den man aus einem anderen Regiment hierher versetzt hatte. Mittlerweile war in der Messe kaum noch jemand von denen übrig, die sich bei Ausbruch des Krieges als Freiwillige gemeldet hatten und zusammen ausgebildet worden waren. Auf die eine oder andere Art waren fast alle abhandengekommen – manche ausgemustert, andere zu anderen Bataillonen oder zum Stab versetzt; einige hatten sich als Freiwillige zu Spezialeinheiten gemeldet, einer war auf dem Schießplatz getötet und einer vor ein Kriegsgericht gestellt worden. Ihre Plätze hatten normale Rekruten eingenommen. Inzwischen lief ununterbrochen das Radio im Vorzimmer, und man trank eine Menge Bier vor dem Essen. So war es vorher nicht gewesen.

Hier, mit neununddreißig Jahren, begann ich alt zu werden. Abends fühlte ich mich steif und müde und hatte keine Lust, das Lager zu verlassen. Ich entwickelte Besitzansprüche auf bestimmte Sessel und Zeitungen; ich trank regelmäßig drei Gläser Gin vor dem Abendessen, nicht mehr und nicht weniger, und ging gleich nach den Neun-Uhr-Nachrichten schlafen. Und immer war ich schon eine Stunde vor dem morgendlichen Weckruf hellwach und gereizt.

Hier starb meine letzte Liebe. Ihr Tod hatte nichts Bemerkenswertes. Eines Tages, nicht lange vor diesem letzten im Lager, lag ich wieder einmal vor der Reveille wach in der Baracke und starrte in die rabenschwarze Dunkelheit, umgeben vom tiefen Atmen und schläfrigen Murmeln der vier anderen Kameraden. Ich wälzte in Gedanken, was an diesem Tag alles zu erledigen war: Hatte ich die Namen der beiden Unteroffiziere für den Waffenausbildungskurs eingetragen? Würde der Großteil der Männer, die sich an diesem [19] Tag zurückmelden sollten und ihren Urlaub überzogen, wieder zu meiner Kompanie gehören? Konnte ich Hooper die Aufgabe anvertrauen, mit der Aspirantenklasse zum Kartenlesen ins Gelände zu gehen? Ich lag dort, in dieser dunklen Stunde, und erkannte zu meinem Entsetzen, dass etwas in mir nach langem Siechtum unversehens gestorben war. Ich fühlte mich wie ein Ehemann, der nach gut drei Jahren Ehe plötzlich weiß, dass er keine Zärtlichkeit, kein Verlangen, keine Achtung für seine einst geliebte Frau mehr empfindet, kein Vergnügen an ihrer Gesellschaft, nicht den Wunsch, ihr zu gefallen, oder Neugier auf das, was sie jemals sagen oder denken könnte, keine Hoffnung, alles wieder in Ordnung zu bringen, und sich keine Selbstvorwürfe wegen dieser Katastrophe macht. Ich kannte das alles, das ganze triste Ausmaß ehelicher Ernüchterung; wir hatten es gemeinsam durchgemacht, die Armee und ich, vom ersten stürmischen Werben bis jetzt, da uns nichts mehr blieb als die eiskalten Bande von Recht, Pflicht und Gewohnheit. Ich war an jeder Szene der häuslichen Tragödie beteiligt gewesen, hatte gemerkt, wie die ersten Unstimmigkeiten sich häuften, die Tränen ihre Wirkung verloren, die Versöhnung von Mal zu Mal weniger süß war, bis daraus ein Gefühl von Distanziertheit und kühler Kritik hervorging, aber auch die wachsende Überzeugung, dass es nicht an mir, sondern an ihr lag – sie war die Schuldige. Ich registrierte die falschen Töne in ihrer Stimme und lernte, bang auf sie zu horchen; ich nahm den leeren, verbitterten Ausdruck von Verständnislosigkeit in ihren Augen wahr und auch die egoistisch verzogenen Mundwinkel. Ich kannte sie, so wie man eine Frau eben kennt, mit der man dreieinhalb Jahre tagein, [20] tagaus zusammengelebt hat. Ich kannte ihre Schlampigkeit, den routinierten Einsatz ihres Charmes, ihre Eifersucht, ihre Selbstsucht und das nervöse Zucken der Finger, wenn sie log. Sie hatte all ihren Zauber verloren, und ich sah sie nur noch als unsympathische Fremde, an die ich mich in einem unbedachten Augenblick für immer gebunden hatte.

An diesem Morgen des Aufbruchs war mir unser Ziel daher völlig gleichgültig. Ich würde meine Arbeit wie gewohnt erledigen, aber mehr als Gehorsam brachte ich nicht dafür auf. Wir hatten Befehl, um 9.15 Uhr an einem nahegelegenen Nebengleis in den Zug zu steigen und in unserem Tornister den Rest unserer täglichen Essensration mitzunehmen; mehr musste ich nicht wissen. Der stellvertretende Kommandeur war mit einem kleinen Vortrupp bereits unterwegs. Die Lager der Kompanie waren tags zuvor geräumt worden. Hooper hatte Anweisung bekommen, die Quartiere zu inspizieren. Um 7.30 Uhr trat die Kompanie an, ihr Gepäck hatten die Männer schon vor den Baracken aufgestapelt. Solche Verlegungen hatte es viele gegeben seit jenem herrlich erregenden Morgen im Jahr 1940, als wir uns einbildeten, zur Verteidigung von Calais abkommandiert zu werden. Seitdem hatten wir drei- oder viermal im Jahr unseren Standort gewechselt. Diesmal legte unser neuer Kommandeur übertriebenen Wert auf »Sicherheit« und trug uns sogar auf, sämtliche Abzeichen von Uniformen und Gepäck zu entfernen. Es gehe um »wertvolle Ausbildung unter aktiven Kriegsbedingungen«, sagte er. »Wenn ich sehe, dass die üblichen weiblichen Bewunderer uns am anderen Ort...