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Zusammenstöße

Yael Hedaya

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603781 , 752 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[99] 1

Der kurze Spaziergang am Freitagabend von der Borochov zur Hess-Straße hatte etwas Einsames und wirkte dennoch der Einsamkeit entgegen. Schira hatte keine Erklärung für diesen Eindruck auf dem Weg zu Rona, aber es mußte damit zu tun haben, daß sie den Meïr-Park durchquerte, wo sich um diese Uhrzeit vornehmlich Hunde und ihre Besitzer tummelten, während auf den Bänken lediglich ein paar Obdachlose dösten. Tagsüber dagegen bevölkerten dieselben Bänke Mütter von Kleinkindern und Tagesmütter, die mit mechanischer Gleichgültigkeit Kinderwagen schuckelten. Jetzt, nach Schichtwechsel – noch dazu, weil Winter war –, kam Schira der Park wie verwandelt vor: stiller und wilder, für jede Deutung offen.

Gelbe Blätter blieben an ihren Schuhsohlen haften, als Schira mit geschlossenem Schirm und einer Plastiktragetasche, die eine Flasche chilenischen Weins und eine Packung Vanilleeis enthielt, den feuchten Weg entlangspazierte; es hatte den ganzen Tag geregnet. Sie ging bewußt langsam, beinahe affektiert, um bei Rona, deren Einladungen zum Freitagabendessen immer kulinarisches Fest und gesellige Zufluchtstätte in einem waren, ja nicht die erste zu sein. Ronas Wohnung hatte für Schira immer etwas von einem Leuchtturm, der mit seinem beständigen Flackern Schiffe voller Wochenendflüchtlinge wie ihresgleichen herbeilotste und um sich scharte. Wer am heutigen Abend außer ihr erwartet wurde, wußte Schira nicht, wohl aber, daß sie trotz ihrer Verzögerungstaktiken auch diesmal krankhaft pünktlich bei Rona einlaufen würde.

[100] Das lag weniger an ihrer Pünktlichkeit als vielmehr an der Unruhe, die Schira von ihrem Vater geerbt hatte: als tickte in ihrem Innern eine Uhr, die zu schnell ging und sie immer viel zu früh und mit einer Getriebenheit, deren sie nicht Herr wurde, aus dem Haus jagte. In der Folge fand sich Schira meist eine geschlagene Viertelstunde, oft gar noch länger, in einem Gefängnis aus müßigen Minuten wieder – einer sich dahinschleppenden Zeitspanne, die groteske Züge annahm und sich, wie jeder andere Dämon, nur mühsam totschlagen ließ.

Gelegentlich unternahm Schira den Versuch, sich absichtlich zu verspäten – vergeblich. Ging sie zu Fuß, so wählte sie, gemächlich schlendernd, den längsten Weg und blickte scheinbar interessiert, aber ohne wirklich hinzusehen, in Schaufenster. Fuhr sie mit dem Wagen, nahm sie in der Hoffnung, die Ampel würde inzwischen auf Rot schalten, vor jeder Kreuzung den Fuß vom Gaspedal und wünschte einen Stau herbei oder daß sie falsch abböge, was zur Folge hätte, daß sie im Kreis fahren müßte und auf diese Weise noch einmal zehn Minuten mehr verrinnen lassen könnte.

Doch wie um sie zu ärgern, verliefen gerade solche Fahrten zügig und reibungslos, und am Ende mußte Schira noch eine Weile im Wagen sitzen bleiben, Radio hören oder die blinkende Digitalanzeige über dem Handschuhfach anstarren und warten, bis die grünen Ziffern endlich eine plausible Uhrzeit anzeigten, wenn man mitrechnete, wie lange sie benötigte, um auszusteigen, den Wagen abzuschließen und sich routinegemäß ein zweites Mal zu vergewissern, daß auch die Lenkradkralle gesichert war. Dann sagte sie sich jedesmal, daß sie diese Zeit genausogut zu Hause hätte verbringen können, nur daß sie zu Hause gefunden hatte, die Zeit verstriche schneller, wenn sie erst losführe. Schira beneidete Leute, die notorisch zu spät kamen und auf diesem Weg Zeit für sich gewannen; gelegentlich fühlte sie sich wie ein Großhändler, der einen geradezu unverschämt fetten Posten Zeit an Land [101] gezogen hat und dann nicht mehr weiß, wie er ihn losschlagen soll.

Wenn die Bänke nicht naß wären, dachte sie jetzt, könnte sie sich hinsetzen und noch eine rauchen. Sie könnte sich zu den anderen Leuten setzen, die nirgendwohin zu früh oder zu spät dran waren, und tun, als gehörte ihr einer der Hunde, die über den Rasen jagten. Doch Schira wußte, daß sie es niemals wagen würde, sich hinzusetzen, da sie befürchtete, ein anderer Gast von Rona könnte den Park durchqueren und sie sehen. Wenn sie einander kannten, spräche er sie sofort an: Hallo, was machst du denn hier? – Nichts, gäbe sie zur Antwort, und er würde erzählen, daß er gerade auf dem Weg zu Rona sei. Sie auch, müßte sie dann notgedrungen gestehen und ihn, wenn er auf die Uhr schaute, fragen, wie spät es sei – als ob sie es nicht genau wüßte. Kurz vor acht, würde er erwidern, woraufhin sie sofort aufstünde: Na, dann sollten wir mal.

Aber vielleicht war der Mann, der sie im Park antraf, ein Unbekannter, einer von den Singles, mit denen Rona sie stets zu verkuppeln suchte. Mit einer Flasche Wein oder Blumen in der Hand ginge er ahnungslos an der Bank vorüber, wo sie eine Zigarette rauchte und die Hunde beobachtete, und wenn Rona ihr um zehn nach acht die Tür öffnete, säße er bereits an dem runden Tisch in der Küche. Rona würde sie einander vorstellen, Schira käme ihm irgendwie bekannt vor, und um sich zu retten, gäbe sie hastig zurück: Ich hab dich vorhin im Meïr-Park gesehen. Er riefe erstaunt: Ach, wirklich? Wann denn?, als fühlte er sich ertappt, und dann könnte sie gelassen sagen: Vorhin, als ich dort gesessen habe – als wäre es das natürlichste auf der Welt, an einem Freitagabend mit einer Flasche Wein und einer Packung Eiscreme allein und im Dunkeln auf einer nassen Bank in einer öffentlichen Grünanlage zu sitzen.

Durch das Tor gelangte Schira auf die Tschernichovsky-Straße. Ein Blick auf die Uhr zeigte: immer noch erst Viertel vor [102] acht. Sie hatte nur drei Minuten gebraucht, um den Stadtpark zu durchqueren, aber was wäre eigentlich so furchtbar daran, die erste zu sein? Sie könnte Rona beim Tischdecken oder Salatmachen helfen oder mit Tamar plaudern, die zu der Sorte Kinder gehörte, mit denen man sich wunderbar unterhalten konnte, ohne daß sie sich als kleine Erwachsene gerierten. Hätte sie sich gezwungen, länger zu Hause zu bleiben und zumindest noch die Schlagzeilen der Fernsehnachrichten zu sehen, dachte Schira, dann wäre sie sich dessen, was sie jetzt gerade tat, nämlich die Zeit totschlagen, ständig bewußt gewesen. Das hätte die Rastlosigkeit, die wie ein großer, energiegeladener Hund regelmäßig Gassi geführt werden wollte, auch nicht besänftigt.

Der Freitag war für Schira immer ein Vabanquespiel. Wenn sie nicht irgendwo eingeladen war, blieb sie zu Hause und sah fern oder las Zeitungen und löste die Kreuzworträtsel, von denen sie mindestens eines – meist Um die Ecke gedacht in der Ha’aretz – für den Samstagvormittag aufsparte. Oder sie ging ihren Vater besuchen, dessen Unruhe sich am Freitagabend, wenn die Auswirkungen des Alltags ihren Höhepunkt erreichten, genauso zuspitzte wie ihre eigene; tags darauf, am Samstag, dem allgemeinen Ruhetag, flaute sie ein wenig ab und wurde irgendwie erträglicher, nur um sich mit Beginn der neuen Woche, am Sonntag, nach und nach wieder aufzubauen.

Sie hatte ja bisweilen Abwechslung, Freunde luden sie zum Abendessen, zu einer Wohnungseinweihung oder auf einen Fernsehabend ein, doch für ihren Vater war sie, seine Tochter, die Abwechslung, und Schira fand es merkwürdig, daß er ihrem Besuch entgegensah wie sie einer Einladung von Rona. Offenbar gab es eine richtiggehende Hierarchie der Abwechslungen, und Schira fragte sich, wer jeweils für wen die unübertroffene Spitze verkörperte.

Die Gelassenheit, mit der Rona ihre großen Abendessen ausrichtete, versetzte Schira immer wieder in Staunen: Nie kannte [103] Rona die Zahl der Gäste im voraus, weil darunter stets auch solche waren, die sich standhaft weigerten, sich morgens schon für den Abend festnageln zu lassen. Sie fragte sich, wie Rona entschied, was sie kochte und für wie viele Personen, wenn sie nicht einmal wußte, wer ihre Einladung am Ende tatsächlich wahrnahm – und warum sie sich diese ganze Arbeit überhaupt ans Bein band. Andererseits, überlegte Schira weiter, war das offenbar genau der springende Punkt: Das häusliche Leben von Rona Peretz und ihrer Tochter Tamar ging unabhängig von der Außenwelt vonstatten, wurde ohnehin so und nicht anders geführt. Ronas Haushalt verkraftete leicht ein paar Leute mehr und war doch sich selbst genug. In diesem Sinne setzte sich Ronas Haus immer wieder neu zusammen und war dennoch fester gefügt als jedes andere, das Schira kannte. Vor allem aber hatte es hier niemand nötig, um irgend jemandes Gunst zu werben.

2

Schira hatte Rona vor zehn Jahren kennengelernt, als sie einen Fachzeitschriftenbeitrag von ihr ins Englische übersetzen sollte. Rona stand damals kurz vor dem Abschluß ihres Doktorats in Psychologie und war mit Tamar schwanger, Schira hatte gerade ihr B.A. in Philosophie gemacht und bestritt ihren Lebensunterhalt mit gelegentlichen Lektorats- und Übersetzungsaufträgen.

Auf Anregung einer gemeinsamen Bekannten hin trafen sie sich an einem winterlichen Nachmittag in Ronas Wohnung in der Hess-Straße. Sie setzten sich in die großzügige offene Küche mit Blick auf einen verwilderten Hinterhof, aus dem ein paar Palmkronen aufragten, die Schira ebenso fehl am Platz vorkamen wie die vielen anderen Palmen, die überall im Lew-Haïr-Viertel wuchsen. Sie bewunderte die großen Fenster, Glasquadrate in hellblau gestrichenen Eisenrahmen, und sagte, sie habe immer [104] davon geträumt, eines Tages, in einer Eigentumswohnung, solche Fenster zu haben. Rona fragte, ob sie Lust auf einen Rundgang habe, und Schira folgte ihr, hingerissen und neidisch, durch die Zimmerfluchten: Diese Wohnung hatte etwas, was über die Kombination aus großzügigen Räumen und einem erstklassigen...