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Nächte in Barcelona - Erotischer Roman

Erika Lust

 

Verlag Heyne, 2014

ISBN 9783641130459 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

KAPITEL 2

Super Freak

Sie saß irgendwo in einem Café, es hätte Berlin oder auch Wien sein können, aß ein Croissant, knusprig und warm von außen, zart von innen, trank dazu einen Kaffee mit Eiswürfeln und las eine Zeitung, die ihr völlig fremd vorkam. Die Nachrichten waren überraschend positiv, viel Frieden auf der Welt und nur gute Vorsätze, die das Ende diverser Kriege, Hungersnöte, Dürren und aller Gräuel, die die Erde während der letzten Jahrzehnte heimgesucht hatten, ankündigten.

Im gleichen Moment bemerkte Nora, dass sie träumte. Niemand, der noch einigermaßen bei Verstand war, konnte glauben, dass das stimmte – so müde er auch sein mochte –, aber sie ließ zu, dass die Geschichte ihren Lauf nahm. Sie war neugierig, was noch geschehen würde, und außerdem wollte sie diesen Moment nutzen, in dem man, wenn man weiß, wie man es anstellen muss und ein bisschen Glück hat, den Gang seiner Träume kontrollieren und sogar seinen eigenen Film drehen kann.

Eine gute Aufnahme, dachte die wache Seite in Nora. Vielleicht ein bisschen körniger, und es wäre noch besser. Sofort war das Bild körniger und hatte nun einen leichten Vintage-Effekt.

Schon viel besser. Wenn doch beim richtigen Film auch alles so einfach wäre, seufzte sie. Eine Melodie unterbrach ihren Gedankengang. Was ist denn jetzt los?

Die Tür des Cafés knarrte beim Aufgehen, und es erschien Woody Allen, ihr Lieblingsregisseur. Aber nicht der Woody Allen des Jahres 2000, sondern die Version Anfang der Achtzigerjahre: jünger, draufgängerischer und sogar attraktiv (wenn einem die jüdischen Männer mittleren Alters mit Hornbrille gefallen, die so aussehen, als ob sie jeden Moment einen Nervenzusammenbruch erleiden). Nora war entzückt, konnte sich aber auch kaum vor Lachen halten, so klischeehaft wie alles war, aber natürlich wollte sie jetzt nicht aufwachen, ohne zu wissen, wie die Sache ausging. Allen setzte sich zu ihr an den Tisch – oder ließ sich eher, wie halb ohnmächtig, auf den Stuhl fallen –, bestellte einen Tee und ein koscheres Gebäckstück und begann zögernd und stammelnd zu reden, wie man es von ihm kannte.

»Wir, wir müssen reden, Nora. Ich bereite gerade einen neuen Film vor und möchte, dass du die Regieassistentin bist. Man hat mir nur Gutes von dir erzählt, ich habe alle Filme gesehen, an denen du mitgewirkt hast, und ich glaube, du hast das Zeug dafür. Kurzum, ich will, dass du bei mir mitmachst.«

»Wie heißt der Film?«, fragte die Nora im Traum geradeheraus, ohne dass es ihr peinlich war.

»Na ja, ich glaube … noch weiß ich es nicht genau, aber ich glaube, er heißt Lee und der Mann ihrer Schwester

»Hm, und warum nicht Hannah und ihre Schwestern?«

Der Regisseur rieb sich nachdenklich das Kinn, war aber nicht sonderlich erstaunt über die Hellsichtigkeit seiner Gesprächspartnerin, die sehr schnell und ganz allein den Namen und den Handlungsfaden des Films herausgefunden hatte.

»Also … also … natürlich! Warum habe ich nicht gleich daran gedacht?«, sagte Allen zu ihr, der so aufgeregt war, dass ihm fast die Stimme wegblieb wie bei einem Halbwüchsigen. »Das klingt viel besser, stärker, direkter und ist viel kürzer. Du bist engagiert, du bist ein Genie! Sprich mit dem Produzenten, du kannst verlangen, so viel du willst!«

Bip, bip, bip, bip, bip, bip!

Der Wecker klingelte, und Nora schreckte hoch, sie erklärte die Siesta für beendet und stand rasch auf. Es war halb sieben am Abend. Sie schnappte sich ein Handtuch und ging duschen, immer noch ganz baff von all den Klischees, die in ihren Träumen auftauchten. »Ich vermute, dass sie mir in der nächsten Szene einen Oscar verliehen haben. Schade, dass ich das verpasst habe«, seufzte sie halb im Scherz, halb im Ernst.

Der Ursprung dieses ganzen Unsinns, den sie geträumt hatte, lag auf der Hand. Henrik, der sehr schnell zu ihrem schwulen Freund und Vertrauten, zum Begleiter nächtlicher Streifzüge geworden war, arbeitete in einem Lokal in der besseren Gegend, wo heute Abend der letzte Drehtag eines Films von einem Indie-Regisseur gefeiert werden sollte, der sich einen gewissen Namen mit Filmen über Skateboarder gemacht hatte, die nur Sex, Drogen und Alkohol im Kopf hatten. Dieses Mal hatte er beschlossen, seiner Karriere eine andere Richtung zu geben und ein Drama zu verfilmen, eine französisch-spanische Koproduktion, die seit ein paar Monaten in Barcelona gedreht wurde. Samt und sonders alle von Henriks Freunden und Bekannten waren diesem Schauspieler oder jener Schauspielerin an verschiedenen Plätzen der Stadt begegnet. Scheinbar war Nora die Einzige, die nicht das Glück gehabt hatte, in weniger als zehn Metern Entfernung von einem Star des europäischen Kinos einen Kaffee im Zurich oder ein Bier im Octopussy getrunken zu haben: Alle anderen hatten ihre Dosis an Berühmtheiten gehabt.

Heute Nacht also würde sie sich rächen. Henrik würde sie auf das Event – das nach seinen Worten »super-super-superexklusiv« war – einschleusen, und sie würde sie alle kennenlernen, mit Telefonnummern und Arbeitsangeboten wieder abziehen und bald mit Dutzenden von ungeheuer attraktiven Liebhabern in Paris frühstücken oder in New York zu Abend essen. Wenigstens bis mein Vermögen zehnmal größer als ihres ist und ich sie oder sonst jemanden einlade, der mir gefällt, dachte sie. Als sie sich die Haare trocknete und mit einer Bürste in Form brachte, bemerkte Nora einen Schmetterling – gelb, ocker und schwarz gefleckt –, der im Bad umherflatterte. Sie unterbrach für einen Moment ihre Körperpflege, um das große Fenster ganz zu öffnen und diesem Wunder der Natur die Flucht zu ermöglichen, und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass es fast schon Sommer war, ihre liebste Jahreszeit.

Die Terrassen auf der Plaza del Sol waren voll mit Leuten, die das samstägliche Abendessen genüsslich ausdehnten und noch einen letzten Kaffee oder schon ein erstes Bier tranken. Sonnenbrillen und Zigarettenschachteln lagen auf den Tischen. Pullover und Jacken, die bei einer Temperatur von mehr als zwanzig Grad in der Sonne nicht gebraucht wurden, hingen über den Stuhllehnen.

Die Stimmung und das Ambiente luden zum Müßiggang ein, aber Nora hatte eine Mission: sich in die Frau mit dem größten Sexappeal auf der Welt zu verwandeln. Dafür war sie entschlossen, den Göttern sogar irgendeinen Freund oder Familienangehörigen zu opfern oder, noch schlimmer, sich zu schminken und diese Folterinstrumente namens High Heels zu tragen. »High Heels, ich habe keinen blassen Schimmer, wo die sein könnten«, sagte sie zu sich selbst und war – bei der Unordnung, die bei ihr herrschte – höchst besorgt, denn in diesem Dschungel von Wohnung käme es der Arbeit eines Titanen gleich, ein Paar Schuhe zu finden.

Entschlossen, eine Übung in Höhlenforschung zu absolvieren, öffnete sie den Schrank. Unter Unmengen von Schichten nicht zusammengelegter und seit dem letzten Jahrhundert (im wörtlichen Sinne) nicht gebügelter Kleidungsstücke fand sie den Koffer, mit dem sie vor fünf Monaten nach Barcelona gekommen war.

Schon fünf Monate …, dachte sie. Aber sie hatte wahrlich keine Zeit verloren. Sie hatte Arbeit, und auch wenn sie nur Kellnerin in einer Bar war, so war es wenigstens eine Bar, in der die Musik ihr gefiel, die Kollegen sympathisch und die Getränke unbegrenzt frei für sie waren, was nicht ganz unwichtig ist, wenn man dreiundzwanzig Jahre alt ist und unendlichen Durst hat; eine Arbeit, die es ihr erlaubte, Essen, Kleidung und ihren Anteil an der Wohnung zu bezahlen; ja, sie hatte sogar etwas für einen sommerlichen Kurzurlaub zurücklegen können. Ihre Arbeitszeit – die Schicht endete morgens um drei – erlaubte es ihr, auch den Tag zu genießen und ihren Broterwerb hinter dem Tresen mit einer sporadischen Mitwirkung an der ESCAC, der Filmakademie Kataloniens, vereinbaren zu können, wo sie mal in einem Kurzfilm gratis aushalf oder, bei anderer Gelegenheit, als Assistentin der Assistentin der Assistentin der Produktionsassistentin in einem Werbespot für Autos oder Tourismus in Barcelona etwas bezahlt bekam.

Nach und nach baute sie sich einen Freundeskreis auf, der mit der Filmszene zu tun hatte und mit dem sie sich viel besser verstand als mit ihren ehemaligen Kommilitonen aus der Akademie. Ihr Verständnis vom Kino war viel weiter gefasst und weniger fanatisch: Einige waren Anhänger des fantastischen oder Horrorfilms, andere neigten mehr zum Dokumentarfilm, und, ja, es gab auch den einen oder anderen, der den Kunst- oder Experimentalfilm favorisierte, aber niemand von ihnen glaubte, dass es nötig wäre, diejenigen, die das Kino mit anderen Augen als sie selbst sahen oder nicht so hohe intellektuelle Ansprüche hatten, auszurotten.

Obwohl ihr noch vieles zu tun blieb, machte sie sich doch schon Gedanken über ihren ersten Kurzfilm. Sie sammelte Ideen, verwarf einiges, dachte sich geniale Sachen aus, die ihr am nächsten Tag nur noch Schund zu sein schienen – was meistens dann passierte, wenn sie betrunken war –, das Übliche eben in jedem kreativen Prozess. Wie alle, die anfingen, war Nora sich bewusst, dass sie, wenn sie den Film schließlich in Angriff nahm, sich selbst um das Drehbuch, die Garderobe, die...