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Loslassen und Leben aufräumen - Was mit uns geschieht, wenn wir die Wohnung unserer Eltern auflösen

Christina Erdkönig, Emir Ben Naoua

 

Verlag Kreuz, 2014

ISBN 9783451801044 , 160 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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11,99 EUR


 

Kapitel 1:
Das Elternhaus – Ort des Gedenkens


Nach dem Tod eines geliebten Menschen ist es wichtig, einen Ort für die eigene Trauer zu finden. Viele Hinterbliebene zieht es zum Grab, um dort Ruhe zu finden und an den Verstorbenen zu denken. Das Anzünden einer Kerze kann heilsam sein.

Viele erzählen auch, dass das Bepflanzen des Grabes ihnen hilft: die Blumen aussuchen, sorgfältig die Farben zusammenstellen, die Pflänzchen auf dem Grab anordnen. Manche empfinden diese praktische Arbeit mit den Händen als eine Art Meditation. Durch das Berühren der Erde, das Graben und Schaufeln kommen sie zu sich, verlieren sich nicht mehr in abschweifenden Gedanken. Sie können dem Toten durch die nützliche Beschäftigung nah sein, können so noch etwas Gutes für ihn tun, an seiner letzten Ruhestätte sein Andenken bewahren.

Meine ältere Schwester beispielsweise nimmt sich mehrere Stunden Zeit, um in einer Gärtnerei die richtigen Pflanzen für das Doppelgrab unserer Eltern auszuwählen. Meistens kauft sie auch Stiefmütterchen in violetten Farbtönen, weil unsere Mutter genau diese Blumen so sehr mochte. Am Grab selbst verbringt sie dann mehrere Stunden, um die Farben zu komponieren, besondere Formen mit den Blumen zu bilden, zum Beispiel ein Herz. Diese kreative Arbeit mit den Händen verschafft ihr Trost. Sie besteht darauf, die Grabbepflanzung selbst zu machen. Einen Gärtner zu beauftragen kommt für sie nicht infrage.

Um den Verstorbenen zu gedenken, gehen andere wiederum an besondere Orte, die für die Verstorbenen von Bedeutung waren. Das kann eine Waldlichtung sein, eine Anhöhe mit alten Bäumen, ein Strand an der Ostsee. Es werden Orte wieder aufgesucht, an denen man gemeinsam glücklich war, intensive Gespräche führte und sich dem anderen eng verbunden fühlte.

Mir persönlich hilft der Besuch am Grab viel weniger als meiner Schwester. Im Gegenteil, der Friedhof war mir phasenweise richtiggehend verhasst. Dort wurde mir vor allem in den ersten Monaten nach dem Tod der Eltern der Verlust in seiner Härte wieder extrem deutlich. Ja, manchmal konnte ich es schlicht nicht ertragen, am Grab zu stehen. Mein Ort des Gedenkens ist ein Spaziergang über einen Feldweg bei uns in der Nähe. Dort steht auf einer Wiese ein alter Mirabellenbaum. Immer wenn ich an seinem knorrigen Stamm vorbeigehe, denke ich an meinen Vater, wie er damals, schon vom Krebs gezeichnet, voll kindlicher Freude die gelben Früchte pflückte. Er konnte sich immer an kleinen Dingen erfreuen – das halte ich so in Erinnerung.

Wenn beide Eltern gestorben sind, spielen auch das Haus beziehungsweise die Wohnung der Eltern eine große Rolle. Sie können ein Erinnerungsort werden, denn sie bieten eine Rückzugsmöglichkeit für die Trauernden. Für die meisten Familien war die Wohnung oder das Haus jahrelang Zentrum ihres Lebens gewesen, war für die Kinder Treffpunkt und Konstante, vergleichbar mit einer Insel, auf der man im Fluss des Lebens andocken konnte. Hier war man in der Regel willkommen und erwünscht. Sicherlich handelte es sich nicht immer um einen Ort reiner Harmonie. In jeder Familie gibt es Höhen und Tiefen, Streit und Entfremdung, Verletzungen und Verfehlungen. Dennoch ist es für viele ein wichtiger Ort der Trauerverarbeitung. Die Eltern sind nicht mehr da, aber es existiert noch alles, was ihr Leben ausgemacht hat: ihre Bücher, ihre Bilder, ihre Möbel. Wie eine Aura, die weiterlebt.

Auch Barbara, eine meiner ersten Gesprächspartnerinnen, kehrt immer wieder in ihr Elternhaus zurück, um intensiv an ihre Mutter und vor allem ihren Vater zu denken.

Der grüne Ohrensessel als Erinnerungsort – Barbara


Barbara war 45 Jahre alt, als ihre Mutter starb. Ihr Tod traf sie völlig unerwartet. Es war ein großer Schock, denn ohne jede Vorwarnung erlitt die Mutter einen Herzinfarkt. Mit ihren 69 Jahren war sie eine rüstige Oma und Mutter gewesen. Sie war schlank und bewegte sich gerne. Herzprobleme hatte sie keine gehabt – nur manchmal einen erhöhten Blutdruck. Zwei Tage vor ihrem Infarkt hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann noch eine Partie Tennis gespielt. Auch bei der Einschulungsfeier von Barbaras ältestem Sohn eine Woche zuvor war sie noch dabei gewesen: hellwach und vital. Barbaras Mutter wollte an wichtigen Schritten im Leben ihrer Enkel teilhaben. Es war ein Samstag im Hochsommer, als es passierte. Hilflos musste Barbaras Vater mitansehen, wie seine Frau das Bewusstsein verlor. Als der Rettungswagen dann endlich kam, war sie längst nicht mehr ansprechbar. Der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen.

An die Wochen nach dem Tod der Mutter erinnert sich Barbara noch genau – auch drei Jahre später, als wir unser Gespräch führen. Die große, sportliche Frau mit dem dunkelbraunen Pagenschnitt hat Tränen in den Augen, als sie darüber spricht. Jeden Morgen, wenn sie wach wurde, erzählt sie mir, blitzte der Gedanke in ihr auf: Mama ist tot. Diese Minuten im Bett waren wie ein Übergang aus einer sanften Traumwelt in den grausamen Albtraum der Wirklichkeit. Konnte das wirklich sein? Mama tot? Der Schlaf hatte ihr ein paar Stunden Vergessen, Frieden und Ruhe gegeben. Kaum wurde sie wach, musste sie sich erneut mit dem schrecklichen Verlust befassen. Der Schmerz suchte sich seinen Raum.

In den Monaten danach kam zur Trauer um die Mutter die Sorge um den Vater hinzu. Er fühlte sich anfangs schuldig: Wieso konnte der Notarzt nicht schneller kommen? Warum konnte man ihr nicht mehr helfen? Er wollte noch so viel mit seiner Frau besprechen und war verzweifelt, weil er sich nicht richtig verabschieden konnte. Barbara und ihre Schwester versuchten den Vater abzulenken, luden ihn zum Essen ein, unternahmen gemeinsame Reisen. Eineinhalb Jahre nach dem Tod seiner Frau schien er wieder neuen Lebensmut gefasst zu haben. In diese positive Aufbruchsstimmung hinein fiel die Diagnose eines inoperablen Tumors. Für einen chirurgischen Eingriff war es zu spät. Vielleicht hat der Vater noch sechs bis sieben Monate, sagten die behandelnden Ärzte. Es folgten Monate zwischen Hoffen und Bangen. Obwohl Barbara wusste, dass medizinisch keine Hilfe mehr möglich war, lebte in ihr die Hoffnung, dass vielleicht doch ein Wunder geschehen könnte. Möglicherweise hilft die Chemotherapie ja doch? Vielleicht bringt sie ihm noch ein paar Jahre? Nach einer ersten Besserung baute der Vater allerdings sehr schnell ab und starb mit 74 Jahren. Barbara findet es ungerecht, dass sie ihre Eltern, die ihr so wichtig waren, binnen so kurzer Zeit verlor. Sie kann den Tod des Vaters nur schwer akzeptieren.

Bald stellte sich die Frage: Was soll mit der großen Wohnung der Eltern passieren? Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Fiona war Barbara schnell klar: Sie muss verkauft werden. Keine der beiden konnte die Wohnung in Franken beziehen. Barbara wohnt 300 Kilometer entfernt an der Grenze zur Schweiz, ihre Schwester in Nordrhein-Westfalen. Der Lebensmittelpunkt der beiden hatte sich schon mit dem Studium verlagert. Ein Problem war, wie zügig die Wohnung verkauft werden sollte. Barbaras Schwester wollte gerne innerhalb des nächsten halben Jahres verkaufen, damit es über die Bühne war. Das war für Barbara eine ganz furchtbare Vorstellung, die ihr beinahe Übelkeit bereitete. Sie hing mehr an der großen Wohnung mit Garten als die Schwester. Am liebsten wollte Barbara sie noch länger halten: »Einfach abschließen und alles so lassen, dann alles sacken und ruhen lassen, und frühestens ein Jahr nach dem Tod des Vaters mit dem Ausräumen beginnen. Das konnte ich mir vorstellen. Zu mehr war ich eigentlich nicht in der Lage«.

Barbaras Herz sagte: behalten. Der Verstand sagte: Es muss sein. Natürlich wusste sie, was mit einer unbewohnten Wohnung alles passieren kann. Im Winter etwa können Leitungen und Rohre einfrieren und platzen. Ständig muss jemand danach schauen.

Schweren Herzens willigte Barbara schließlich doch ein. Die Schwestern einigten sich darauf, dass die Wohnung binnen eines Jahres verkauft werden soll. Weil sie aber so sehr am Wohnzimmer hing und die »Eltern-Aura« vorerst erhalten bleiben sollte, schloss Barbara eine Vereinbarung mit ihrer Schwester: Überall darf geräumt werden, nur im Wohnzimmer wird vorerst nichts angerührt. Dort steht der grüne Sessel, in dem der Vater immer saß. Wenn Barbara zu Besuch war, saß sie ihm gegenüber auf dem beigen Sofa. Seit sie denken kann, saß der Vater in seinem olivgrünen Ohrensessel mit den breiten Armlehnen: beim Fernsehen, beim Lesen oder wenn sie sich unterhielten. Der Sessel war auch sein Rückzugsort, wo er abends nach einem anstrengenden Arbeitstag oft einschlief. Immer noch hängt sein Geruch in dem weichen olivgrünen Velours-Stoff. Anders als im Rest der Wohnung riecht es hier nicht abgestanden und schal nach Krankheit. Wie durch einen Zauber blieb hier der »Kindheits-Vatergeruch« konserviert, freut sich Barbara.

Alle paar Wochen fährt Barbara die 300 Kilometer zur Wohnung ihrer Eltern. Sie kommt dann nicht, um Aktenordner zu sichten oder auszuräumen. Sie kommt vor allem, um sich in den alten Ohrensessel ihres Vaters zu setzen. Das ist ihre Zeit – eine Zeit der Trauer für ihren Vater. Sie empfindet diese Stunden als reinigend und wohltuend. Bei all dem Alltagstrubel und den beiden Kindern gönnt sie sich diese Stunden im Wohnzimmer ihrer Eltern. Nicht einmal der Schwester erzählt sie von diesen Nostalgie-Ausflügen. Sie will diese Art der Erinnerung an ihren Vater ganz für sich haben: »Ich sitze da drin und fühle mich mit Papa sehr verbunden. Ich brauche diese Zeit, um mich zu verabschieden. Dafür muss ich ganz alleine dort sein.«

Der Sessel ist für Barbara ein Ort des Gedenkens. Hier kann sie sich an die Gespräche erinnern, die...