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Der Junge und die Taube

Meir Shalev

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603811 , 496 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[5] Erstes Kapitel

1

»Und auf einmal«, sagte der alte Amerikaner im weißen Hemd, »flog über diese Hölle hinweg eine Taube.«

Stille trat ein. Sein unerwartetes Hebräisch, die Taube, die seinem Mund entflogen war, überraschte alle Anwesenden. Auch die, die nicht verstanden, wovon er redete.

»Eine Taube? Was für eine Taube denn?«

Der Mann, großgewachsen und sonnengebräunt, wie nur Amerikaner bräunen und wachsen können, mit Mokassins an den Füßen und einer weißen Löwenmähne auf dem Kopf, deutete auf den Klosterturm. Es sei lange her, aber ein paar Dinge erinnere er noch von dem furchtbaren Gefecht, das hier stattgefunden habe. »Und die werde ich nie mehr vergessen«, verkündete er. Nicht nur die Müdigkeit und das Grauen, nicht nur den Sieg – »ein Sieg, der beide Seiten überraschte«, bemerkte er –, sondern auch die Details, deren Bedeutung erst hinterher zutage trat: Zum Beispiel, daß gelegentlich eine verirrte oder vielleicht auch gezielte Kugel die Klosterglocke traf – »genau diese Glocke da« – und die Glocke dann immer wieder zu läuten begann, mit einem scharfen, merkwürdigen Klang, der verebbte und verwehte, aber im Dunkeln noch lange nachhallte.

[6] »Und die Taube?«

»Ein seltsamer Klang, erst hoch und scharf, als wäre auch die Glocke überrascht, dann immer schwächer, weh, aber nicht tot, bis zum nächsten Einschlag. Und einer unserer Verwundeten sagte: ›Glocken sind gewohnt, die Schläge von innen zu bekommen, nicht von außen.‹«

Und er lächelte vor sich hin, als verstehe er erst jetzt, entblößte die Zähne, die wiederum so weiß waren, wie nur die Zähne alter Amerikaner weiß strahlen können.

»Aber was ist mit der Taube? Was war das für eine?«

»Eine homing pidgeon. Neunundneunzigprozentig. Eine Brieftaube der Palmach. Die ganze Nacht dauerte unser Kampf, und am Morgen, zwei, drei Stunden nach Sonnenaufgang, sahen wir sie plötzlich auf- und davonfliegen.«

Das Hebräisch, das er ohne Vorwarnung verwendete, war gut, trotz des Akzents, aber der englische Begriff homing pidgeon klang schöner und richtiger als der hebräische Ausdruck ›Brieftaube‹, selbst wenn sie zur Palmach gehörte.

»Woran habt ihr das erkannt?«

»Man hatte uns einen Taubenzüchter mitgeschickt. So was gab es ’48 noch beim Militär. Einen Fachmann für Tauben mit einem kleinen Taubenschlag auf dem Rücken. Vielleicht hat er sie gerade noch fliegen lassen können, ehe er sein Leben aushauchte, oder vielleicht ist der Schlag zerbrochen, und sie hat die Flucht ergriffen.«

»Er ist umgekommen? Wie denn?«

»Fehlte es hier etwa an möglichen Todesursachen? Man brauchte es sich bloß auszusuchen: durch eine Kugel, durch Granatsplitter – an den Kopf, in den Bauch, in die große Schlagader am Oberschenkel. Manchmal sofort und [7] manchmal ganz langsam, Stunden, nachdem man was abbekommen hatte.«

Seine honigfarbenen Augen fixierten mich. Er kicherte: »Stellen Sie sich das mal vor, wir sind mit Brieftauben ins Gefecht gezogen, wie im antiken Griechenland.«

2

Und auf einmal, über jener ganzen Hölle, sahen die Kämpfer eine Taube. Aus den Rauchschwaden geboren, den Staubschleiern entflohen, schwang sie sich himmelwärts. Hinweg über Röcheln und Schreie, über das Sirren der Splitter in der kühlen Luft, über die heimlichen Wege der Kugeln, über Granatenknall und Maschinengewehrbellen und Kanonendonner.

Dem Anschein nach eine einfache Taube. Blaugrau mit karmesinroten Beinen, zwei dunkle Tallitstreifen zierten die Schwingen. Eine Taube wie alle anderen, ähnlich wie tausend ihrer Artgenossinnen. Nur das Ohr des Fachmanns hörte den kräftigen Flügelschlag, doppelt so stark wie der einer gewöhnlichen Taube. Nur seine Augen erkannten die breite, tiefe Brust, den Schnabel, der die Stirnschrägung in gerader Linie fortsetzte, die typische helle Wachshaut an der Oberschnabelbasis. Nur das Herz des Liebhabers konnte ermessen und erfassen, welch angestaute Sehnsüchte ihr die Richtung wiesen und Kräfte verliehen. Aber seine Augen waren bereits erloschen, seine Ohren taub geworden, sein Herz entleert und still. Es blieben nur sie, ihr Heimweh, sein letzter Wunsch.

[8] Aufwärts. Hinweg über Blut, Feuer und Rauch. Über die Verwundeten, deren Körper durchlöchert, verstümmelt, versengt, gelähmt waren. Über die, die ihren Leib gerettet hatten, aber deren Seele erlöschen würde. Über die, die tot waren und Jahre später, beim Tod derer, die sich an sie erinnerten, ein zweites Mal sterben würden.

Aufwärts. Hoch und höher. Weit weg von hier. Bis die Schüsse zum schwachen Tackern abflauen und die Schreie verstummen und der Geruch verweht und der Rauch sich legt und die Toten einander gleich werden und die Lebenden von ihnen scheiden und ihrer Wege gehen, rätselnd: Was war ihr Verdienst? Und ihre Kameraden, die vor ihnen lagen, wessen waren sie angeklagt? Und dann – ein rascher Blick ringsum und heimwärts. Geradeaus, wie Brieftauben heimkehren. Nach Hause. Pochenden, aber mutigen Herzens. Die erschrockenen, jedoch weit offenen goldenen Augen übersehen kein hilfreiches Landschaftsdetail. Durchsichtige Zweitlider schützen sie gegen Blendung und Staub. Den kurzen gerundeten Schwanz ziert ein weiterer schmaler Streifen, der auf alten Damaszener Adel verweist. Der kleine, runde Kopf steckt voll Sehnsucht und Erinnerungen: Schlag, Zelle, das Gurren des Partners, warmer Nest- und Brutgeruch. Die Hand einer jungen Frau fährt über die Futterkrippe, das Rasseln ihrer Körnerdose ruft sie, ihr Blick sucht den Himmel ab, erwartet sie, ihre Worte – »komm-komm-komm« – laden ein und geben Landehilfe.

»Nicht nur ich. Wir alle haben sie gesehen«, sagte der alte Amerikaner, »und anscheinend auch die von der anderen Seite. Denn einen Moment verstummten alle Waffen, unsere wie ihre. Kein Lauf ballerte, keine Granate krachte, alle [9] Münder hörten auf zu schreien, und es war dermaßen still, daß wir ihre Flügel in der Luft schlagen hörten. Und einen Moment begleiteten sie aller Augen und Zeigefinger bei dem, was wir alle gern getan hätten: heimkehren. Nach Hause.«

Jetzt war er schon sehr erregt. Ging auf und ab. Fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die wallende weiße Mähne: »Genau das ist sie doch. Eine homing pidgeon. Das ist alles, was sie will, und alles, was sie kann. Sie startete, verzichtete auf den Bogen, den Brieftauben, laut den einschlägigen Büchern, oft beschreiben, um die richtige Richtung anzupeilen, und flog ohne Zögern los. Pfeilgerade, Richtung Nordwest, wenn ich mich nicht täusche, ja, der Uhr und der Sonne nach, irre ich mich nicht. Geradewegs dorthin, und Sie werden nicht glauben, wie schnell sie verschwunden war.«

In Sekunden, von Sehnsucht zur Höchstgeschwindigkeit angetrieben, auf und davon. Die geöffnete Hand sank nieder, der Blick begleitete, die Glocke vibrierte noch, wollte nicht ersterben. Ihre, der Glocke, letzten Klänge verrannen ins ferne Meer der Stille, und ihr, der Taube, Graublau verschwamm im gleichfarbigen Horizont, und schon war sie weg. Und drunten legten sich die Finger wieder an die Abzüge und die Augen an die Visiere, begannen die Gewehrläufe erneut zu donnern und die Münder zu stöhnen und aufzuklappen und nach Luft zu schnappen, zu schreien und ihre letzten Züge zu tun.

Nun wendete sich der Mann an seine Gefährten. Ging wieder zu amerikanischem Englisch über, schilderte, erklärte, zeigte »ungefähr dort, hinter den Kiefern« und [10] »genau da«. Erzählte von einem irakischen Panzerwagen, der »hier rumkurvte, als wäre er hier der Hausherr, mit Maschinengewehr und Geschütz«. Deutete mit der Geste eines jovialen Gastgebers: »Auf der Dachecke da habe ich mit dem Maschinengewehr gelegen. Aber in dem Haus dort drüben saß ein Scharfschütze, und der hat mir eine Kugel verpaßt.«

Und schon bückte er sich mit für sein Alter beachtlicher Geschmeidigkeit, krempelte ein Hosenbein hoch, zeigte zwei helle Narben zwischen Knie und Knöchel: »Hier, da. Die kleine ist das Eintritts-, die große das Austrittsloch. Und unser Sprengstoffpionier hat mich auf dem Rücken runtergetragen, ist wieder aufs Dach gestiegen, um mich abzulösen, und hat eine Mörsergranate abgekriegt.« Und zum Hebräischen zurückkehrend, das nur ich verstand: »Er war ein noch größerer und robusterer Kerl als ich. Ein wahrer Hüne, der Ärmste. Es hat ihn in zwei Stücke gerissen, und innerhalb einer Sekunde war er tot.«

Er erzählte und erzählte, ließ die Erinnerungen frei, die so lange in seinem Innern festgesessen hatten. Sollten sie ein wenig Luft schöpfen und die Knochen strecken, ihren Entstehungsort erblicken, debattieren und vergleichen: Welche war verwandelt? Welche nie gewesen? Welche lohnte es sich zu bewahren und welche nicht mehr?

»Und der junge Mann, der die Tauben mitgebracht hatte?« beharrte ich. »Der Taubenzüchter, den Sie erwähnten? Sie sagten, er sei umgekommen. Haben Sie gesehen, wo genau?«

Die Augen blickten mich wieder an, gelbe Löwenaugen. Eine große, sonnengebräunte Hand landete auf meiner [11] Schulter, eine weitere große, sonnengebräunte Hand fuhr deutend in die Höhe: Altersflecken auf dem Rücken, manikürte Nägel, eine schmucke silberne Seemannsuhr am Handgelenk, der gebügelte weiße Hemdsärmel aufgekrempelt. Eine Hand, die man sich gut an einem Gewehrkolben, aber auch auf dem Kopf eines Enkels vorstellen kann, eine, die auf den Tisch zu hauen vermag und sich mit Taille und Schenkel auskennt.

»Da.«

Eine gute...